Urteil des BVerwG vom 28.03.2013

BVerwG: rechtliches gehör, grundsatz der freien beweiswürdigung, vorweggenommene beweiswürdigung, beweisantrag, handbuch, rüge, verfahrensmangel, programm, berechnungsgrundlagen, druck

BVerwG 4 B 15.12
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 4 B 15.12
VG Düsseldorf - 21.08.2009 - AZ: VG 4 K 3380/07
OVG für das Land Nordrhein-Westfalen - 15.12.2011 - AZ: VGH 2 A 2645/08
In der Verwaltungsstreitsache hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 28. März 2013
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Rubel
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Gatz und Dr. Decker
beschlossen:
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil
des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 15. Dezember
2011 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der
außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 10 000 €
festgesetzt.
Gründe
1 Die auf § 132 Abs. 2 Nr. 1 und 3 VwGO gestützte Beschwerde bleibt ohne Erfolg.
2 1. Die Sache hat keine rechtsgrundsätzliche Bedeutung.
3 Grundsätzlich bedeutsam im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ist eine Rechtssache dann,
wenn in dem angestrebten Revisionsverfahren die Klärung einer bisher höchstrichterlich
ungeklärten, in ihrer Bedeutung über den der Beschwerde zugrunde liegenden Einzelfall
hinausgehenden, klärungsbedürftigen und entscheidungserheblichen Rechtsfrage des
revisiblen Rechts (§ 137 Abs. 1 VwGO) zu erwarten ist. In der Beschwerdebegründung muss
dargelegt (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO), d.h. näher ausgeführt werden, dass und inwieweit eine
bestimmte Rechtsfrage des Bundesrechts im allgemeinen Interesse klärungsbedürftig und
warum ihre Klärung in dem beabsichtigten Revisionsverfahren zu erwarten ist (stRspr; so bereits
Beschluss vom 2. Oktober 1961 - BVerwG 8 B 78.61 - BVerwGE 13, 90 <91>; siehe auch
Beschluss vom 1. Februar 2011 - BVerwG 7 B 45.10 - juris Rn. 15).
4 Die Klägerin hält für grundsätzlich klärungsbedürftig,
ob § 3 Abs. 3 der 12. BImSchV (ggf. i.V.m. § 9 Abs. 1 der Bergverordnung für Tiefbohrungen,
Untergrundspeicher und für die Gewinnung von Bodenschätzen durch Bohrungen im Land
Nordrhein-Westfalen ), soweit nach dieser Vorschrift
Sicherheitsabstände (Achtungsabstände) einzuhalten sind, um die Auswirkungen von Dennoch-
Störfällen so gering wie möglich zu halten, die Pflicht zur Vermeidung schädlicher
Umwelteinwirkungen im Sinne des § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BImSchG konkretisiert oder aber die
Pflicht des Errichters und Betreibers einer genehmigungspflichtigen Anlage gemäß § 5 Abs. 1
Satz 1 Nr. 2 BImSchG näher bestimmt, Vorsorge gegen schädliche Umwelteinwirkungen und
sonstige Gefahren zu treffen mit der Folge, dass die Pflicht, gemäß § 3 Abs. 3 der 12. BImSchV
(ggf. i.V.m. § 9 Abs. 1 BVOT) einen Sicherheitsabstand zur Auswirkungsbegrenzung von
vernünftigerweise ausgeschlossenen Dennoch-Störfällen einzuhalten, nicht nachbarschützend
ist und keine bauplanungsrechtlichen Rücksichtnahmepflichten nach § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3
BauGB zwischen dem Anlagenbetreiber und einem benachbarten Bauherrn begründet,
und
ob bei der Bemessung des erforderlichen Sicherheitsabstandes nach § 9 Abs. 1 BVOT, § 3 Abs.
3 der 12. BlmSchV dann, wenn als Grenze eine Wärmestrahlung gewählt wird, bei der letale
Folgen selbst innerhalb eines Wohngebäudes unmittelbar zu erwarten stehen, im Gegenzug bei
der Betrachtung des Störfallszenarios eine Windstärke von 10 m/s, d.h. eine Starkwindlage, von
dem Störfallbetrieb in Richtung auf das schutzwürdige Vorhaben ungeachtet ihrer konkreten
Wahrscheinlichkeit nach Maßgabe der örtlichen Gegebenheiten zu berücksichtigen ist.
5 Diese Fragen rechtfertigen - soweit sie überhaupt einer rechtsgrundsätzlichen Klärung
zugänglich sind - die Zulassung der Revision nicht, weil es auf sie nicht (mehr)
entscheidungserheblich ankommt. Nach der Grundsatzentscheidung des Senats vom 20.
Dezember 2012 - BVerwG 4 C 11.11 - (zur Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung
vorgesehen) ist den Anforderungen, die Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 96/82/EG (sog. Seveso-II-
Richtlinie) an die Zulassung von Vorhaben in der Nachbarschaft eines Störfallbetriebs stellt,
durch eine richtlinienkonforme Auslegung des in § 34 Abs. 1 BauGB enthaltenen
Rücksichtnahmegebots Rechnung zu tragen. Die Grundsätze, die der Senat in der
vorbezeichneten Entscheidung entwickelt hat, finden - ohne dass es hierfür der Durchführung
eines Revisionsverfahrens bedürfte - im Rahmen des öffentlich-rechtlichen Belangs des § 35
Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 BauGB, der eine besondere Ausprägung des nachbarlichen Gebots der
Rücksichtnahme darstellt, entsprechende Anwendung. Damit kann sich ein unter die Richtlinie
96/82/EG fallender Betrieb (wie hier - nach den mit Verfahrensrügen nicht angegriffenen
Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts - der Betrieb der Beigeladenen) darauf berufen, der
von Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 96/82/EG geforderte „angemessene Abstand“ werde durch ein
geplantes Wohnbauvorhaben nicht eingehalten; dieses sei gegenüber dem Betrieb
rücksichtslos. Dem entsprechend kommt es nicht mehr darauf an, ob § 3 Abs. 3 der 12. BImSchV
(ggf. i.V.m. § 9 Abs. 1 BVOT) selbst drittschützende Wirkung zukommt bzw. anhand welcher
Faktoren der nach § 9 Abs. 1 BVOT bzw. § 3 Abs. 3 der 12. BImSchV erforderliche
Sicherheitsabstand zu bemessen ist.
6 2. Die Entscheidung des Senats vom 20. Dezember 2012 (a.a.O.) nötigt nicht zur Zulassung
der Revision nach § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO (siehe zur „überholten“ Grundsatzrüge etwa
Beschlüsse vom 11. Februar 1986 - BVerwG 8 B 7.85 - Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 240 =
juris Rn. 3, vom 9. April 1999 - BVerwG 9 B 21.99 - juris Rn. 3 und vom 21. Februar 2000 -
BVerwG 9 B 57.00 - juris Rn. 6). Das Oberverwaltungsgericht ist davon ausgegangen, dass das
Vorhaben der Klägerin deshalb planungsrechtlich unzulässig sei, weil es Belange im Sinne von
§ 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 BauGB beeinträchtige und damit zugleich zulasten der Beigeladenen
einen Verstoß gegen das in dieser Vorschrift enthaltene Rücksichtnahmegebot begründe (UA S.
24); auf S. 47 des Urteilsabdrucks werden zudem die Kriterien angewendet, die der Europäische
Gerichtshof in der Vorabentscheidung vom 15. September 2011 - Rs. C-53/10 - (ABl EU 2011 Nr.
C 319 S. 5 = ZfBR 2011, 763) genannt hat. Das entspricht dem Urteil des Senats vom 20.
Dezember 2012 (a.a.O.).
7 3. Die Revision ist nicht nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zuzulassen. Die geltend gemachten
Verfahrensfehler sind entweder schon nicht in einer den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3
VwGO entsprechenden Weise dargelegt oder liegen jedenfalls nicht vor.
8 Ein Verfahrensmangel ist im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO nur dann bezeichnet, wenn
er sowohl in den ihn (vermeintlich) begründenden Tatsachen als auch in seiner rechtlichen
Würdigung substantiiert dargetan wird (vgl. Beschlüsse vom 10. November 1992 - BVerwG 3 B
52.92 - Buchholz 303 § 314 ZPO Nr. 5 und vom 19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 -
Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 26). Die Frage, ob das vorinstanzliche Verfahren an einem
Verfahrensmangel leidet, ist dabei vom materiellrechtlichen Standpunkt der Tatsacheninstanz
aus zu beurteilen, selbst wenn dieser verfehlt sein sollte (stRspr, vgl. etwa Urteil vom 14. Januar
1998 - BVerwG 11 C 11.96 - BVerwGE 106, 115 <119>; Beschlüsse vom 25. Januar 2005 -
BVerwG 9 B 38.04 - NVwZ 2005, 447 <449> = juris Rn. 21, insoweit nicht veröffentlicht in
Buchholz 406.25 § 43 BImSchG Nr. 22 und vom 20. Dezember 2010 - BVerwG 5 B 38.10 - juris
Rn. 18).
9 a) Soweit die Klägerin geltend macht, ein Verfahrensfehler liege darin, dass bereits der
Beschluss über die Zulassung der Berufung verfahrensfehlerhaft ergangen sei, verkennt sie,
dass sie die Zulassung der Revision mit einer solchen Rüge schon deshalb nicht erreichen
kann, weil die Zulassung der Berufung als unanfechtbare Vorentscheidung nach § 173 Satz 1
VwGO i.V.m. § 557 Abs. 2 ZPO einer Überprüfung durch das Bundesverwaltungsgericht
grundsätzlich entzogen ist (vgl. etwa Beschlüsse vom 30. September 2005 - BVerwG 1 B 26.05 -
Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 82 = juris Rn. 6 und vom 14. Dezember 2006 - BVerwG 1
B 272.06 - Buchholz 310 § 124a VwGO Nr. 33 Rn. 3). Das gleiche gilt, soweit die Beschwerde
einen Verfahrensfehler darin sieht, dass das Oberverwaltungsgericht den Antrag der Klägerin auf
Aussetzung des Verfahrens (§ 94 VwGO) abgelehnt hat (Beschluss vom 13 September 2005 -
BVerwG 7 B 14.05 - juris Rn. 20 f.); diese Entscheidung ist gemäß § 152 Abs. 1 VwGO ebenfalls
unanfechtbar.
10 Der weiter in diesem Zusammenhang erhobene Einwand, das Oberverwaltungsgericht habe
die Berufung zu Unrecht als zulässig erachtet, weil die Beigeladene als Berufungsführerin zur
Zeit der Zulassung der Berufung zwar Eigentümerin, nicht aber Betreiberin des
Gaskavernenspeichers gewesen sei, greift nicht, denn jedenfalls im für die Zulässigkeit der
Berufung maßgeblichen Zeitpunkt der (letzten) mündlichen Verhandlung am 15. Dezember 2011
war die Beigeladene (unstreitig auch) Betreiberin, womit unter diesem Gesichtspunkt gegen die
Zulässigkeit der Berufung keine Bedenken bestehen.
11 b) Das Oberverwaltungsgericht hat nicht das Recht der Klägerin auf rechtliches Gehör (Art.
103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO) verletzt. Das gilt sowohl hinsichtlich des
Vorwurfs, das Oberverwaltungsgericht habe sich mit bestimmten Ausführungen der Klägerin
nicht auseinander gesetzt (1), nicht in das Verfahren eingeführte und zudem in Englisch
verfasste Beweismittel im Urteil verwertet (2) als auch in Bezug auf den Vorhalt, es habe
Beweisanträge zu Unrecht abgelehnt (3).
12 (1) Ein Verstoß gegen das Gebot, rechtliches Gehör zu gewähren, liegt vor, wenn das Gericht
seiner Verpflichtung, die für die Entscheidung erheblichen Ausführungen der Beteiligten zur
Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, nicht nachkommt (vgl. BVerfG, Beschluss vom
17. November 1992 - 1 BvR 168/89 u.a. - BVerfGE 87, 363 <392>; BVerwG, Urteile vom 29.
November 1985 - BVerwG 9 C 49.85 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 177 und vom 20.
November 1995 - BVerwG 4 C 10.95 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 267 S. 22 f.; jeweils
m.w.N.). Daraus folgt aber keine Verpflichtung des Gerichts, jeglichen Vortrag in den
Entscheidungsgründen ausdrücklich zu bescheiden (Beschluss vom 21. Februar 2000 a.a.O.
Rn. 8). Vielmehr ist regelmäßig davon auszugehen, dass ein Gericht das von ihm
entgegengenommene Vorbringen auch zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat.
Anderes gilt nur dann, wenn besondere Umstände deutlich ergeben, dass das Gericht ein
bestimmtes Vorbringen nicht berücksichtigt hat. Dieser Ausnahmefall liegt indessen nicht vor,
wenn das Gericht den Sachvortrag eines Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen
Rechts ganz oder teilweise unberücksichtigt gelassen hat, namentlich wenn er nach der
materiellrechtlichen Auffassung des Gerichts nicht entscheidungserheblich war (vgl. etwa
Beschlüsse vom 22. Mai 2006 - BVerwG 10 B 9.06 - juris Rn. 14, vom 13. Dezember 2010 -
BVerwG 7 B 64.10 - juris Rn. 24 und vom 21. Mai 2012 - BVerwG 7 B 70.11 - juris Rn. 12).
Zudem verpflichten Art. 103 Abs. 1 GG und § 108 Abs. 2 VwGO die Gerichte nicht dazu, der
Rechtsansicht einer Partei zu folgen (BVerfG, Urteil vom 7. Juli 1992 - 1 BvL 51/86 u.a. -
BVerfGE 87, 1 <33>).
13 Vor diesem Hintergrund erweist sich die Rüge der Klägerin, das Oberverwaltungsgericht
habe sich mit ihrem Vortrag nicht auseinandergesetzt, die mit ihrem Bauantrag verfolgte Nutzung
der ehemaligen Katstelle als Wohnung verlange von der Beigeladenen keine größeren
Rücksichtnahmepflichten und keine weiteren Vorkehrungen als die auf dem Grundstück bereits
regelmäßig praktizierte Nutzung der Katstelle als Wochenend- und Freizeitwohnung sowie des
Grundstückes als Garten, als unbegründet. Ausweislich der Urteilsgründe (UA S. 3, 34, 48, 49)
beleuchtet das Oberverwaltungsgericht die Folgen der Zulassung des klägerischen Vorhabens
für die Beigeladene. Dabei stellt es fest, dass die von der Klägerin derzeit ausgeübte Nutzung
nicht genehmigt ist, mithin keinen Bestandsschutz genießt, und die Beigeladene bei Zulassung
des klägerischen Vorhabens erstmals auf eine legalerweise ausgeübte Wohnnutzung Rücksicht
nehmen müsste, was gegebenenfalls zu nachträglichen Betriebseinschränkungen führen könne.
Damit erübrigen sich aber weitere Erörterungen im Hinblick auf eine etwaige „Vorbelastung“, auf
die die Klägerin offensichtlich abstellt. Soweit sie in diesem Zusammenhang auf den
Vorlagebeschluss des Senats vom 3. Dezember 2009 - BVerwG 4 C 5.09 - (Buchholz 406.11 §
34 BauGB Nr. 209 Rn. 14) an den Europäischen Gerichtshof verweist, sind die vom Senat dort
gemachten Ausführungen zur Berücksichtigung einer etwaigen Vorbelastung durch die - auch
schon vom Oberverwaltungsgericht berücksichtigte - Entscheidung des Europäischen
Gerichtshofs vom 15. September 2011 (a.a.O.) sowie das Urteil des Senats vom 20. Dezember
2012 (a.a.O.) sachlich überholt. Danach ist das Kriterium der Vorbelastung im Störfallrecht bei
richtlinienkonformer Handhabung unbrauchbar (Urteil vom 20. Dezember 2012 a.a.O. Rn. 34
a.E.).
14 (2) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts setzt die schlüssige
Rüge, das rechtliche Gehör sei verletzt worden, regelmäßig die substantiierte Darlegung dessen
voraus, was der Beteiligte bei ausreichender Gehörsgewährung noch vorgetragen hätte und
inwiefern der weitere Vortrag zur Klärung des geltend gemachten Anspruchs geeignet gewesen
wäre (vgl. etwa Beschlüsse 31. Juli 1985 - BVerwG 9 B 71.85 - Buchholz 310 § 98 VwGO Nr. 28
= juris Rn. 6 m.w.N., vom 19. März 1991 - BVerwG 9 B 56.91 - Buchholz 310 § 104 VwGO Nr. 25
= juris Rn. 7, vom 19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 VwGO Nr.
26 = juris Rn. 4, vom 22. April 1999 - BVerwG 9 B 188.99 - Buchholz 310 § 133 VwGO Nr.
44 = juris Rn. 3 und vom 28. Januar 2003 - BVerwG 4 B 4.03 - Buchholz 310 § 86 Abs. 2 VwGO
Nr. 53 = juris Rn. 4). Daran fehlt es hier, soweit die Klägerin rügt, dass sich das
Oberverwaltungsgericht das Handbuch zum Programm ALOHA aus dem Internet besorgt, es
selbst vom Englischen ins Deutsche - soweit erforderlich - übersetzt und im Urteil verwertet
habe, obwohl das Handbuch nicht Gegenstand der mündlichen Verhandlung und schon gar
nicht in deutscher Übersetzung gewesen sei. Insofern legt sie schon nicht dar, was sie
diesbezüglich bei ausreichender Gehörsgewährung (noch) vorgetragen hätte. Das bedarf jedoch
keiner Vertiefung, denn die vom Oberverwaltungsgericht verwendeten Aussagen im englischen
Handbuch (es handelt sich um einen Satz) waren für das Gericht jedenfalls nicht
entscheidungserheblich, das Urteil beruht mithin nicht hierauf. Denn das Berufungsgericht hat
die Berechnungen des Gutachters der Klägerin auf der Grundlage des Programms ALOHA
bereits aufgrund der Angaben im TÜV-Gutachten sowie in dem Gutachten des LANUV als falsch
bewertet (UA S. 42) und dieses Ergebnis nur noch ergänzend - im Wege einer Hilfsbegründung -
durch das Handbuch zu besagtem Programm als bestätigt angesehen (UA S. 42). Diese
Hilfsbegründung kann jedoch hinweggedacht werden, ohne dass sich am Ergebnis (Feststellung
der fehlerhaften Anwendung des Programms ALOHA durch die Gutachter der Klägerin) etwas
ändert.
15 (3) Ein Gehörsverstoß kann auch nicht darin gesehen werden, dass das
Oberverwaltungsgericht die Beweisanträge Nr. 1 und 4 der Klägerin in der mündlichen
Verhandlung vom 15. Dezember 2011 abgelehnt hat.
16 Der Anspruch auf rechtliches Gehör schützt nicht gegen eine nach Meinung eines Beteiligten
sachlich unrichtige Ablehnung eines Beweisantrags (Beschlüsse vom 7. Oktober 1987 - BVerwG
9 CB 20.87 - Buchholz 310 § 86 Abs. 2 VwGO Nr. 31 und vom 14. Mai 2008 - BVerwG 4 B 46.07
- juris Rn. 28). Art. 103 Abs. 1 GG ist allerdings dann verletzt, wenn die Ablehnung eines als
sachdienlich und erheblich angesehenen Beweisantrags im Prozessrecht keine Stütze mehr
findet (BVerfG, Beschlüsse vom 30. Januar 1985 - 1 BvR 393/84 - BVerfGE 69, 141 <143 f.> und
vom 26. Juni 2002 - 1 BvR 670/91 - BVerfGE 105, 279 <311>; BVerwG, Beschluss vom 24. März
2000 - BVerwG 9 B 530.99 - Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 308 S. 16), mithin auf
sachfremde Erwägungen gestützt ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Oktober 1988 - 1 BvR
818.88 - BVerfGE 79, 51 <62>). Wie bereits ausgeführt, ist hierfür maßgebend auf den
materiellrechtlichen Standpunkt der angegriffenen Entscheidung abzustellen. In
verfahrensrechtlicher Hinsicht erfordert eine entsprechende Rüge den substantiierten Vortrag,
dass die Ablehnung des Beweisantrags fehlerhaft erfolgt ist, die Begründung der
Ablehnungsentscheidung im Gesetz keine Stütze findet und deshalb das rechtliche Gehör
verletzt worden ist (Beschluss vom 13. Dezember 2002 - BVerwG 1 B 95.02 - Buchholz 310 §
133 VwGO Nr. 67 = juris Rn. 6). Hieran fehlt es vorliegend.
17 (3.1) Der Beweisantrag Nr. 1 der Klägerin zielte auf die Einholung eines Gutachtens durch
einen Sachverständigen für Physik, insbesondere für Strömungsphysik, bezüglich der
Innenrauhigkeit des Steigrohres in der Kaverne Victor 2 (Nr. 1.1), der Unwahrscheinlichkeit eines
sog. Guillotinebruchs am Kavernenkopf (Nr. 1.2), der fehlenden Berücksichtigung einer starken
Kontraktion und eines starken Reibungsverlusts am Übergang von Kaverne zum Rohrschuh in
den Berechnungen des TÜV von 2006 und des LANUV von 2011 (Nr. 1.3), der maximalen Höhe
des Massestroms am Kavernenkopf (Nr. 1.4) sowie dazu, dass die zum Abriss des
Kavernenkopfes notwendige Druckbelastung am Kavernenkopf nicht auftreten könne (Nr. 1.5).
18 Diesen Beweisantrag hat das Oberverwaltungsgericht abgelehnt. Die Klägerin sieht hierin
einen Verfahrensfehler. Ausweislich der in der mündlichen Verhandlung gegebenen
Begründung stelle dies eine vorweggenommene Beweiswürdigung dar und beinhalte die
Aussage, das Gericht halte den Sachverhalt bereits für hinreichend geklärt. Mit einer solchen
Begründung könne ein Beweisantrag nicht in rechtmäßiger Weise abgelehnt werden.
19 Nach § 86 Abs. 1 VwGO obliegt den Tatsachengerichten die Pflicht, jede mögliche
Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhalts bis zur Grenze der Zumutbarkeit zu
versuchen, sofern dies für die Entscheidung des Rechtsstreits erforderlich ist (Urteile vom 6.
Februar 1985 - BVerwG 8 C 15.84 - BVerwGE 71, 38 <41> und vom 6. Oktober 1987 - BVerwG 9
C 12.87 - Buchholz 310 § 98 VwGO Nr. 31 = juris Rn. 10). Die Entscheidung eines
Tatsachengerichts über Art und Anzahl einzuholender Sachverständigengutachten steht dabei
gemäß § 98 VwGO in entsprechender Anwendung des § 412 ZPO grundsätzlich in seinem
tatrichterlichen Ermessen (z.B. Urteil vom 8. Juni 1979 - BVerwG 4 C 1.79 - Buchholz 310 § 86
Abs. 1 VwGO Nr. 120 = NJW 1980, 900). Die unterlassene Einholung eines Obergutachtens
stellt deshalb nur dann einen Verfahrensmangel dar, wenn sich dem Berufungsgericht die
Notwendigkeit einer weiteren Beweiserhebung hätte aufdrängen müssen (Beschluss vom 13.
März 1992 - BVerwG 4 B 39.92 - NVwZ 1993, 268 = juris Rn. 5), weil die bereits vorliegenden
Gutachten nicht den ihnen obliegenden Zweck zu erfüllen vermögen, dem Gericht die zur
Feststellung des entscheidungserheblichen Sachverhalts erforderliche Sachkunde zu vermitteln
und ihm dadurch die Bildung der für die Entscheidung notwendigen Überzeugung zu
ermöglichen. In diesem Sinne kann ein Sachverständigengutachten für die
Überzeugungsbildung des Gerichts ungeeignet oder jedenfalls unzureichend sein, wenn es
grobe, offen erkennbare Mängel oder unlösbare Widersprüche aufweist, wenn es von
unzutreffenden sachlichen Voraussetzungen ausgeht oder wenn Anlass zu Zweifeln an der
Sachkunde oder der Unparteilichkeit des Gutachters besteht (stRspr, u.a. Urteil vom 19.
Dezember 1968 - BVerwG 8 C 29.67 - BVerwGE 31, 149 <156> = Buchholz 448.0 § 8a WPflG
Nr. 2; Beschlüsse vom 10. März 1977 - BVerwG 6 B 38.76 - Buchholz 310 § 86 Abs. 3 VwGO Nr.
21 und vom 30. August 1993 - BVerwG 2 B 106.93 - juris Rn. 2). Von diesen Grundsätzen ist das
Berufungsgericht ausweislich der Begründung der Entscheidung über die Ablehnung des
Beweisantrags, die es in seinem Urteil (UA S. 43, 45, 46) noch weiter präzisiert hat,
rechtsfehlerfrei ausgegangen. Von einer unzulässigen vorweggenommenen Beweiswürdigung
kann damit keine Rede sein. Das Oberverwaltungsgericht hat vielmehr angenommen, dass
durch die in das Verfahren eingeführten Gutachten ihm die erforderliche Sachkunde bereits
soweit vermittelt wurde, um im Wege der richterlichen Überzeugungsbildung (§ 108 Abs. 1
VwGO) den vorliegend maßgeblichen Mindestabstand zwischen dem klägerischen Vorhaben
und dem Gaskavernenspeicher der Beigeladenen bestimmen zu können. Das
Oberverwaltungsgericht hat sich des Weiteren auf den Seiten 39 bis 46 des
Entscheidungsabdrucks ausführlich mit den in das Verfahren - auch von Seiten der Klägerin -
eingebrachten bzw. den von ihm eingeholten Gutachten auseinander gesetzt, hat diese
umfassend gewürdigt und ist bezüglich des maßgeblichen Sicherheitsabstandes letztlich der
durch das LANUV-Gutachten bestätigten Ansicht des TÜV gefolgt, weil es dieses für
überzeugend gehalten hat (UA S. 37). Hiermit setzt sich die Klägerin nicht in einer den
Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO genügenden Weise auseinander.
20 (3.2) Schließlich rügt die Klägerin, auch Beweisantrag Nr. 4 sei in der mündlichen
Verhandlung unzulässigerweise abgelehnt worden. Danach sollte den Gutachtern der
Gegenseite aufgegeben werden, ihre iterative Berechnung des Massestroms einschließlich der
zugehörigen Excel-Tabellen vorzulegen, sowie der Klägerin und ihrem Sachverständigen
Gelegenheit gegeben werden, dazu Stellung zu nehmen. Das Oberverwaltungsgericht lehnte
diesen Beweisantrag mit der Begründung ab, die eingeforderten Vorlagen würden erkennbar
keine relevanten Erkenntnisse erbringen. Die Beschwerde wirft dem Oberverwaltungsgericht
insofern vor, den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt zu haben (§ 86 Abs. 1 VwGO), weil es
seine Entscheidung nur auf ein Gutachten stützen dürfe, das schlüssig und nachvollziehbar sei.
Das setze gerade im Streit um wissenschaftliche Fragen voraus, dass die methodischen und
rechnerischen Schritte, mit denen ein Sachverständiger zu einer Erkenntnis gelangt sei,
nachvollzogen werden könnten. Dem habe der Beweisantrag Nr. 4 gedient. Ein Verfahrensfehler
ist damit nicht dargetan. Inwieweit Ausgangsdaten und Verarbeitungsschritte einer
gutachterlichen Stellungnahme offen gelegt werden müssen, um deren Verwertbarkeit
überprüfen zu können, ist eine Frage der Beweiswürdigung und der richterlichen
Überzeugungsbildung (§ 108 Abs. 1 VwGO), die sich regelmäßig nicht allgemeingültig
beantworten lässt (Beschlüsse vom 1. April 2009 - BVerwG 4 B 61.08 - NVwZ 2009, 910 Rn. 24
und vom 14. April 2011 - BVerwG 4 B 77.09 - juris Rn. 44). Das Oberverwaltungsgericht hat
festgestellt, dass die Eingabegrößen und die Berechnungsgrundlagen im Anhang der
Stellungnahme des LANUV aufgeführt sind (UA S. 44). Hinweise, auf durchgreifende, die
Aussagekraft der Abschätzung in relevantem Umfang relativierende Fehler bei den
Berechnungsgrundlagen, welche Anlass hätten geben können, die angelegten Excel-Tabellen
anzufordern, hat das Oberverwaltungsgericht ausweislich der Urteilsgründe (UA S. 44) nicht
gefunden. Vor diesem Hintergrund hätte die Beschwerde darlegen müssen, dass bei der
Aufnahme der Grundlagendaten und der Berechnungen Fehler unterlaufen sein könnten (Urteil
vom 13. Oktober 2011 - BVerwG 4 A 4000.09 - juris Rn. 61 a.E. für eine Verkehrsprognose).
Daran fehlt es.
21 c) Letztlich liegt auch keine sogenannte aktenwidrige Entscheidung vor.
22 Die Verfahrensrüge, das Gericht habe den Sachverhalt „aktenwidrig“ festgestellt, betrifft den
Grundsatz der freien Beweiswürdigung und das Gebot der sachgerechten Ausschöpfung des
vorhandenen Prozessstoffes (§ 86 Abs. 1, § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Sie bedingt die schlüssig
vorgetragene Behauptung, zwischen den in der angegriffenen Entscheidung getroffenen
tatsächlichen Annahmen und dem insoweit unumstrittenen Akteninhalt sei ein Widerspruch
gegeben (Beschluss vom 19. November 1997 - BVerwG 4 B 182.97 - Buchholz 406.11 § 153
BauGB Nr. 1 = juris Rn. 6). Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts muss
dieser Widerspruch offensichtlich sein, so dass es einer weiteren Beweiserhebung zur Klärung
des Sachverhalts nicht bedarf; der Widerspruch muss „zweifelsfrei“ sein (z.B. Urteil vom 2.
Februar 1984 - BVerwG 6 C 134.81 - BVerwGE 68, 338). Diese Voraussetzungen sind durch die
Beschwerde nicht dargetan.
23 (1) Die Klägerin rügt, das Gericht habe den Sachverhalt "aktenwidrig" festgestellt, weil es
davon ausgehe, dass bei Erreichen einer Wärmestrahlung von 12 kW/m² ein Wohngebäude
regelmäßig keinen hinreichenden Schutz mehr biete, sondern mit letalen Folgen zu rechnen sei
(UA S. 39). Aus den Akten ergebe sich - so die Klägerin - jedoch genau das Gegenteil. Dieser
Einwand greift nicht durch. Vielmehr ist davon auszugehen, dass es sich bei der genannten
Passage im Urteil vom 15. Dezember 2011 lediglich um eine Ungenauigkeit in der Diktion
handelt. Das folgt daraus, dass das Oberverwaltungsgericht im weiteren Verlauf seiner Prüfung
davon ausgeht, dass der Wert von 12 kW/m² aufgrund der Unterschreitung des
Sicherheitsabstandes von 85 m durch das verfahrensgegenständliche Gebäude (ca. 75 m
Entfernung) überschritten wird und es infolgedessen zu einer Verletzung des Gebots der
Rücksichtnahme komme. Die Annahme, dass die typischen in Deutschland anzutreffenden
Gebäude bei einer Wärmestrahlung von mehr als 12 kW/m² - somit auch das klägerische
Gebäude - keinen ausreichenden Schutz vor letalen Folgen mehr bieten, entspricht jedoch der
Aktenlage.
24 (2) Die Klägerin rügt des Weiteren, dass das Oberverwaltungsgericht bezüglich des der
Ausbreitungsbetrachtung zugrunde zu legenden Massenstroms, d.h. der im Störfall auftretenden
Emissionen am Kavernenkopf, hinsichtlich der insoweit maßgeblichen Parameter (Ideal-
/Realgasverhalten, Druck, Strömungsdurchmesser/Ausströmungsquerschnitt, Inburex-
Sicherheitsbericht 2002) von einem aktenwidrigen Sachverhalt ausgegangen sei. Insofern legt
sie jedoch schon keinen „offensichtlichen“ bzw. „zweifelsfreien“ Widerspruch entsprechend
obigen Grundsätzen dar, sondern ersetzt die Beweiswürdigung des Oberverwaltungsgerichts
durch eine eigene. Das gilt umso mehr, als die genannten Parameter, ihre Bestimmung und ihre
Bedeutung für den maßgeblichen Sicherheitsabstand zwischen den Beteiligten sowie den
Gutachtern im Verfahren heftig umstritten waren. Damit fehlt es bereits an der nach § 133 Abs. 3
Satz 3 VwGO erforderlichen Darlegung.
25 4. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat gemäß § 133 Abs. 5 Satz 2 VwGO ab.
26 5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Die Festsetzung des
Streitwerts folgt aus § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG.
Prof. Dr. Rubel
Dr. Gatz
Dr. Decker