Urteil des BVerwG vom 20.08.2013

BVerwG: disziplinarverfahren, beschränkung, rechtssicherheit, ausscheidung, vertrauensschutz, ausschluss, kunst, gebärdensprache, ermessen, verfahrensökonomie

BVerwG 2 B 8.13
Rechtsquellen:
LDG NRW § 55 Abs. 1 Satz 1 und 2
BDG § 56 Satz 1 und 2
Stichworte:
Disziplinarklageverfahren; Beschränkung; Ausscheiden von Tathandlungen;
Wiedereinbeziehung von Tathandlungen; nachträgliches Entfallen der Voraussetzungen für die
Beschränkung; Prognoseentscheidung; Rechtsmittelgericht.
Leitsatz:
Hinsichtlich der Prognoseentscheidung, ob eine Tathandlung für die Art und Höhe der zu
erwartenden Disziplinarmaßnahme voraussichtlich nicht ins Gewicht fällt, steht dem Berufungs-
und dem Revisionsgericht eine eigenständige Beurteilungskompetenz zu.
Die erneute Einbeziehung ausgeschiedener Tathandlungen nach § 55 Abs. 1 Satz 2 LDG NRW
(= § 56 Satz 2 BDG) ist zulässig, wenn sich im weiteren Verlauf des Disziplinarklageverfahrens
die Grundannahmen der ursprünglichen Prognose des Gerichts als unzutreffend erweisen. Dies
kann etwa der Fall sein, wenn sich die weiterverfolgte Tathandlung als nicht nachweisbar oder
weniger schwerwiegend erweist als ursprünglich angenommen.
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 2 B 8.13
VG Düsseldorf - 09.06.2010 - AZ: VG 31 K 3169/09.O
OVG für das Land Nordrhein-Westfalen - 10.10.2012 - AZ: OVG 3d A 1572/10.O
In der Verwaltungsstreitsache hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 20. August 2013
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Domgörgen
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Hartung und Dr. Kenntner
beschlossen:
Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil
des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 10. Oktober
2012 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gründe
1 Die auf den Zulassungsgrund des Verfahrensfehlers (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, § 67 Satz 1
LDG NRW) gestützte Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten ist unbegründet.
2 1. Die 1951 geborene Beklagte stand bis zum Eintritt in den Ruhestand wegen
Dienstunfähigkeit als Lehrerin im Dienst des Klägers. Die Beklagte ist mehrfach wegen Betruges
strafgerichtlich verurteilt worden. Den Verurteilungen lag jeweils zugrunde, dass sie vertragliche
Verpflichtungen in dem Bewusstsein eingegangen war, die dabei entstehenden Forderungen
der Vertragspartner nicht erfüllen zu können. Gegenstand der Disziplinarklage sind der Vorwurf,
in mehreren Fällen Zahlungsverpflichtungen in Kenntnis der eigenen Zahlungsunfähigkeit
eingegangen zu sein (Nr. 1, 2, 4, 5, 8, 10 und 11), der Vorwurf, bei einem
Hauptverhandlungstermin unentschuldigt nicht erschienen zu sein (Nr. 3), der Vorwurf, in zwei
Fällen Arztrechnungen trotz gewährter Beihilfe nicht beglichen zu haben (Nr. 6 und 7) sowie der
Vorwurf der Beleidigung eines Vollstreckungsbeamten (Nr. 9). Das Verwaltungsgericht hat die
Vorwürfe Nr. 3 und 5 bis 11 der Disziplinarklage aus dem Verfahren ausgeschieden und der
Beklagten das Ruhegehalt aberkannt. Mit dem in der mündlichen Verhandlung verkündeten
Beschluss hat das Oberverwaltungsgericht die vom Verwaltungsgericht ausgeschiedenen
Vorwürfe Nr. 5, 6, 8 und 10 der Klageschrift wieder in das Disziplinarverfahren einbezogen und
die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts zurückgewiesen. Zur
Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt:
3 Die genannten Vorwürfe seien wieder in das Disziplinarverfahren einzubeziehen, weil der
Schwerpunkt des der Beklagten zu machenden Disziplinarvorwurfs in den von ihr begangenen
Betrugsstraftaten und weniger in ihrer allgemeinen Schuldenwirtschaft liege. Den vom
Verwaltungsgericht ausgeschiedenen Disziplinarvorwürfen komme, soweit sie Betrugstaten der
Beklagten beträfen, für die zu treffende Disziplinarmaßnahme ein erhebliches Gewicht zu.
Demgegenüber könnten die Vorwürfe Nr. 3, 7, 9 und 11 ausgeschlossen bleiben, weil sie für Art
und Höhe der zu erwartenden Disziplinarmaßnahme nicht ins Gewicht fielen.
4 2. Die Beschwerde der Beklagten sieht die Wiedereinbeziehung der Vorwürfe Nr. 5, 6, 8 und
10 der Disziplinarklageschrift durch das Oberverwaltungsgericht als verfahrensfehlerhaft an. § 55
Abs. 1 Satz 2 LDG NRW gestatte die erneute Einbeziehung ausgeschiedener Handlungen nur
für den Fall, dass die Voraussetzungen für die Beschränkung nachträglich entfallen seien. Das
Gesetz setze voraus, dass sich die disziplinarische Bedeutung der ausgeschiedenen
Handlungen aufgrund nachträglich eingetretener Umstände geändert habe. Eine vom
Verwaltungsgericht abweichende Bewertung des Gewichts durch das Oberverwaltungsgericht
reiche hierfür nicht aus.
5 Die Verfahrensweise des Oberverwaltungsgerichts verstößt nicht gegen § 55 Abs. 1 Satz 2
LDG NRW.
6 § 55 Abs. 1 Satz 1 LDG NRW ermöglicht die Beschleunigung der Disziplinarverfahren durch
die instanzübergreifende Befugnis, einzelne Handlungen auszuscheiden, die für die zu
erwartende Disziplinarmaßnahme voraussichtlich nicht ins Gewicht fallen (Gesetzentwurf der
Landesregierung, LTDrucks 13/5220, S. 98 zu § 55 und S. 87 zu § 19). Dem Gericht soll die
Möglichkeit eröffnet werden, Vorwürfe außer Betracht zu lassen, die eine aufwändige
Beweisaufnahme erforderlich machen würden, die aber für das Ergebnis der Disziplinarklage
nach gegenwärtigem Stand nicht erheblich sein werden. Das Disziplinarverfahren soll damit von
überflüssigem Ballast befreit werden können, muss aber weiterhin die gebotene
Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Beamten ohne Abstriche ermöglichen.
7 Aus Gründen der Verfahrensökonomie können aber nur solche Tathandlungen
ausgeschlossen werden, deren Bedeutung für die Bestimmung der Disziplinarmaßnahme
bereits während des anhängigen Verfahrens nach jeder Betrachtungsweise sicher
ausgeschlossen werden kann (Beschluss vom 6. Juni 2013 - BVerwG 2 B 50.12 - Rn. 13 zu § 56
BDG, juris ).
8 Die Entscheidung, ob eine Tathandlung für die Art und Höhe der zu erwartenden
Disziplinarmaßnahme im Sinne von § 55 Abs. 1 Satz 1 LDG NRW nicht oder voraussichtlich
nicht ins Gewicht fällt, erfordert regelmäßig eine Prognose. Das Gericht hat nach dem aktuellen
Stand des Verfahrens zu erwägen, wie die zu erwartende Disziplinarmaßnahme ausfiele, würde
die Tathandlung entweder ausgeschieden oder würde sie mit in die Bemessung der
Disziplinarmaßnahme nach § 13 LDG NRW einbezogen. Ergibt diese Prüfung hinsichtlich der zu
erwartenden Disziplinarmaßnahme nach keiner Betrachtungsweise einen Unterschied, steht es
im Ermessen des Gerichts, die Tathandlung nach § 55 Abs. 1 Satz 1 LDG NRW auszuscheiden.
9 Nach § 55 Abs. 1 Satz 2 LDG NRW können die vom Gericht ausgeschiedenen Handlungen
nicht wieder in das Disziplinarverfahren einbezogen werden, es sei denn, die Voraussetzungen
für die Beschränkung entfallen nachträglich. Diese Voraussetzungen gelten auch für die
Berufungs- und Revisionsinstanz. Im Hinblick auf den notwendigen Vertrauensschutz und die
Rechtssicherheit ist der Streitgegenstand des Disziplinarklageverfahrens beschränkt, bis das
Gericht die Wiedereinbeziehung der ausgeschlossenen Handlungen beschlossen hat (vgl.
BTDrucks 14/4659, S. 40 zu § 19 BDG).
10 Die erneute Einbeziehung ausgeschiedener Tathandlungen nach § 55 Abs. 1 Satz 2 LDG
NRW ist danach zulässig, wenn sich im Verlaufe des weiteren Verfahrens die Grundannahmen
der ursprünglichen Prognose des Gerichts als unzutreffend erweisen. Das ist etwa gegeben,
wenn sich die weiterverfolgte Tathandlung als nicht nachweisbar oder weniger schwerwiegend
erweist als ursprünglich angenommen. In diesen Fällen kommt den ausgeschiedenen
Handlungen nachträglich ein Gewicht zu, das eine Ausscheidung aus Gründen der
Prozessökonomie verbietet. Die Handlungen können nicht unberücksichtigt bleiben, weil ihnen
für Art und Höhe der zu erwartenden Disziplinarmaßnahme entgegen der ursprünglichen
Annahme voraussichtlich doch Relevanz zukommt.
11 Bei ihren Entscheidungen sind Berufungs- und Revisionsgericht nicht darauf beschränkt, die
Zumessungsentscheidung der Vorinstanz dahin zu überprüfen, ob die rechtlichen Grenzen der
Zumessung eingehalten sind. Für das Berufungsverfahren folgt dies aus § 65 Abs. 1 Satz 1 und
§ 59 Abs. 2 Satz 2 LDG NRW, für das Revisionsverfahren (§ 67 Satz 1 LDG NRW) aus der nach
§ 3 Abs. 1 LDG NRW anwendbaren Vorschrift des § 141 Satz 1 VwGO.
12 Die grundsätzliche Befugnis des Rechtsmittelgerichts zu einer von der Wertung der
Vorinstanz unabhängigen Bemessungsentscheidung nach § 13 LDG NRW schließt es auch ein,
nach den Kriterien des § 55 Abs. 1 LDG NRW eigenständig über den Ausschluss von
Tathandlungen und ihre erneute Einbeziehung in das Disziplinarverfahren zu entscheiden.
Kommt einer vom Verwaltungsgericht ausgeschlossenen Handlung nach Auffassung des
Berufungs- oder Revisionsgerichts Bedeutung für Art und Höhe der zu erwartenden
Disziplinarmaßnahme zu, sind die Voraussetzungen für die von der Vorinstanz ausgesprochene
Beschränkung daher nachträglich entfallen.
13 Nach diesen Grundsätzen begegnet der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts, einige der
vom Verwaltungsgericht ausgeschiedenen Tathandlungen wieder in das Disziplinarverfahren
einzubeziehen, nach Maßgabe des § 55 Abs. 1 LDG NRW keinen Bedenken. Die
Voraussetzungen für die Beschränkung des Disziplinarverfahrens sind nachträglich entfallen,
weil den Handlungen nach der maßgeblichen Rechtsauffassung des Oberverwaltungsgerichts
Bedeutung für die Art und Höhe der zu erwartenden Disziplinarmaßnahme zukommen kann.
14 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Einer Festsetzung des Streitwerts
bedarf es nicht, weil die Gebühren nach dem Gebührenverzeichnis der Anlage zu § 75 LDG
NRW erhoben werden.
Domgörgen
Dr. Hartung
Dr. Kenntner