Urteil des BVerwG vom 06.03.2014

Aufschiebende Wirkung, Überprüfung, Projekt, Europäische Kommission

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 9 C 6.12
OVG 5 A 195/09
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 6. März 2014
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Bier,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Buchberger,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Christ und Prof. Dr. Korbmacher
und die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Bick
beschlossen:
Das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht wird
ausgesetzt.
Es wird gemäß Art. 267 AEUV eine Vorabentscheidung
des Gerichtshofs der Europäischen Union zu folgenden
Fragen eingeholt:
1. Ist Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 92/43/EWG des Rates
vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebens-
räume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (FFH-
RL) dahin auszulegen, dass ein vor der Aufnahme eines
Gebietes in die Liste der Gebiete von gemeinschaftlicher
Bedeutung genehmigtes, nicht unmittelbar der Verwaltung
des Gebietes dienendes Brückenbauprojekt vor seiner
Ausführung einer Überprüfung auf seine Verträglichkeit zu
unterziehen ist, wenn das Gebiet nach Erteilung der Ge-
nehmigung, aber vor Beginn der Ausführung in die Liste
aufgenommen worden ist und vor Erteilung der Genehmi-
gung nur eine Gefährdungsabschätzung/Vorprüfung er-
folgt war?
2. Wenn die Frage zu 1 zu bejahen ist:
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Muss die nationale Behörde bei der nachträglichen Über-
prüfung die Vorgaben des Art. 6 Abs. 3 und 4 FFH-RL
schon dann einhalten, wenn sie diese bei der der Erteilung
der Genehmigung vorangegangenen Gefährdungsab-
schätzung/Vorprüfung vorsorglich zugrunde legen wollte?
3. Wenn die Frage zu 1 zu bejahen und die Frage zu 2 zu
verneinen ist:
Welche Anforderungen sind nach Art. 6 Abs. 2 FFH-RL an
eine nachträgliche Überprüfung einer für ein Projekt erteil-
ten Genehmigung zu stellen und auf welchen Zeitpunkt ist
die Prüfung zu beziehen?
4. Ist im Rahmen eines ergänzenden Verfahrens, das der
Heilung eines festgestellten Fehlers einer nachträglichen
Überprüfung nach Art. 6 Abs. 2 FFH-RL oder einer Ver-
träglichkeitsprüfung nach Art. 6 Abs. 3 FFH-RL dient,
durch entsprechende Modifikationen der Prüfungsanforde-
rungen zu berücksichtigen, dass das Bauwerk errichtet
und in Betrieb genommen werden durfte, weil der Plan-
feststellungsbeschluss sofort vollziehbar und ein Verfah-
ren des vorläufigen Rechtsschutzes unanfechtbar erfolg-
los geblieben war? Gilt dies jedenfalls für eine nachträg-
lich notwendige Alternativenprüfung im Rahmen einer
Entscheidung nach Art. 6 Abs. 4 FFH-RL?
G r ü n d e :
I
Der Kläger ist eine zur Einlegung von Rechtsbehelfen anerkannte Naturschutz-
vereinigung. Er wendet sich gegen einen Planfeststellungsbeschluss des Re-
gierungspräsidiums Dresden (jetzt Landesdirektion), einer Behörde des Beklag-
ten, vom 25. Februar 2004 für den Neubau des die Elbauen und die Elbe im
Innenstadtgebiet der Landeshauptstadt Dresden überquerenden Verkehrszuges
„Waldschlößchenbrücke“. Die Brücke ist in den Jahren 2007 bis 2013 errichtet
und am 26. August 2013 für den Verkehr freigegeben worden.
Dem Planfeststellungsbeschluss vom 25. Februar 2004 lag eine im Januar
2003 abgeschlossene „FFH-Verträglichkeitsuntersuchung“ zugrunde, die zum
Ziel hatte, mögliche Auswirkungen des Bauvorhabens auf die Schutz- und Er-
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haltungsziele des zu diesem Zeitpunkt nur landesintern, aber noch nicht an die
EU-Kommission gemeldeten FFH-Gebietes „Elbtal zwischen Schöna und Mühl-
berg“ im Wege einer „Gefährdungsabschätzung/Vorprüfung“ zu untersuchen.
Für den Fall einer Erheblichkeit der Beeinträchtigungen sollten sich „vertiefende
Untersuchungen im Sinne einer Erheblichkeitsprüfung nach Art. 6 der FFH-
Richtlinie“ anschließen. Das Gutachten verneint erhebliche oder nachhaltige
Beeinträchtigungen durch das Bauvorhaben auf die Erhaltungsziele des FFH-
Gebietes.
Im Dezember 2004 nahm die Europäische Kommission das im März 2003 an
sie gemeldete FFH-Gebiet DE4545-301 „Elbtal zwischen Schöna und Mühl-
berg“ in die Liste von Gebieten von gemeinschaftlicher Bedeutung auf. Mit Ver-
ordnung vom 19. Oktober 2006 (Sächs. ABl Sonderdruck Nr. 4/2006 S. 213)
bestimmte das Regierungspräsidium Dresden das Elbtal zwischen Schöna und
Mühlberg unter Aussparung eines Teils der Elbwiesen in der Innenstadt von
Dresden zum Europäischen Vogelschutzgebiet (EU-Meldenummer DE4545-
452).
Der Planfeststellungsbeschluss ist nach § 39 Abs. 1 des Sächsischen Straßen-
gesetzes sofort vollziehbar. Der Kläger stellte deshalb zur Verhinderung des
Beginns der Bauarbeiten zusammen mit seiner Klage einen Antrag auf Gewäh-
rung vorläufigen Rechtsschutzes. Das Verwaltungsgericht Dresden ordnete mit
Beschluss vom 9. August 2007 die aufschiebende Wirkung der Klage gegen
den Planfeststellungsbeschluss an. Mit Beschluss vom 12. November 2007 än-
derte das Sächsische Oberverwaltungsgericht die Entscheidung des Verwal-
tungsgerichts und lehnte die Anträge unter Auflagen für den Fledermausschutz
endgültig ab. Mit den Bauarbeiten wurde daraufhin Ende 2007 begonnen.
Mit Ergänzungs- und Änderungsbeschluss vom 14. Oktober 2008, vor dessen
Erlass der Kläger angehört wurde, nahm die Landesdirektion Dresden aufgrund
der nach Erlass des Planfeststellungsbeschlusses ergangenen Urteile des
Bundesverwaltungsgerichts zu den FFH-rechtlichen Anforderungen an Pla-
nungsentscheidungen (Urteile vom 17. Januar 2007 - BVerwG 9 A 20.05 -
BVerwGE 128, 1 und vom 12. März 2008 - BVerwG 9 A 3.06 - BVerwGE 130,
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299) nach Einholung weiterer naturschutzfachlicher Gutachten eine
- thematisch auf den Erhaltungszustand zweier Lebensraumtypen und der An-
hang II/IV-Falterart „Dunkler Wiesenknopf-Ameisenbläuling“ (Maculinea nausit-
hous) beschränkte - Neubewertung der mit dem Bauvorhaben verbundenen
Beeinträchtigungen bezogen auf den Zeitpunkt des Planfeststellungsbeschlus-
ses vor. Für die nunmehr - teilweise vorsorglich - angenommenen erheblichen
Beeinträchtigungen des Lebensraumtyps - LRT - 6510 (Magere Flachland-
Mähwiesen) sowie der Falterart Dunkler Wiesenknopf-Ameisenbläuling wurde
eine Abweichungsprüfung nach Art. 6 Abs. 4 FFH-RL durchgeführt, die unter
Anordnung weiterer Schadensvermeidungs- sowie von Kohärenzsicherungs-
maßnahmen die Zulassung des Vorhabens im Ausnahmeweg zum Ergebnis
hatte.
Das Verwaltungsgericht Dresden hat die Klagen mit Urteil vom 30. Oktober
2008 abgewiesen und die Berufung zugelassen.
Im Laufe des Berufungsverfahrens wurde der Planfeststellungsbeschluss er-
gänzt und geändert. Mit Änderungsplanfeststellungsbeschluss vom 17. Sep-
tember 2010 erteilte die Landesdirektion Dresden der beigeladenen Stadt
Dresden unter anderem die erforderliche wasserrechtliche Genehmigung zur
Ausbaggerung der Fahrrinne der Elbe. Der Beschluss enthält unter Anordnung
weiterer Kohärenzsicherungsmaßnahmen gleichzeitig eine habitatschutzrechtli-
che Ausnahme für erhebliche Eingriffe in den LRT 6510 (Magere Flachland-
Mähwiesen) und vorsorglich angenommene erhebliche Eingriffe in den
LRT 3270 (Flüsse mit Schlammbänken). Hinsichtlich der Art Maculinea verneint
der Beschluss eine erhöhte Inanspruchnahme der Habitatflächen. Ein Vorkom-
men des LRT 6430 (Feuchte Hochstaudenfluren) verneint der Änderungsbe-
schluss.
Auch gegen den Änderungsbeschluss vom 17. September 2010 stellte der Klä-
ger einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz, den das Sächsische Oberver-
waltungsgericht mit Beschluss vom 27. Oktober 2010 endgültig ablehnte.
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Mit Urteil vom 15. Dezember 2011 hat das Sächsische Oberverwaltungsgericht
die Berufung des Klägers zurückgewiesen und gleichzeitig die Revision wegen
grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen.
Der Kläger rügt in diesem Verfahren neben Verletzungen des Verfahrensrechts
durch das Oberverwaltungsgericht Verstöße des angegriffenen Urteils und des
zugrundeliegenden Planfeststellungsbeschlusses gegen das Naturschutzrecht,
insbesondere das FFH- und das Vogelschutzrecht.
Aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 6. März 2014 ist das Bundesver-
waltungsgericht zu dem Ergebnis gekommen, dass der angefochtene Planfest-
stellungsbeschluss und das angefochtene Urteil an einer Reihe von beachtli-
chen Fehlern leiden, die zur Feststellung der Rechtswidrigkeit und Nichtvoll-
ziehbarkeit des Planfeststellungsbeschlusses führen werden. Auf diese Fehler
ist in einem gesonderten Beschluss vom heutigen Tage hingewiesen worden.
II
Der Rechtsstreit ist auszusetzen. Es ist eine Vorabentscheidung des Gerichts-
hofs der Europäischen Union (im Folgenden: Gerichtshof) zu den im Beschluss-
tenor formulierten Fragen einzuholen (Art. 267 AEUV).
Die maßgeblichen Vorschriften des Unionsrechts finden sich in der Richtlinie
92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebens-
räume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (ABl EG Nr. L 206 S. 7
- FFH-RL -)
Artikel 4 Abs. 5 der FFH-RL lautet:
(5) Sobald ein Gebiet in die Liste des Absatzes 2 Unterab-
satz 3 aufgenommen ist, unterliegt es den Bestimmungen
des Artikels 6 Absätze 2, 3 und 4.
Artikel 6 der FFH-RL lautet:
(1) Für die besonderen Schutzgebiete legen die Mitglied-
staaten die nötigen Erhaltungsmaßnahmen fest, die gege-
benenfalls geeignete, eigens für die Gebiete aufgestellte
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oder in andere Entwicklungspläne integrierte Bewirtschaf-
tungspläne und geeignete Maßnahmen rechtlicher, admi-
nistrativer oder vertraglicher Art umfassen, die den ökolo-
gischen Erfordernissen der natürlichen Lebensraumtypen
nach Anhang I und der Arten nach Anhang II entsprechen,
die in diesen Gebieten vorkommen.
(2) Die Mitgliedstaaten treffen die geeigneten Maßnah-
men, um in den besonderen Schutzgebieten die Ver-
schlechterung der natürlichen Lebensräume und der Habi-
tate der Arten sowie Störungen von Arten, für die die Ge-
biete ausgewiesen worden sind, zu vermeiden, sofern sol-
che Störungen sich im Hinblick auf die Ziele dieser Richtli-
nie erheblich auswirken könnten.
(3) Pläne oder Projekte, die nicht unmittelbar mit der Ver-
waltung des Gebietes in Verbindung stehen oder hierfür
nicht notwendig sind, die ein solches Gebiet jedoch ein-
zeln oder in Zusammenwirkung mit anderen Plänen und
Projekten erheblich beeinträchtigen könnten, erfordern
eine Prüfung auf Verträglichkeit mit den für dieses Gebiet
festgelegten Erhaltungszielen. Unter Berücksichtigung der
Ergebnisse der Verträglichkeitsprüfung und vorbehaltlich
des Absatzes 4 stimmen die zuständigen einzelstaatlichen
Behörden dem Plan bzw. Projekt nur zu, wenn sie festge-
stellt haben, dass das Gebiet als solches nicht beeinträch-
tigt wird, und nachdem sie gegebenenfalls die Öffentlich-
keit angehört haben.
(4) Ist trotz negativer Ergebnisse der Verträglichkeitsprü-
fung aus zwingenden Gründen des überwiegenden öffent-
lichen Interesses einschließlich solcher sozialer oder wirt-
schaftlicher Art ein Plan oder Projekt durchzuführen und
ist eine Alternativlösung nicht vorhanden, so ergreift der
Mitgliedstaat alle notwendigen Ausgleichsmaßnahmen,
um sicherzustellen, dass die globale Kohärenz von Natura
2000 geschützt ist. Der Mitgliedstaat unterrichtet die
Kommission über die von ihm ergriffenen Ausgleichsmaß-
nahmen.
Ist das betreffende Gebiet ein Gebiet, das einen prioritä-
ren natürlichen Lebensraumtyp und/oder eine prioritäre Art
einschließt, so können nur Erwägungen im Zusammen-
hang mit der Gesundheit des Menschen und der öffentli-
chen Sicherheit oder im Zusammenhang mit maßgebli-
chen günstigen Auswirkungen für die Umwelt oder, nach
Stellungnahme der Kommission, andere zwingende Grün-
de des überwiegenden öffentlichen Interesses geltend
gemacht werden.
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Folgende nationale Vorschriften bilden den rechtlichen Rahmen dieses Rechts-
streits:
Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG)
§ 75
Rechtswirkungen der Planfeststellung
(1) Durch die Planfeststellung wird die Zulässigkeit des
Vorhabens einschließlich der notwendigen Folgemaß-
nahmen an anderen Anlagen im Hinblick auf alle von ihm
berührten öffentlichen Belange festgestellt; neben der
Planfeststellung sind andere behördliche Entscheidungen,
insbesondere öffentlich-rechtliche Genehmigungen, Ver-
leihungen, Erlaubnisse, Bewilligungen, Zustimmungen und
Planfeststellungen nicht erforderlich. Durch die Planfest-
stellung werden alle öffentlich-rechtlichen Beziehungen
zwischen dem Träger des Vorhabens und den durch den
Plan Betroffenen rechtsgestaltend geregelt.
(1a) Mängel bei der Abwägung der von dem Vorhaben be-
rührten öffentlichen und privaten Belange sind nur erheb-
lich, wenn sie offensichtlich und auf das Abwägungser-
gebnis von Einfluss gewesen sind. Erhebliche Mängel bei
der Abwägung oder eine Verletzung von Verfahrens- oder
Formvorschriften führen nur dann zur Aufhebung des
Planfeststellungsbeschlusses oder der Plangenehmigung,
wenn sie nicht durch Planergänzung oder durch ein er-
gänzendes Verfahren behoben werden können; di
und 46 bleiben unberührt.
(…)
Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO)
§ 80
(1) Widerspruch und Anfechtungsklage haben aufschie-
bende Wirkung. Das gilt auch bei rechtsgestaltenden und
feststellenden Verwaltungsakten sowie bei Verwaltungs-
akten mit Doppelwirkung (§ 80a).
(2) Die aufschiebende Wirkung entfällt nur
1. (…)
2. (…)
3. in anderen durch Bundesgesetz oder für Landesrecht
durch Landesgesetz vorgeschriebenen Fällen, insbeson-
dere für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwal-
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tungsakte, die Investitionen oder die Schaffung von
Arbeitsplätzen betreffen,
4. (…)
(…)
(5) Auf Antrag kann das Gericht der Hauptsache die auf-
schiebende Wirkung in den Fällen des Absatzes 2 Nr. 1
bis 3 ganz oder teilweise anordnen, im Falle des Absat-
zes 2 Nr. 4 ganz oder teilweise wiederherstellen. Der An-
trag ist schon vor Erhebung der Anfechtungsklage zuläs-
sig. Ist der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung
schon vollzogen, so kann das Gericht die Aufhebung der
Vollziehung anordnen. Die Wiederherstellung der auf-
schiebenden Wirkung kann von der Leistung einer Sicher-
heit oder von anderen Auflagen abhängig gemacht wer-
den. Sie kann auch befristet werden.
(…)
§ 152
(1) Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts können
(…) nicht mit der Beschwerde an das Bundesverwal-
tungsgericht angefochten werden.
(…)
Straßengesetz für den Freistaat Sachsen
(Sächsisches Straßengesetz - SächsStrG)
§ 39
Planfeststellung
(1) Staatsstraßen und Kreisstraßen dürfen nur gebaut
oder geändert werden, wenn der Plan vorher festgestellt
ist. Dasselbe gilt für Gemeindestraßen und sonstige öf-
fentliche Straßen, wenn eine Umweltverträglichkeitsprü-
fung nach Absatz 2 erforderlich ist.
(…)
(10) Die Anfechtungsklage gegen einen Planfeststellungs-
beschluss oder eine Plangenehmigung hat keine auf-
schiebende Wirkung.
- 10 -
Sächsisches Gesetz über Naturschutz und Landschafts-
pflege i.d.F. vom 11. Oktober 1994
(Sächsisches Naturschutzgesetz - SächsNatSchG)
§ 22a
(…)
(4) Ist ein Gebiet im Bundesanzeiger bekannt gemacht,
sind
1. in einem Gebiet von gemeinschaftlicher Bedeutung bis
zur Unterschutzstellung
2. …
alle Vorhaben, Maßnahmen, Veränderungen oder Störun-
gen, die zu erheblichen Beeinträchtigungen des Gebietes
in seinem für die Erhaltungsziele maßgeblichen Bestand-
teilen führen können, unzulässig. (…).
III
Die Vorlagefragen sind entscheidungserheblich und bedürfen einer Klärung
durch den Gerichtshof.
Zwar hat der Senat unabhängig von der Beantwortung der mit dem Vorlagebe-
schluss aufgeworfenen Fragen gegen die Rechtmäßigkeit des Planfeststel-
lungsbeschlusses in verschiedener Hinsicht Bedenken, die sich auf der Grund-
lage der tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts nicht aus-
räumen lassen. Wegen der Einzelheiten nimmt der Senat auf seinen Hinweis-
beschluss vom heutigen Tage Bezug. Unbeschadet dessen sind aber auch die
in den Vorlagefragen angesprochenen Punkte für die abschließende Entschei-
dung des Rechtsstreits wesentlich, wie sich aus den nachfolgenden Erwägun-
gen ergibt:
Soweit für den Beklagten günstige Feststellungen im weiteren Verlauf des ge-
richtlichen Verfahrens nicht getroffen werden können, wird jeder der Fehler zur
Feststellung der Rechtswidrigkeit und Nichtvollziehbarkeit des Planfeststel-
lungsbeschlusses führen. All diese beachtlichen Mängel des Planfeststellungs-
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beschlusses hätten aber nicht, auch nicht in ihrer Summe, die Aufhebung des
Planfeststellungsbeschlusses zur Folge; denn die Mängel könnten in einem er-
gänzenden Verfahren behoben werden (§ 75 Abs. 1a VwVfG i.V.m. § 1
SächsVwVfZG). Mit dieser Regelung will der deutsche Gesetzgeber erreichen,
dass in solchen Fällen nicht das gesamte, sehr zeitaufwändige Verwaltungsver-
fahren wiederholt werden muss; er will vielmehr der Planfeststellungsbehörde
Gelegenheit geben, die Fehler in einem auf deren Korrektur beschränkten er-
gänzenden Verfahren zu beheben (vgl. Beschluss vom 11. Juli 2013 - BVerwG
7 A 20.11 - NuR 2013, 662 Rn. 18).
Diese verfahrensrechtliche Besonderheit des nationalen Planfeststellungsrechts
hat zur Folge, dass das Bundesverwaltungsgericht die mit diesem Beschluss
dem Gerichtshof vorgelegten Fragen nicht offenlassen darf, sondern die
Rechtmäßigkeit des Planfeststellungsbeschlusses umfassend prüfen und in
seinem Urteil den Umfang der Rechtswidrigkeit genau feststellen muss. Denn
wegen der Rechtskraftwirkung des vom Bundesverwaltungsgericht zu erlas-
senden Urteils wird der Kläger gegen die behördliche Entscheidung im ergän-
zenden Verfahren nicht mehr gerichtlich geltend machen können, dass der
Planfeststellungsbeschluss über die Beanstandung des Gerichts hinaus an wei-
teren Fehlern leidet (Urteil vom 8. Januar 2014 - BVerwG 9 A 4.13 - juris
Rn. 28). Darüber hinaus hat das Bundesverwaltungsgericht im Interesse einer
umfassenden Klärung der Streitpunkte auch darzulegen, von welchen rechtli-
chen Anforderungen die Planfeststellungsbehörde bei der Behebung der fest-
gestellten Fehler in einem ergänzenden Verfahren auszugehen hat (Beschluss
vom 11. Juli 2013 a.a.O. Rn. 19).
Zu den einzelnen Vorlagefragen sind folgende Erwägungen von Bedeutung:
Zur Frage 1:
Von der Beantwortung der Frage 1 hängt ab, ob die im Rahmen des Planände-
rungsverfahrens im Jahr 2008 durchgeführte nachträgliche Verträglichkeitsprü-
fung, die die dem Planfeststellungsbeschluss vom 25. Februar 2004 zugrunde
liegende Verträglichkeitsabschätzung aus dem Jahre 2003 ergänzt hat, nach
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der Listung des Gebietes durch die Kommission europarechtlich geboten war.
Bestand hierzu europarechtlich keine Pflicht, würde sich die Verträglichkeitsab-
schätzung, die dem Planfeststellungsbeschluss 2004 zugrunde lag, als „geeig-
nete Schutzmaßnahme“ im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs erwei-
sen (vgl. EuGH, Urteile vom 13. Januar 2005 - Rs. C-117/03, Dragaggi u.a.
- Slg. 2005, I-167 Rn. 25 und 29, vom 14. September 2006 - Rs. C-244/05,
Bund Naturschutz in Bayern u.a. - Slg. 2006, I-8445 Rn. 38, 46 f., 51 und vom
24. November 2011 - Rs. C-404/09, Alto Sil - Slg. 2011, I-11853 Rn. 163). Es
käme dann nicht mehr darauf an, ob die im Planänderungsverfahren nachge-
holte Verträglichkeitsprüfung Mängel aufwies.
Nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts dürfte eine nachträgliche Prü-
fung der Verträglichkeit europarechtlich erforderlich gewesen sein. Hierfür
spricht die bisherige Rechtsprechung des Gerichtshofs.
a) Hiernach unterliegen Projekte, die genehmigt wurden, bevor das Gebiet, in
dem sie verwirklicht werden sollen, in die Liste der Gebiete von gemeinschaftli-
cher Bedeutung aufgenommen wurde, nicht den Vorgaben der Habitatrichtlinie
über eine Ex-ante-Prüfung auf ihre Auswirkungen auf das betreffende Gebiet.
Die Mitgliedstaaten dürfen allerdings in einem gemeldeten FFH-Gebiet, über
dessen Aufnahme in die Gemeinschaftsliste die Kommission noch nicht ent-
schieden hat, keine Eingriffe zulassen, die die ökologischen Merkmale des Ge-
bietes ernsthaft beeinträchtigen können, insbesondere wenn ein Eingriff die
Fläche des Gebietes wesentlich verringern oder zum Verschwinden von in die-
sem Gebiet vorkommenden prioritären Arten führen oder die Zerstörung des
Gebietes oder die Beseitigung seiner repräsentativen Merkmale zur Folge ha-
ben könnte (EuGH, Urteile vom 13. Januar 2005 a.a.O., vom 14. September
2006 a.a.O. Rn. 44, 47 und 51 und vom 14. Januar 2010 - Rs. C-226/08, Stadt
Papenburg - Slg. 2010, I-131 Rn. 49; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 12. März
2008 - BVerwG 9 A 3.06 - BVerwGE 130, 299 Rn. 33).
Dieser Forderung nach einem „angemessenen Schutz“ ist die Planfeststel-
lungsbehörde durch die im Planfeststellungsverfahren erstellte Verträglichkeits-
untersuchung gerecht geworden. Diese genügte zwar trotz ihrer Bezeichnung
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als „FFH-Verträglichkeitsuntersuchung“ nicht den Anforderungen, die nach
Art. 6 Abs. 3 und 4 FFH-RL an eine Verträglichkeitsprüfung zu stellen sind,
vielmehr handelte es sich nach eigener Einschätzung des die Untersuchung
durchführenden Umweltbüros um eine Vorprüfung bzw. Gefährdungsabschät-
zung. Auch die dieser Abschätzung zugrunde liegende 5-stufige Bewertungs-
skala, wonach ein Eingriff erst dann als erheblich angesehen wird, wenn er zum
Verlust eines merklichen Teils der Fläche eines Lebensraumes oder zu negati-
ven qualitativen und strukturellen Veränderungen führt, entspricht nicht dem
vom Bundesverwaltungsgericht aus Art. 6 Abs. 3 FFH-RL und der Rechtspre-
chung des Gerichtshofs (zuletzt Urteil vom 11. April 2013 - Rs. C-258/11 -
NVwZ-RR 2013, 505 Rn. 40 m.w.N.) abgeleiteten Prüfungsmaßstab der „erheb-
lichen Beeinträchtigung“, wonach grundsätzlich jede (dauerhafte) Beeinträchti-
gung von Erhaltungszielen, insbesondere jeder über eine Bagatellgrenze hi-
nausgehende Flächenverlust erheblich ist und als Beeinträchtigung des Gebie-
tes als solches gewertet wird (Urteile vom 17. Januar 2007 - BVerwG 9 A
20.05 - BVerwGE 128, 1 Rn. 41, 50 und vom 12. März 2008 a.a.O. Rn. 124 f.).
Die vorgenommene Untersuchung hat jedoch nach den tatsächlichen Feststel-
lungen des Oberverwaltungsgerichts im Zeitpunkt des Erlasses des Planfest-
stellungsbeschlusses den Schluss zugelassen, dass es durch das Brückenbau-
projekt nicht zu Eingriffen kommen wird, die zu einer ernsthaften Beeinträchti-
gung der ökologischen Merkmale des Gebietes als solches führen werden. Die
Flächenverluste durch unmittelbare und mittelbare Inanspruchnahmen sind da-
nach angesichts der Ausdehnung des FFH-Gebietes als sehr gering einzu-
schätzen, und das Projekt wird auch nicht zum Verschwinden dort vorkommen-
der prioritärer Arten führen und die repräsentativen Merkmale des Gebietes
nicht beseitigen.
Eine Verpflichtung zu einer tiefer gehenden Untersuchung bestand im Zeitpunkt
des Erlasses des Planfeststellungsbeschlusses vom 25. Februar 2004 auch
nach deutschem Recht nicht. Eine solche ergab sich insbesondere nicht aus
dem im Zeitpunkt des Erlasses des Planfeststellungsbeschlusses einschlägigen
Sächsischen Naturschutzgesetz, da es - wie die Beteiligten in der mündlichen
Verhandlung übereinstimmend bestätigt haben - an der dafür erforderlichen
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- 14 -
Bekanntmachung des Gebietes im Bundesanzeiger fehlte (§ 22a Abs. 4
SächsNatSchG 1994).
b) Unterlag das Projekt vor der Genehmigung nur den Anforderungen eines
abgeschwächten Überprüfungsmaßstabs, dürfte sich dies jedoch nach der Auf-
nahme des FFH-Gebietes in die Gemeinschaftsliste der Kommission geändert
haben.
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs fällt die Ausführung eines Projekts
unter Art. 6 Abs. 2 FFH-RL, sofern die nach dieser Richtlinie vorgesehene
Schutzregelung zwischenzeitlich aufgrund der Ausweisung als Gebiet von ge-
meinschaftlicher Bedeutung anwendbar geworden ist. Danach muss gewähr-
leistet sein, dass die Ausführung des Projekts keine Störung verursacht, die die
Ziele der FFH-RL erheblich beeinträchtigen kann. Der Mitgliedstaat ist verpflich-
tet, angemessene Maßnahmen zu ergreifen, um zu verhindern, dass es durch
einen Plan oder ein Projekt zu Verschlechterungen der natürlichen Lebensräu-
me sowie der Habitate der Arten, für die die Gebiete ausgewiesen worden sind,
kommt (EuGH, Urteile vom 14. Januar 2010 a.a.O. Rn. 49 und vom 24. No-
vember 2011 a.a.O. Rn. 126, 128). Als eine solche Maßnahme kommt nach der
Rechtsprechung des Gerichtshofs auch die nachträgliche Überprüfung einer
erteilten Baugenehmigung in Betracht (EuGH, Urteil vom 20. Oktober 2005
- Rs. C-6/04 - Slg. 2005, I-9017 Rn. 57 f.).
Der Gerichtshof betont in ständiger Rechtsprechung ferner, dass Art. 6 Abs. 2
und 3 der FFH-RL dasselbe Schutzniveau haben (EuGH, Urteil vom 13. De-
zember 2007 - Rs. C-418/04, Irland - Slg. 2007, I-10947 Rn. 250). Der Ge-
richtshof hält es daher in seinem Urteil vom 24. November 2011 (a.a.O.
Rn. 156 f.) auch für möglich, dass ein Mitgliedstaat in einem nachträglichen
Überprüfungsverfahren nach Art. 6 Abs. 2 FFH-RL entsprechend der in Art. 6
Abs. 4 FFH-RL vorgesehenen Ausnahmeregelung einen Grund des öffentlichen
Interesses geltend macht.
Nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts spricht vor dem Hintergrund
dieser Rechtsprechung vieles dafür, dass die Planfeststellungsbehörde ver-
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pflichtet war, den Planfeststellungsbeschluss vom 25. Februar 2004 nach der
Listung des Gebietes im Dezember 2004 (erneut) auf seine Verträglichkeit mit
den Erhaltungszielen des Gebietes zu überprüfen oder andere angemessene
Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass es durch den Bau und die
Verkehrsfreigabe des Brückenbauwerks nicht zu Verschlechterungen der natür-
lichen Lebensräume und der Habitate der Arten sowie erheblichen Störungen
der Arten, für die das Gebiet ausgewiesen worden ist, kommt. Gleichwohl lässt
sich diese Frage nicht ohne Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen
Union mit der gebotenen Eindeutigkeit beantworten. So bedarf es der Klärung,
ob unter den Begriff der „Ausführung“ bzw. „Durchführung“ eines Projekts auch
die Neuerrichtung eines Bauwerks fällt, das im Zeitpunkt seiner Zulassung einer
den europarechtlichen Anforderungen genügenden Verträglichkeitsabschätzung
unterzogen worden war. Den Entscheidungen vom 14. Januar 2010 und
24. November 2011 (Papenburg und Alto Sil) lässt sich nicht entnehmen, ob in
diesen Fällen von den nationalen Behörden vor der Zulassung der Projekte Ver-
träglichkeitsabschätzungen, die den Anforderungen der Rechtsprechung des
Gerichtshofs genügten, durchgeführt worden sind; zudem unterscheiden sich
die Fälle dadurch, dass in den beiden entschiedenen Fällen mit der Ausführung
bereits im Zeitpunkt der Unterschutzstellung des Gebietes begonnen worden
war, während hier die Unterschutzstellung vor Beginn der Bauarbeiten Ende
2007 erfolgt ist.
Zur Frage 2:
Falls die Frage zu 1 dahin zu beantworten ist, dass vorliegend eine nachträgli-
che Überprüfung vorzunehmen war, stellt sich die weitere Frage, ob die vor Er-
lass des Ergänzungs- und Änderungsbeschlusses vom 14. Oktober 2008
durchgeführte nachträgliche Überprüfung des Ausgangsplanfeststellungsbe-
schlusses den an sie zu stellenden unionsrechtlichen Anforderungen genügte.
In diesem Zusammenhang ist zunächst klärungsbedürftig, ob die Überprüfung
der hier erteilten Genehmigung deswegen ausschließlich anhand der Vorgaben
des Art. 6 Abs. 3 und 4 FFH-RL erfolgen musste, weil der Vorhabenträger und
die Planfeststellungsbehörde diesen strengeren Maßstab bereits vor der Auf-
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nahme des Gebietes in die Gemeinschaftsliste der Kommission haben anlegen
wollen, wenngleich sie ihn teilweise verfehlt haben.
Die Planfeststellungsbehörde ist im Beschluss vom 25. Februar 2004 davon
ausgegangen, dass für die in der 2. Meldetranche des Freistaates Sachsen an
das für den Naturschutz zuständige Bundesministerium zur Weiterleitung an die
EU-Kommission enthaltenen und von dem Brückenbauprojekt betroffenen Ge-
biete die gleichen Schutzvorschriften wie für die von der Kommission festge-
stellten Gebiete gelten, obwohl eine Festlegung der Kommission, ob diese Ge-
biete in die Gemeinschaftsliste aufzunehmen sind, zum Zeitpunkt der Verträg-
lichkeitsuntersuchung und Planfeststellung noch nicht getroffen worden war.
Der Beschluss kommt zu dem Ergebnis, dass aufgrund der vom Vorhabenträ-
ger durchgeführten Verträglichkeitsuntersuchung 2003, die am Maßstab des
Art. 6 Abs. 3 und 4 FFH-RL ausgerichtet sein sollte, keine erheblichen Beein-
trächtigungen durch das Projekt, auch nicht im Zusammenwirken mit anderen
Projekten, zu erwarten seien. Im gerichtlichen Verfahren hat das Oberverwal-
tungsgericht die Planfeststellungsbehörde hieran festgehalten. Nach Auffas-
sung des Oberverwaltungsgerichts ist es, nachdem einmal der für Gebiete von
gemeinschaftlicher Bedeutung geltende Maßstab herangezogen worden ist,
nicht mehr möglich, zu dem abgeschwächten Maßstab zurückzukehren. Entwe-
der wende der Planungsträger zwischen der Meldung und der Listung des Ge-
bietes Art. 6 Abs. 3 und 4 FFH-RL an oder er lege von vornherein den abge-
schwächten Maßstab zugrunde, wie ihn der Gerichtshof in den Entscheidungen
Dragaggi (Urteil vom 13. Januar 2005 a.a.O.) und Bund Naturschutz in Bayern
(Urteil vom 14. September 2006 a.a.O.) entwickelt habe. Das Oberverwaltungs-
gericht prüft daher sowohl den Planfeststellungsbeschluss vom 25. Februar
2004 als auch den Ergänzungs- und Änderungsbeschluss vom 14. Oktober
2008 am Maßstab des Art. 6 Abs. 3 und 4 FFH-RL.
Nach Auffassung des erkennenden Senats ist dem nicht zu folgen. Weder dem
nationalen Recht noch dem Unionsrecht lassen sich Gründe entnehmen, die die
Behörde und das die Entscheidungen überprüfende Gericht berechtigten könn-
ten, vom Träger des Vorhabens die Einhaltung eines gesetzlich nicht geforder-
ten Schutzmaßstabs zu fordern. Dass nach der Rechtsprechung des Bundes-
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verwaltungsgerichts bei einem Infrastrukturvorhaben in einem gemeldeten, aber
noch nicht von der Kommission gelisteten Gebiet die Anlegung der materiell-
rechtlichen Maßstäbe des Art. 6 Abs. 3 und 4 FFH-RL zulässig ist und in aller
Regel einen „angemessenen“ Schutz im Sinne der Rechtsprechung des Ge-
richtshofs in den Verfahren Dragaggi und Bund Naturschutz in Bayern darstellt,
(Beschluss vom 21. Januar 2006 - BVerwG 4 B 49.05 - Buchholz 451.91
Europ.UmweltR Nr. 21 Rn. 3, 5), erlaubt eine solche Schlussfolgerung nicht.
Zwar mag es aus praktischen Gründen sinnvoll sein, wenn der Vorhabenträger
- wie auch hier - bereits vor der Listung des Gebietes eine umfassende, den
Anforderungen des Art. 6 Abs. 3 und 4 FFH-RL gerecht werdende Verträglich-
keitsprüfung durchführt. Daran, dass eine solche Untersuchung vom Unions-
recht nicht gefordert wird, ändert dies aber nichts. Eine Befugnis zur autonomen
Bestimmung des Schutzmaßstabs über das unionsrechtlich Gebotene hinaus
kann auch nicht aus dem Fehlen nationaler Regelungen abgeleitet werden.
Fehlt es an einer Umsetzung unionsrechtlicher Vorgaben in das nationale
Recht, kann daraus die Pflicht folgen, das Unionsrecht unmittelbar anzuwen-
den, es ergibt sich daraus jedoch keine Ermächtigung, ohne eine gesetzliche
Grundlage die unionsrechtlichen Vorgaben zu Lasten des Trägers des Vorha-
bens zu verschärfen.
Auch aus der Entscheidung des Gerichtshofs vom 28. Februar 1991
- Rs. C-57/89, Leybucht - (Slg. 1991, I-883 Rn. 20) dürfte sich entgegen der
Auffassung des Klägers nichts anderes ergeben. Die dieser Entscheidung zu-
grunde liegende Überlegung des Gerichtshofs, dass einem Mitgliedstaat der bei
der Auswahl eines Schutzgebietes zukommende Beurteilungsspielraum nicht
zustehe, wenn er derartige Gebiete flächenmäßig ändern oder verkleinern wol-
le, lässt sich auf die vorliegende Fallgestaltung nicht übertragen. Dies folgt
schon daraus, dass die Mitgliedstaaten von dem ihnen bei der Auswahl der ge-
eignetsten Gebiete zugestandenen Beurteilungsspielraum lediglich im Rahmen
eines umfänglichen, ausschließlich an naturschutzfachlichen Gesichtspunkten
orientierten Auswahlprozesses unter Beteiligung der Fachbehörden und der
anerkannten Naturschutzverbände sowie der Kommission Gebrauch machen
können, weshalb nach der Entscheidung der EU-Kommission über die Gebiets-
listung eine tatsächliche Vermutung für die Richtigkeit der Gebietsabgrenzung
32
- 18 -
spricht (vgl. Beschluss vom 13. März 2008 - BVerwG 9 VR 9.07 - Buchholz
451.91 Europ.UmweltR Nr. 33 Rn. 15 ff. und zur Abgrenzung von FFH-Ge-
bieten Urteil vom 6. November 2012 - BVerwG 9 A 17.11 - BVerwGE 145, 40
= Buchholz 451.91 Europ.UmweltR Nr. 52, jeweils Rn. 22). Eine vergleichbare
verfahrensrechtliche und inhaltliche Absicherung ist bei der Entscheidung darü-
ber, was einen „angemessenen Schutz“ im Sinne der Rechtsprechung des Ge-
richtshofs darstellt, nicht gegeben. Hinzu kommt, dass es in der Leybucht-
Entscheidung - anders als hier - nicht um die Anwendung eines rechtlich nicht
gebotenen, überobligatorische Anforderungen stellenden Maßstabs für die Ge-
bietsauswahl ging, sondern um die flächenmäßige Reduzierung eines Gebietes,
das zuvor auch in seiner räumlichen Ausdehnung als eines der geeignetsten
Gebiete identifiziert worden war.
Zur Frage 3:
Wenn die Frage zu 1 zu bejahen und die Frage zu 2 zu verneinen ist, stellt sich
die Frage, welche Anforderungen das Unionsrecht in einer Konstellation wie der
hier vorliegenden an die Überprüfung einer für ein Projekt erteilten Genehmi-
gung im Einzelnen stellt. Auch diese Frage ist in der Rechtsprechung des Ge-
richtshofs noch nicht ausreichend geklärt.
a) Der Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 24. November 2011 (- Rs.
C-404/09, Alto Sil - Slg. 2011, I-11853 Rn. 126) und im Urteil vom 14. Januar
2010 (- Rs. C-226/08, Stadt Papenburg - Slg. 2010, I-131 Rn. 49) zwar klarge-
stellt, dass ein Projekt nur dann im Einklang mit Art. 6 Abs. 2 FFH-RL steht,
wenn gewährleistet ist, dass es keine Verschlechterungen oder Störungen ver-
ursacht, die die Ziele dieser Richtlinie, insbesondere deren Erhaltungsziele, er-
heblich beeinträchtigen können. Damit greift er auf Formulierungen des Art. 6
Abs. 3 Satz 1 FFH-RL zurück. Gleichzeitig hat er jedoch in diesen Entscheidun-
gen die Unterscheidung zwischen den Vorgaben einer Ex-ante-Prüfung nach
Art. 6 Abs. 3 FFH-RL und den Maßnahmen, die auf der Grundlage des Art. 6
Abs. 2 FFH-RL nach der Listung eines Gebietes zu ergreifen sind, bekräftigt.
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- 19 -
In der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist damit bisher nicht ausreichend ge-
klärt, welche materiellrechtlichen und verfahrensrechtlichen Anforderungen bei
einem Vorgehen nach Art. 6 Abs. 2 FFH-RL gelten. Nach Auffassung des er-
kennenden Senats legen die zitierten Passagen der Urteile des Gerichtshofs
sowie die vom Gerichtshof immer wieder betonte Vergleichbarkeit des Schutz-
niveaus von Art. 6 Abs. 2 und Abs. 3 FFH-RL zwar nahe, dass es keinen Unter-
schied in den materiellen Anforderungen des Schutzniveaus geben kann. Aller-
dings widerspräche es der Aussage des Gerichtshofs, dass die Vorgaben der
FFH-RL für eine Ex-ante-Prüfung hinsichtlich eines vor der Unterschutzstellung
genehmigten Projekts nicht gelten, wenn gleichzeitig im Rahmen des Art. 6
Abs. 2 FFH-RL die Bewältigung der vollen materiellen und verfahrensmäßigen
Anforderungen des Art. 6 Abs. 3 FFH-RL verlangt würde, sich die Behörde also
aufgrund einer lückenlosen, vollständigen, präzisen und jeden wissenschaftli-
chen Zweifel ausräumenden Prüfung Gewissheit verschaffen müsste, dass von
dem bereits genehmigten Projekt keine nachteiligen Wirkungen ausgehen wer-
den. Denn bei einem solchen Verständnis der nach Art. 6 Abs. 2 FFH-RL zu
ergreifenden „angemessenen Maßnahmen“, bestünde in Wirklichkeit kein
Unterschied, ob die Genehmigung erteilt wurde, bevor die Anforderungen der
Habitatrichtlinie Geltung erlangt haben oder danach. Es bedarf daher der nähe-
ren Klärung durch den Gerichtshof, welche Anforderungen an das nachträgliche
Prüfprogramm im Rahmen des Art. 6 Abs. 2 FFH-RL zu stellen sind.
b) Klärungsbedürftig ist in diesem Zusammenhang auch, auf welchen Zeitpunkt
bei der nachträglichen Prüfung abzustellen ist:
Der Beklagte hat der in seinem Ergänzungs- und Änderungsbeschluss vom
14. Oktober 2008 vorgenommenen Verträglichkeitsuntersuchung ausdrücklich
die „tatsächlichen und rechtlichen Bedingungen zum Zeitpunkt des Erlasses
des Planfeststellungsbeschlusses (2/2004) zugrunde gelegt“ (Beschluss vom
14. Oktober 2008 S. 4). Die aktuellen Beeinträchtigungen der Erhaltungsziele
hat der Beschluss lediglich in Rahmen von Kontrollüberlegungen in die Prüfung
einbezogen. Dies begegnet nach Auffassung des Senats Bedenken.
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- 20 -
Das Bundesverwaltungsgericht hat sich mit der Frage, welcher Zeitpunkt für
eine nachträgliche Verträglichkeitsprüfung (nach Art. 6 Abs. 3 FFH-RL) zugrun-
de zu legen ist, für den Fall einer Fehlerheilung in einem ergänzenden Verfah-
ren beschäftigt. Danach hängt der Zeitpunkt maßgeblich von der Zielrichtung
des ergänzenden Verfahrens ab. Beschränkt es sich darauf, einen punktuellen
Fehler der früheren Entscheidung zu heilen, so bleibt der Zeitpunkt des (ersten)
Planfeststellungsbeschlusses maßgeblich. Abweichendes gilt dagegen, wenn
die Planfeststellungsbehörde ihre Entscheidung im ergänzenden Verfahren auf
veränderte tatsächliche oder rechtliche Verhältnisse stützt und auf der Grundla-
ge einer Aktualisierung der Beurteilungsgrundlagen eine Neubewertung der
Verträglichkeitsuntersuchung vornimmt. Dann ist der Zeitpunkt der Aktualisie-
rung maßgeblich (Urteile vom 12. März 2008 - BVerwG 9 A 3.06 - BVerwGE
130, 299 Rn. 31, 131 = Buchholz 451.91 Europ.UmweltR Nr. 30
BVerwGE nicht vollständig abgedruckt> und vom 14. April 2010 - BVerwG 9 A
5.08 - BVerwGE 136, 291 Rn. 29). Nach diesen Grundsätzen hätte im vorlie-
genden Fall nicht - wie im Ergänzungs- und Änderungsbeschluss geschehen -
auf den Zeitpunkt der ursprünglichen Genehmigung, also 2004, sondern grund-
sätzlich auf den der nachgeholten Verträglichkeitsprüfung abgestellt werden
müssen. Mit der dem Ergänzungs- und Änderungsbeschluss vom 14. Oktober
2008 zugrunde liegenden Verträglichkeitsuntersuchung ist nämlich nicht nur
eine punktuelle Fehlerkorrektur einer im Übrigen nicht zu beanstandenden
Untersuchung erfolgt, sondern gestützt auf zusätzlich eingeholte Untersuchun-
gen eine vertiefte, wenn auch thematisch eingeschränkte Neubewertung der
durch das Projekt hervorgerufenen Beeinträchtigungen des FFH-Gebietes vor-
genommen worden.
Nach Auffassung des Senats dürfte aus unionsrechtlicher Sicht nichts anderes
gelten. Das nach Art. 6 Abs. 2 FFH-RL durchzuführende Überprüfungsverfah-
ren dient gerade dazu, sicherzustellen, dass durch die Ausführung des in der
Vergangenheit genehmigten und keiner (vollen) Verträglichkeitsprüfung unter-
zogenen Projekts keine erheblichen Beeinträchtigungen in dem Gebiet von ge-
meinschaftlicher Bedeutung hervorgerufen werden. Dieses Ziel würde nur un-
vollkommen erreicht, wenn nicht der aktuelle, unter Umständen durch die teil-
weise oder vollständige Verwirklichung des Projekts veränderte Erhaltungszu-
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- 21 -
stand der geschützten Lebensräume und Arten der Überprüfung zugrunde ge-
legt würde, sondern der Zustand im unter Umständen mehrere Jahre zurücklie-
genden Genehmigungszeitpunkt. Auch der unionsrechtliche Effektivitätsgrund-
satz spricht daher für eine Überprüfung aufgrund der aktuellsten Erkenntnisse.
Dass der Umstand, dass ein Projekt vor der Gebietsausweisung endgültig ge-
nehmigt wurde, nicht daran hindert, es einer Überprüfung bezogen auf den ak-
tuellen Zeitpunkt zu unterziehen, folgt aus dem Papenburg-Urteil des Gerichts-
hofs vom 14. Januar 2010 (a.a.O. Rn. 41 ff.).
Zur Frage 4:
Die Frage 4 stellt sich, falls die nachträgliche Überprüfung des Planfeststel-
lungsbeschlusses durch den Ergänzungs- und Änderungsbeschluss vom
14. Oktober 2008 nicht den an sie zu stellenden unionsrechtlichen Vorgaben
(Fragen 2 und 3) entspricht. Der Planfeststellungsbeschluss würde dann auch
insoweit an einem rechtlich beachtlichen Mangel leiden. Dieser Fehler könnte
aber - wie die anderen vom Senat festgestellten Fehler - in einem auf die Feh-
lerkorrektur beschränkten ergänzenden Verfahren behoben werden (vgl. Be-
schluss vom 11. Juli 2013 - BVerwG 7 A 20.11 - NuR 2013, 662 Rn. 18). Das-
selbe gilt mit Blick auf Fehler des nach Art. 6 Abs. 3, 4 FFH-RL zu beurteilen-
den Änderungsplanfeststellungsbeschlusses vom 17. September 2010.
Im Interesse einer umfassenden Klärung der Streitpunkte ist es für das Bun-
desverwaltungsgericht daher geboten, in seiner Entscheidung auch darzulegen,
von welchen rechtlichen Anforderungen die Planfeststellungsbehörde bei der
Behebung dieses Fehlers in einem ergänzenden Verfahren auszugehen hat.
a) Wie bereits oben ausgeführt, ist nach Auffassung des Senats bei der in Rede
stehenden umfassenden nachträglichen habitatrechtlichen Überprüfung der
Verträglichkeit eines Projekts der Zeitpunkt der Aktualisierung maßgeblich; ab-
zustellen wäre dann auf die bei Durchführung des ergänzenden Verfahrens be-
stehende Sach- und Rechtslage. Es fragt sich allerdings, ob diese Grundsätze
auch dann für das ergänzende Verfahren Anwendung finden, wenn das Bau-
werk in diesem Zeitpunkt aufgrund der gesetzlich angeordneten sofortigen Voll-
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ziehbarkeit des Planfeststellungsbeschlusses und nach Durchführung eines
vorläufigen Rechtsschutzverfahrens begonnen wurde bzw. - wie hier - bereits
vollständig errichtet und in Betrieb genommen worden ist.
Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, also auch
gegen einen Planfeststellungsbeschluss, haben nach § 80 Abs. 1 VwGO re-
gelmäßig aufschiebende Wirkung. Der Suspensiveffekt gilt als fundamentaler
Grundsatz des öffentlich-rechtlichen Prozesses, der den Betroffenen davor be-
wahren soll, dass die Verwaltung vor Unanfechtbarkeit eines belastenden Ver-
waltungsakts vollendete Tatsachen schafft. Die gesetzlich angeordnete auf-
schiebende Wirkung ist damit adäquate Ausprägung der Rechtsschutzgarantie
des Art. 19 Abs. 4 GG (BVerfG, Beschluss vom 14. Mai 1985 - 1 BvR 233,
341/81 - BVerfGE 69, 315 <372> m.w.N.). Die aufschiebende Wirkung eines
Widerspruchs und einer Anfechtungsklage ist aber verfassungsrechtlich nicht
schlechthin gefordert. Überwiegende öffentliche Belange können es rechtferti-
gen, den Rechtsschutz des Einzelnen einstweilen zurückzustellen. Die sofortige
Vollziehbarkeit kann im Einzelfall oder durch den Gesetzgeber für einen be-
stimmten Bereich wegen dessen Sachbesonderheiten generell angeordnet
werden (BVerfG, Beschlüsse vom 2. Mai 1984 - 2 BvR 1413/83 - BVerfGE 67,
43 <58 f.> und vom 15. Juni 1989 - 2 BvL 4/87 - BVerfGE 80, 244 <252>;
Sodan/Ziekow, VwGO, 4. Aufl. 2014, § 80 Rn. 9). Es muss in diesem Fall aber
sichergestellt sein, dass dem Betroffenen umgehend eine wirksame Kontrolle in
tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht durch ein mit entsprechender Entschei-
dungsmacht ausgestattetes Gericht offen steht. Diesem Rechtsschutz kommt
insbesondere die Aufgabe zu, nicht wieder gutzumachende Folgen, wie sie
durch die sofortige Vollziehung einer hoheitlichen Maßnahme eintreten können,
so weit wie möglich auszuschließen (BVerfG, Beschlüsse vom 2. Mai 1984
a.a.O. und vom 8. Juli 1982 - 2 BvR 1187/80 - BVerfGE 61, 82 <111>). Diese
von der Verfassung geforderte Sicherstellung wird insbesondere durch § 80
Abs. 5 VwGO bewirkt. Danach kann auf Antrag das Gericht der Hauptsache die
aufschiebende Wirkung einer Klage ganz oder teilweise anordnen bzw. wieder-
herstellen.
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- 23 -
Der sächsische Gesetzgeber hat in § 39 Abs. 10 des Sächsischen Straßenge-
setzes - eine vergleichbare Bestimmung findet sich für den Bau von Bundes-
fernstraßen im vordringlichen Bedarf in § 17e Abs. 2 FStrG - die sofortige Voll-
ziehbarkeit für planfestgestellte Straßenbauvorhaben angeordnet. Danach war
es dem Vorhabenträger möglich, trotz der vom Kläger erhobenen Klage mit der
Ausführung des Planfeststellungsbeschlusses zu beginnen. Vor Baubeginn im
Jahr 2007 hat auf Antrag des Klägers eine gerichtliche Kontrolle des Planfest-
stellungsbeschlusses im Rahmen eines vorläufigen Rechtsschutzverfahrens
nach § 80 Abs. 5 VwGO stattgefunden. Eine weitere gerichtliche Prüfung
- ebenfalls nach § 80 Abs. 5 VwGO - ist auf Antrag des Klägers vom Oberver-
waltungsgericht vorgenommen worden, nachdem sich die Notwendigkeit einer
Planänderung herausgestellt und der Vorhabenträger hierauf mit dem Ände-
rungsplanfeststellungsbeschluss vom 17. September 2010 reagiert hatte.
Gegen die den vorläufigen Rechtsschutz ablehnenden Beschlüsse des Ober-
verwaltungsgerichts war jeweils kein weiteres Rechtsmittel mehr gegeben
(§ 152 Abs. 1 VwGO).
Dass das Bauvorhaben vor seiner Errichtung einer zweimaligen gerichtlichen
Prüfung in einem vorläufigen Rechtsschutzverfahren auf seine Rechtmäßigkeit
unterzogen worden ist, kann nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts
auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass es sich jeweils um Prüfungen
in vorläufigen Verfahren handelte, bei der Frage, auf welchen Zeitpunkt für eine
nachträgliche Überprüfung nach Art. 6 Abs. 2 FFH-RL oder eine Verträglich-
keitsprüfung nach Art. 6 Abs. 3 FFH-RL abzustellen ist, nicht ohne Auswirkun-
gen bleiben. Zwar wird man auch im Falle der gesetzlich angeordneten soforti-
gen Vollziehbarkeit im Grundsatz die Zustände vor der Bauausführung als
maßgeblich ansehen müssen. Anderenfalls würde die Prüfung zu einem Teil
leer laufen, da mit der Bauausführung regelmäßig nicht mehr rückgängig zu
machende Eingriffe in die geschützten Lebensräume verbunden sein werden.
So liegt es auch hier. Durch die Errichtung der Brücke ist es zu vorübergehen-
den und dauerhaften Verlusten von Flächen des LRT 6510 und des LRT 3270
gekommen. Andererseits kann es auch dann, wenn die klagende Naturschutz-
vereinigung - wie hier - alles ihr Mögliche getan hat, um vorläufigen Rechts-
schutz zu erlangen, im Ergebnis wohl nicht zu Lasten des sich rechtmäßig ver-
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- 24 -
haltenden Vorhabenträgers gehen, wenn im gerichtlichen Hauptsacheverfahren
und im sich anschließenden ergänzenden behördlichen Verfahren auch bei
Ausschöpfung aller Erkenntnisquellen keine hinreichende Gewissheit über den
Ex-ante-Zustand der betroffenen Habitate, Lebensräume und Arten erzielt wer-
den kann. Die Lösung könnte darin bestehen, die nachträgliche Prüfung auf die
aus der Zeit vor Baubeginn vorhandenen Unterlagen und Untersuchungen zu
beschränken und diese einer Neubewertung zu unterziehen und gegebenen-
falls - soweit dies noch sinnvoll erscheint - durch Untersuchungen des gegen-
wärtigen Zustandes zu ergänzen. Sollten danach immer noch Erkenntnislücken
bestehen, dürften diese nicht zu Lasten des Vorhabens gewertet werden kön-
nen.
Europarecht dürfte der hier vertretenen Sichtweise nicht entgegenstehen. Der
Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 6 Abs. 2 FFH-RL lässt sich allerdings
nicht entnehmen, auf welchen Zeitpunkt in den Fällen einer Prüfung nach Er-
richtung eines Bauwerks in einem Schutzgebiet abzustellen ist. In die hier ver-
tretene Richtung weist allerdings das Eigenverwaltungsrecht der Union: Dieses
kennt keinen dem deutschen Recht vergleichbaren Schutz der Betroffenen vor
einer Vollziehung eines belastenden Verwaltungsakts vor Unanfechtbarkeit. Die
im EU-Rechtsschutzsystem vorgesehenen Klagen und Rechtsmittel gegen
Rechtsakte der Union entfalten generell keine aufschiebende Wirkung (Art. 278
Satz 1 AEUV, Art. 60 Abs. 1 Satzung des Gerichtshofs). Der Betroffene bleibt
daher auch nach Klageerhebung verpflichtet, die sich aus dem angefochtenen
Unionsakt ergebenden Gebote und Verbote zu befolgen. Zur Vermeidung nicht
wieder ausgleichbarer Schäden stellt das Unionsrecht allerdings in Parallele zu
den deutschen Regelungen Rechtsbehelfe des einstweiligen Rechtsschutzes
zur Verfügung (Art. 278 Satz 2, Art. 279 AEUV; vgl. Pechstein, EU-Prozess-
recht, 4. Aufl. 2011 Rn. 908, 910 ff.). Auch nach den unionsrechtlichen Bestim-
mungen kann sich also die Situation ergeben, dass nach einer eine einstweilige
Anordnung ablehnenden Entscheidung im Eilverfahren vollendete Tatsachen
geschaffen werden, die bei einem Erfolg in der Hauptsache nicht mehr vollstän-
dig rückgängig gemacht werden können.
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Dass die aufgrund einer vollziehbaren Genehmigung durchgeführten Bauarbei-
ten (auch im Rahmen einer nachträglich durchzuführenden FFH-Verträglich-
keitsprüfung) zu berücksichtigen sind, wird nach Auffassung des Bundesverwal-
tungsgerichts besonders deutlich im Fall einer im Rahmen einer nachträglichen
Abweichungsprüfung nach Art. 6 Abs. 4 FFH-RL anzustellenden Alternativen-
prüfung. Hierauf zielt die letzte Frage. Würde bei einer nachträglichen Alternati-
venprüfung nicht berücksichtigt werden können, dass das Brückenbauwerk im
FFH-Gebiet inzwischen zulässigerweise errichtet wurde, würde nicht nur die
sofortige Vollziehbarkeit des Planfeststellungsbeschlusses zu einem vom Ge-
setzgeber ersichtlich nicht beabsichtigten unkalkulierbaren Risiko für das Pro-
jekt und den Vorhabenträger, sondern auch die wirtschaftlichen und ökologi-
schen Folgen, die mit der nachträglichen Verwirklichung einer Alternative ver-
bunden wären, fänden keine vollständige Berücksichtigung. Nach Auffassung
des Bundesverwaltungsgerichts ist es daher notwendig, in die Alternativenprü-
fung auch die Kosten und die ökologischen Auswirkungen - insbesondere auf
die nach der FFH-RL geschützten Lebensräume und Arten - sowie die wirt-
schaftlichen Folgen einzubeziehen, die mit einem Rückbau des zulässigerweise
errichteten Bauwerks verbunden sind.
Dr. Bier
Buchberger
Dr. Christ
Prof. Dr. Korbmacher
Dr. Bick
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Sachgebiet:
BVerwGE:
nein
Straßenplanungsrecht
Fachpresse:
ja
Naturschutzrecht
Rechtsquellen:
AEUV
Art. 267
FFH-RL
Art. 6
VwVfG
§ 75 Abs. 1a
VwGO
§ 80 Abs. 5
SächsStrG § 39 Abs. 10
Stichworte:
Naturschutzvereinigung; Planfeststellung; Planfeststellungsbeschluss; sofortige
Vollziehbarkeit; FFH-Gebiet; Verträglichkeitsprüfung; Vorprüfung; Gefähr-
dungsabschätzung; nachträgliche Überprüfung; maßgeblicher Zeitpunkt; ergän-
zendes Verfahren; Fehlerheilung; Vorhaben; Projekt; Alternativenprüfung.
Leitsatz:
Es wird gemäß Art. 267 AEUV eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der
Europäischen Union zu folgenden Fragen eingeholt:
1. Ist Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur
Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und
Pflanzen (FFH-RL) dahin auszulegen, dass ein vor der Aufnahme eines Gebie-
tes in die Liste der Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung genehmigtes,
nicht unmittelbar der Verwaltung des Gebietes dienendes Brückenbauprojekt
vor seiner Ausführung einer Überprüfung auf seine Verträglichkeit zu unterzie-
hen ist, wenn das Gebiet nach Erteilung der Genehmigung, aber vor Beginn der
Ausführung in die Liste aufgenommen worden ist und vor Erteilung der Geneh-
migung nur eine Gefährdungsabschätzung/Vorprüfung erfolgt war?
2. Wenn die Frage zu 1 zu bejahen ist:
Muss die nationale Behörde bei der nachträglichen Überprüfung die Vorgaben
des Art. 6 Abs. 3 und 4 FFH-RL schon dann einhalten, wenn sie diese bei der
der Erteilung der Genehmigung vorangegangenen Gefährdungsabschät-
zung/Vorprüfung vorsorglich zugrunde legen wollte?
3. Wenn die Frage zu 1 zu bejahen und die Frage zu 2 zu verneinen ist:
Welche Anforderungen sind nach Art. 6 Abs. 2 FFH-RL an eine nachträgliche
Überprüfung einer für ein Projekt erteilten Genehmigung zu stellen und auf wel-
chen Zeitpunkt ist die Prüfung zu beziehen?
4. Ist im Rahmen eines ergänzenden Verfahrens, das der Heilung eines festge-
stellten Fehlers einer nachträglichen Überprüfung nach Art. 6 Abs. 2 FFH-RL
oder einer Verträglichkeitsprüfung nach Art. 6 Abs. 3 FFH-RL dient, durch ent-
sprechende Modifikationen der Prüfungsanforderungen zu berücksichtigen,
dass das Bauwerk errichtet und in Betrieb genommen werden durfte, weil der
Planfeststellungsbeschluss sofort vollziehbar und ein Verfahren des vorläufigen
Rechtsschutzes unanfechtbar erfolglos geblieben war? Gilt dies jedenfalls für
eine nachträglich notwendige Alternativenprüfung im Rahmen einer Entschei-
dung nach Art. 6 Abs. 4 FFH-RL?
Beschluss des 9. Senats vom 6. März 2014 - BVerwG 9 C 6.12
I. VG Dresden vom 30.10.2008 - Az.: VG 3 K 923/04 -
II. OVG Bautzen vom 15.12.2011 - Az.: OVG 5 A 195/09 -