Urteil des BVerwG vom 21.01.2015

Gemeinde, Grundstück, Beitragspflicht, Vertragsschluss

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 9 C 3.14
VG 6 K 2458/12
Verkündet
am 21. Januar 2015
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 21. Januar 2015
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Bier,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Buchberger,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Korbmacher,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Bick
und den Richter am Bundesverwaltungsgericht Steinkühler
für Recht erkannt:
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Verwal-
tungsgerichts Arnsberg vom 28. November 2013 wird zu-
rückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
G r ü n d e :
I
Der Kläger wendet sich gegen die Heranziehung zu Erschließungsbeiträgen.
Er ist gemeinsam mit seiner Ehefrau zu je ½ Eigentümer des Grundstücks Ge-
markung M., Flur …, Flurstücke 164…, 165…, 165… und 165…, welches an
die M.straße angrenzt. Diese besteht aus einem Hauptzug sowie einer hiervon
abgehenden Stichstraße. In den Jahren 1970/71 wurde sie als Baustraße ange-
legt. Die M.straße und das Grundstück des Klägers liegen im Geltungsbereich
des Bebauungsplans Nr. 19 aus dem Jahr 1969. Im Zuge eines vom Rechts-
vorgänger des Klägers eingeleiteten Baugenehmigungsverfahrens zur Errich-
tung eines Wohngebäudes übersandte die Beklagte diesem den Entwurf eines
Ablösungsvertrags mit dem Hinweis, er werde im Falle des Vertragsabschlus-
ses nach der endgültigen Herstellung der Straße nicht zu einem weiteren Er-
schließungsbeitrag oder zur Nachzahlung etwaiger Mehrkosten herangezogen.
Die Vertragsparteien unterzeichneten den Vertrag unter dem 24. Juni 1971.
Darin verpflichtete sich der Rechtsvorgänger des Klägers, die auf das Grund-
stück anfallenden anteiligen Kosten des Ausbaus der Erschließungsanlagen als
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Vorausleistung auf den später entstehenden Erschließungsbeitrag zu zahlen.
Die Höhe der Vorausleistung sollte die Beklagte nach Vorliegen der Beitrags-
sätze für das Abrechnungsgebiet der M.straße errechnen. Darüber hinaus ent-
hielt der Vertrag die Vereinbarung, die Vorausleistung solle gemäß § 133 Abs. 3
Satz 2 BBauG den für das Grundstück nach der Herstellung der Erschließungs-
anlagen zu zahlenden Erschließungsbeitrag endgültig tilgen. Ein Anspruch des
Rechtsvorgängers des Klägers, den Ausbau der Erschließungsanlage zu einem
bestimmten Zeitpunkt zu verlangen, wurde ausdrücklich ausgeschlossen. Unter
Zugrundelegung des in der damaligen Erschließungsbeitragssatzung festgeleg-
ten Einheitssatzes sowie unter Berücksichtigung weiterer Kosten veranschlagte
die Beklagte den beitrags- und umlagefähigen Gesamtaufwand auf 261 272,47
DM und verteilte diesen auf die zu erschließenden Grundstücke anhand deren
Flächen und Frontlängen. Den danach auf den Rechtsvorgänger des Klägers
entfallenden Betrag i.H.v. 4 143,85 DM zahlte dieser nachfolgend.
Die M.straße wurde im Jahr 2007 endgültig hergestellt und im Februar 2012
dem öffentlichen Verkehr gewidmet. Den umlegungsfähigen Erschließungsauf-
wand ermittelte die Beklagte mit 277 939,35 € (Hauptzug) und 129 232,80 €
(Stichstraße). Nach Anhörung des Klägers begründete die Beklagte die beab-
sichtigte Nacherhebung von Erschließungsbeiträgen mit dem Überschreiten der
sogenannten Missbilligungsgrenze, da der auf das Grundstück des Klägers ent-
fallende Erschließungsbeitrag den von seinem Rechtsvorgänger gezahlten Ab-
lösungsbetrag um mehr als das Doppelte übersteige. Mit Bescheiden vom
23. August 2012 zog die Beklagte den Kläger als Gesamtschuldner für beide
Miteigentumsanteile zu einem Erschließungsbeitrag i.H.v. jeweils 4 272,51 €
heran und setzte die jeweils noch zu erbringende Zahlung unter Anrechnung
der Ablösungssumme i.H.v. umgerechnet jeweils 1 059,36 € auf jeweils
3 213,15 € fest.
Das Verwaltungsgericht hat die Bescheide mit Urteil vom 28. November 2013
aufgehoben. Zur Begründung hat es ausgeführt, mit der Erfüllung der Zah-
lungsverpflichtung aus dem Ablösungsvertrag sei die Erschließungsbeitrags-
pflicht des Klägers erloschen. Der preissteigerungsbedingte Wertverlust der
Ablösungssumme sei der Risikosphäre der Beklagten zuzurechnen. Eine An-
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passung des Vertrags nach den Grundsätzen über den Wegfall der Geschäfts-
grundlage scheide deshalb aus. Aufgrund der vorliegenden Besonderheiten sei
dessen Wirksamkeit auch nicht durch Anwendung der Missbilligungsgrenze
entfallen. Mit der Regelung, dass allein die Beklagte den Zeitpunkt des Stra-
ßenausbaus bestimme, habe sie die mit einem späteren Ausbau verbundenen
Risiken übernommen. Eine Zeitdauer von fast 40 Jahren zwischen der Ablö-
sungsvereinbarung und der Herstellung der Erschließungsanlage führe zudem
regelmäßig zu einem Überschreiten der Missbilligungsgrenze. Bei deren aus-
nahmsloser Geltung könne die Gemeinde dem Ablösungsvertrag durch einen
verzögerten Ausbau die vereinbarten Rechtswirkungen nehmen. Aus § 133
Abs. 3 BauGB folge, dass die Gemeinde nach der Vereinnahmung von Voraus-
leistungen Erschließungsanlagen zeitnah herstellen müsse. Auch deshalb dürf-
ten Nachteile einer verspäteten Herstellung nicht dem Beitragspflichtigen auf-
gebürdet werden.
Die Beklagte macht mit ihrer vom Verwaltungsgericht zugelassenen Sprungre-
vision, deren Einlegung der Kläger vorab in der mündlichen Verhandlung vor
dem Verwaltungsgericht zugestimmt hat, geltend, der Ablösungsvertrag habe
seine Wirksamkeit verloren. Die Missbilligungsgrenze gelte ausnahmslos und
damit auch dann, wenn die Differenz zwischen dem Ablösungsbetrag und dem
Erschließungsbeitrag auf einem langen Zeitraum zwischen dem Vertrags-
schluss und der Entstehung der Beitragspflicht beruhe. Es widerspreche der
Beitragsgerechtigkeit, den Grundstückseigentümer, der keinen Ablösungsver-
trag geschlossen habe, trotz vergleichbarem Erschließungsvorteil mit höheren
Erschließungskosten als denjenigen zu belasten, der einen Vertrag geschlos-
sen habe. Aufgrund der gesetzlichen Beitragserhebungspflicht könne die Diffe-
renz zwischen der Ablösungssumme und dem Erschließungsbeitrag nicht der
Gemeinde aufgebürdet werden.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Arnsberg vom 28. No-
vember 2013 zu ändern und die Klage abzuweisen.
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Der Kläger verteidigt das angefochtene Urteil und beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision der Beklagten ist zulässig, aber nicht begründet. Das angefochte-
ne Urteil verstößt nicht gegen Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Das
Verwaltungsgericht hat zu Recht entschieden, dass die Beklagte aufgrund des
mit dem Rechtsvorgänger des Klägers wirksam geschlossenen Vertrags vom
24. Juni 1971 (1.) kein Recht zur Nacherhebung der Differenz zwischen dem
damaligen Ablösungsbetrag und dem nunmehr auf das Grundstück des Klägers
entfallenden Erschließungsbeitrag hat. Soweit im Urteil des Bundesverwal-
tungsgerichts vom 9. November 1990 (8 C 36.89 - BVerwGE 87, 77) eine abso-
lute Missbilligungsgrenze entwickelt worden ist, hält der Senat daran nicht fest
(2.). Auch nach den Grundsätzen über den Wegfall der Geschäftsgrundlage
kann die Beklagte weder die Anpassung des Vertrags verlangen noch von ihm
zurücktreten (3.).
1. Der Rechtsvorgänger des Klägers und die Beklagte haben im Vertrag vom
24. Juni 1971, der auch zugunsten des Klägers als Rechtsnachfolger des
Grundstückseigentümers wirkt (vgl. OVG Koblenz, Urteil vom 13. Dezember
2011 - 6 A 10857/11 - AS RP-SL 40, 355 <361>), wirksam die Ablösung des
künftigen Erschließungsbeitrags des Klägers vereinbart.
Gemäß § 133 Abs. 2 Satz 1 BauGB entsteht die Beitragspflicht des Eigentü-
mers oder Erbbauberechtigten eines Grundstücks für den darauf entfallenden
Anteil am beitragsfähigen Erschließungsaufwand mit der endgültigen Herstel-
lung der Erschließungsanlage. Ist die Erschließung demnach grundsätzlich von
der Gemeinde vorzufinanzieren, so kann diese gemäß § 133 Abs. 3 Satz 1
BauGB schon vor Entstehung der Beitragspflicht Vorausleistungen auf den Er-
schließungsbeitrag erheben. Alternativ hierzu eröffnet § 133 Abs. 3 Satz 5
BauGB - wie auch die bei Abschluss des vorliegenden Ablösungsvertrags gel-
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tende Vorgängerregelung des § 133 Abs. 3 Satz 2 BBauG - den Gemeinden als
Ausnahme von dem gesetzlichen Verbot vertraglicher Vereinbarungen über
Erschließungskosten die Möglichkeit, mit dem Eigentümer oder Erbbauberech-
tigten eines Grundstücks vor Entstehung der Beitragspflicht einen öffentlich-
rechtlichen Vertrag über die Ablösung des gesamten Erschließungsbeitrags zu
schließen (vgl. BVerwG, Urteile vom 27. Januar 1982 - 8 C 24.81 - BVerwGE
64, 361 <363 f.> und vom 1. Dezember 1989 - 8 C 44.88 - BVerwGE 84, 183
<188>). Ein solcher Ablösungsvertrag bewirkt, dass ein anderenfalls mit Ent-
stehen der sachlichen Erschließungsbeitragspflicht begründetes abstraktes
Schuldverhältnis zwischen der Gemeinde und dem Grundeigentümer gar nicht
erst entsteht, indem schon in einem Zeitpunkt, in dem die Anlage noch nicht
endgültig hergestellt und folglich die Höhe des dafür anfallenden Aufwands
nicht bekannt ist, eine abschließende vertragliche Regelung über die Belastung
eines Grundstücks mit Erschließungskosten getroffen wird (vgl. BVerwG, Urteil
vom 9. November 1990 - 8 C 36.89 - BVerwGE 87, 77 <79>).
Voraussetzung für das wirksame Zustandekommen eines solchen Vertrags ist
gemäß § 133 Abs. 3 Satz 2 BBauG, § 133 Abs. 3 Satz 5 BauGB, dass eine Ab-
lösung des Erschließungsbeitrags im Ganzen und vor Entstehen der Beitrags-
pflicht für ein später der Beitragspflicht unterliegendes Grundstück erfolgt. Dar-
über hinaus müssen der Vereinbarung Ablösungsbestimmungen der Gemeinde
zugrunde liegen, die festlegen, wie der mutmaßliche Erschließungsaufwand
ermittelt und verteilt werden soll. Dabei ist die Gemeinde nicht verpflichtet, den
Ablösungsbestimmungen und der Erschließungsbeitragssatzung einen identi-
schen Verteilungsmaßstab zugrunde zu legen. Der in den Ablösungsbestim-
mungen enthaltene Verteilungsmaßstab muss jedoch geeignet sein, den für
eine bestimmte Erschließungsanlage mutmaßlich entstehenden beitragsfähigen
Aufwand angemessen vorteilsgerecht den Grundstücken zuzuordnen. Maßge-
bend ist insoweit, dass die Vertragsparteien von der Eignung des Verteilungs-
maßstabs ausgegangen sind und ausgehen konnten (vgl. BVerwG, Urteil vom
27. Januar 1982 - 8 C 24.81 - BVerwGE 64, 361 <365 ff.>). Dies schließt die
missbräuchliche Vereinbarung eines von Anfang an offenkundig zu geringen
oder überhöhten Ablösungsbetrags aus.
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Diesen Anforderungen genügt der vorliegende Vertrag. Ihm liegen mit der An-
knüpfung an die seinerzeit geltende Erschließungsbeitragssatzung der Beklag-
ten insbesondere hinreichende Ablösungsbestimmungen zugrunde (vgl. § 12
der Erschließungsbeitragssatzung vom 22. Dezember 1969 i.d.F. der Ände-
rungssatzung vom 22. März 1971). Dies gilt auch insofern, als der Ablösungs-
betrag im Vertrag nicht bestimmt, sondern einer künftigen - sodann unter dem
12. März 1973 erfolgten - Berechnung vorbehalten wurde, da er durch die Be-
zugnahme auf die Erschließungsbeitragssatzung jedenfalls bestimmbar war.
2. Erlaubt das Gesetz mithin eine abschließende Ablösungsvereinbarung zu
einem Zeitpunkt, in dem regelmäßig noch (erhebliche) Unsicherheiten über den
weiteren Geschehensablauf bis zur endgültigen Herstellung der beitragsfähigen
Erschließungsanlage einschließlich der Höhe des dafür entstehenden Auf-
wands bestehen, so sind Ablösungsverträgen beträchtliche Risiken - insbeson-
dere die Gefahr einer Abweichung des Erschließungsbeitrags von der Ablö-
sungssumme - immanent (vgl. BVerwG, Urteil vom 9. November 1990 - 8 C
36.89 - BVerwGE 87, 77 <79 f.>). Die Realisierung eines solchen ablösungsty-
pischen Risikos allein lässt daher die Wirksamkeit des Vertrags unberührt.
a) Das Bundesverwaltungsgericht hat allerdings im vorgenannten Urteil ausge-
führt, die geltende Rechtsordnung lasse keine uneingeschränkte Verwirklichung
dieser Risiken zu. Vielmehr setze das Erschließungsbeitragsrecht dem Ausmaß
einer von den Vertragspartnern hinzunehmenden Differenz zwischen der Höhe
eines Ablösungsbetrags und der Höhe eines (ohne die Ablösung) auf ein
Grundstück entfallenden Erschließungsbeitrags eine absolute Grenze ohne
Rücksicht darauf, ob diese Differenz auf ablösungstypische Risiken zurückge-
he. Der Ablösungsbetrag sei als ein vorgezogener Erschließungsbeitrag in das
Regelungssystem des gesetzlichen Erschließungsbeitragsrechts eingebettet.
Aus der gesetzlichen Beitragserhebungspflicht sowie dem Gebot der Abgaben-
gerechtigkeit folge eine Missbilligungsgrenze, welche überschritten werde,
wenn der Betrag, der dem Grundstück als Erschließungsbeitrag zuzuordnen
sei, mindestens das Doppelte oder höchstens die Hälfte des vereinbarten Ablö-
sungsbetrags ausmache. Im ersten Fall stehe der Gemeinde ein Nacherhe-
bungsrecht, im zweiten dem Grundeigentümer ein Rückzahlungsanspruch zu
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(vgl. BVerwG, Urteil vom 9. November 1990 - 8 C 36.89 - BVerwGE 87, 77
<82 ff.>).
b) Hieran hält der erkennende Senat nicht fest. Eine absolute, von der Ursache
des Auseinanderfallens von Ablösungsbetrag und Erschließungsbeitrag unab-
hängige, allein an die Höhe der Differenz anknüpfende Grenze ist dem Gesetz
nicht zu entnehmen. Sie lässt sich nicht mit dem "Wesen" des Ablösungsbetra-
ges als "vorgezogener" Erschließungsbeitrag und der Einbettung des Ablö-
sungsvertrags in das Regelungssystem des gesetzlichen Erschließungsbei-
tragsrechts begründen (so BVerwG, Urteil vom 9. November 1990 - 8 C 36.89 -
BVerwGE 87, 77 <82 f.>). Die Annahme, die aus § 127 Abs. 1 BauGB ableitba-
re Pflicht zur möglichst umfassenden Abwälzung der für die Herstellung von
beitragsfähigen Erschließungsanlagen entstandenen Kosten auf die Grund-
stückseigentümer zwinge zur Annahme einer absoluten Missbilligungsgrenze,
berücksichtigt nicht hinreichend, dass der Gesetzgeber selbst mit § 133 Abs. 3
Satz 5 BauGB eine Ausnahme von der Pflicht zur Beitragserhebung ermöglicht,
und zwar in Kenntnis des mit dieser Vertragsgestaltung geradezu typischer-
weise verbundenen Risikos einer - auch erheblichen - Abweichung der vertrag-
lich vereinbarten Beträge von den ohne die Ablösung auf das Grundstück ent-
fallenden Erschließungsbeiträgen. Hätte der Gesetzgeber der Fortgeltung eines
Ablösungsvertrags eine spezifisch erschließungsbeitragsrechtliche und dazu
noch "absolute" Grenze setzen wollen, hätte er dies durch eine entsprechende
Regelung zum Ausdruck bringen müssen. Das Fehlen einer solchen gesetzli-
chen Regelung kann nach Überzeugung des Senats nicht durch eine aus dem
allgemeinen Regelungssystem des gesetzlichen Erschließungsbeitragsrechts
abgeleitete und zudem noch gegriffene richterrechtliche Missbilligungsgrenze
überspielt werden. Dies gilt umso mehr, als die gesetzliche Konzeption des Ab-
lösungsvertrags dazu führt, dass mit Abschluss eines solchen Vertrags und der
Entrichtung des Ablösungsbetrags durch den Grundeigentümer für das be-
troffene Grundstück das beitragsrechtliche Rechtsregime erst gar nicht zum
Entstehen gelangt. Hinzu kommt, dass die Pflicht der Gemeinde zur Beitragser-
hebung nach § 127 Abs. 1, § 129 Abs. 1 Satz 3 BauGB für die gemeindliche
Beteiligung an den Erschließungskosten nur eine Mindest-, nicht jedoch eine
Höchstgrenze festsetzt; der gemeindliche Anteil kann daher mehr als 10 v.H.
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des beitragsfähigen Erschließungsaufwands betragen (vgl. VGH München, Ur-
teil vom 12. März 1971 - 290 VI 70 - VGHE 24, 64 <67>; Ernst/Grziwotz, in:
Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand November 2014, § 129
Rn. 19; Reidt, in: Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 12. Aufl. 2014, § 129
Rn. 30).
Das durch Art. 3 Abs. 1 GG unterstützte Gebot der Abgabengerechtigkeit trägt
eine absolute Missbilligungsgrenze ebenfalls nicht. Zum einen liegen schon
keine vergleichbaren Sachverhalte vor, wenn im einen Fall der Grundstücksei-
gentümer im Wege der Ablösungsvereinbarung den Bau der Anlage unter Um-
ständen über viele Jahre oder - wie hier - sogar Jahrzehnte hinweg vorfinan-
ziert, während sich im anderen Fall der Eigentümer eines vergleichbar großen
Grundstücks erst im Nachhinein im Beitragswege an der Finanzierung beteiligt.
Zum anderen würde eine absolute Missbilligungsgrenze auch dann Anwendung
finden, wenn - wie es durchaus nicht selten der Fall sein wird - alle oder die
Mehrzahl der Grundstückseigentümer eines Baugebiets Ablösungsverträge ab-
geschlossen haben, es also nicht oder nicht in großem Umfang dazu käme,
dass gleich große Grundstücke eines Abrechnungsgebiets trotz gleich großen
Erschließungsvorteils unterschiedlich belastet würden. Die Freiwilligkeit der ver-
traglichen Regelung unterscheidet die Ablösungsvereinbarung schließlich auch
von dem Vorfinanzierungsinstitut der Vorausleistung, das zudem in § 133
Abs. 3 Satz 1 bis 4 BauGB eine Reihe von Schutzregelungen zugunsten des
Vorausleistungspflichtigen kennt.
c) Gerade das vorliegende Verfahren zeigt, dass die Annahme einer absoluten
Wirksamkeitsgrenze zu unbilligen Ergebnissen führen kann. Mit ihr soll Fällen
Rechnung getragen werden, in denen der vereinbarte Ablösungsbetrag den
durch ihn ersetzten Erschließungsbeitrag mehr oder weniger total verfehlt (vgl.
BVerwG, Urteil vom 9. November 1990 - 8 C 36.89 - BVerwGE 87, 77 <79,
82>). Von einer solchen totalen Verfehlung kann jedoch keine Rede sein, wenn
das erhebliche Auseinanderfallen - wie hier - allein oder weit überwiegend auf
einer durch sachliche Gründe nicht gerechtfertigten Verzögerung der Herstel-
lung der Erschließungsanlage und der dadurch eingetretenen Preissteigerung
beruht. Der Rechtsvorgänger des Klägers hat als Ablösungssumme einen Be-
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trag gezahlt, der bei einer zeitnahen Herstellung der Erschließungsanlagen in
keinem Missverhältnis zu dem Erschließungsbeitrag gestanden hätte. Nur
dadurch, dass die Beklagte die Ablösungsbeträge anderweitig verwendet und
mit der Fertigstellung der M.straße fast 40 Jahre zugewartet hat, konnte es zu
einer Differenz der Beträge in diesem Ausmaß kommen. Inflationsbedingt hat
sich der Wert des damals gezahlten Ablösungsbetrags unter Zugrundelegung
des Verbraucherpreisindex bereits nach rund 20 Jahren halbiert (vgl. Statisti-
sches Bundesamt, Verbraucherpreisindizes für Deutschland, Lange Reihen ab
1948, Stand November 2014, S. 2 ff.), während sich die Straßenbaukosten in-
nerhalb dieses Zeitraums verdoppelt haben (vgl. Statistisches Bundesamt,
Preisindizes für die Bauwirtschaft, Stand November 2014, S. 27 f.). Daher wäre
es nicht zu rechtfertigen, mit dem Unterschiedsbetrag nicht die Gemeinde, wel-
che die Ursache hierfür gesetzt und zudem von der frühzeitigen Überlassung
des Ablösungsbetrags profitiert hat, sondern einseitig den Bürger zu belasten.
3. Fallgestaltungen, in denen der Ablösungsbetrag außer Verhältnis zum mit
der Fertigstellung der Anlagen vermittelten Erschließungsvorteil steht, ist daher
nicht durch eine absolute Grenze Rechnung zu tragen, welche darüber hinaus
zu dem von Zufällen nicht freien und mit Blick auf den Gleichheitssatz proble-
matischen Ergebnis führt, dass der betroffene Grundeigentümer entweder
nichts oder den vollen Differenzbetrag nachzahlen muss. Die Grenze der not-
wendigen Tolerierung eines derartigen Missverhältnisses bestimmt sich viel-
mehr im Einzelfall nach den bundesrechtlich in § 60 VwVfG verankerten, im
öffentlichen Recht darüber hinaus seit langem allgemein anerkannten Grund-
sätzen über den Wegfall der Geschäftsgrundlage anhand einer Abwägung aller
sich im Zusammenhang mit Ablösungsverträgen ergebenden Umstände und
gegenläufigen Interessen (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Juli 2012 - 8 C 4.11 -
BVerwGE 143, 335 Rn. 65; s. - in anderem Zusammenhang - auch Urteil vom
9. November 1990 - 8 C 36.89 - BVerwGE 87, 77 <83 f.>). Diese Grundsätze
finden nicht nur auf Dauerschuldverhältnisse, sondern auch auf öffentlich-
rechtliche Verträge Anwendung, die - wie hier - eine einmalige Leistungspflicht
begründen; dies gilt auch dann, wenn die vertraglich geschuldete Leistung
schon erbracht wurde (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Juli 2012 - 8 C 4.11 -
BVerwGE 143, 335 Rn. 46 f.). Damit ermöglicht die Rechtsordnung auch ohne
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Heranziehung einer absoluten Missbilligungsgrenze, Abweichungen zwischen
dem Erschließungsbeitrag und der vereinbarten Ablösung eine Grenze zu zie-
hen, bei deren Bestimmung zudem den Umständen des Einzelfalls Rechnung
getragen werden kann. Ein sich danach möglicherweise ergebendes Nacher-
hebungsrecht kann die Gemeinde indes nicht unmittelbar durch Erschließungs-
beitragsbescheid durchsetzen. Vielmehr bedarf es der Geltendmachung des
Anpassungsverlangens - ggf. im Wege der auf Vertragsanpassung gerichteten
Leistungsklage (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Januar 1995 - 3 C 21.93 -
BVerwGE 97, 331 <340 f.>) - oder des Rücktritts vom Ablösungsvertrag (vgl.
§ 62 Satz 2 VwVfG i.V.m. § 313 Abs. 3 Satz 1 BGB; s. auch BVerwG, Urteil
vom 18. Juli 2012 - 8 C 4.1 - BVerwGE 143, 335 Rn. 46 f. zur Abgrenzung von
der Kündigung gem. § 60 VwVfG bei Dauerschuldverhältnissen).
Voraussetzung für einen Wegfall der Geschäftsgrundlage ist allerdings ein
- zudem unzumutbares - Überschreiten des Risikorahmens, den die Partei, die
eine Anpassung des Vertrags begehrt oder von ihm zurücktreten will, mit dem
Vertragsschluss übernommen hat. Eine bloße Realisierung des vertraglich
übernommenen Risikos hingegen lässt die Wirksamkeit des Vertrags ebenso
unberührt wie der Umstand, dass eine Vertragspartei nach ihrer gegenwärtigen
Interessenlage in den Vertragsschluss vernünftigerweise jetzt nicht mehr einwil-
ligen würde. Vielmehr muss die Änderung der für den Vertragsinhalt maßgebli-
chen tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse zu schwerwiegenden, bei Ver-
tragsschluss nicht absehbaren Nachteilen für die Vertragspartei geführt haben,
denen die Vertragspartner bei Kenntnis der Entwicklung billigerweise Rechnung
getragen hätten (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Juli 2012 - 8 C 4.11 - BVerwGE
143, 335 Rn. 57, 64). Mehrkosten der endgültigen Herstellung einer Erschlie-
ßungsanlage, die - wie vorliegend - allein oder weit überwiegend inflationsbe-
dingt sind, lassen danach als ablösungstypische Risiken die Geschäftsgrundla-
ge eines Ablösungsvertrags grundsätzlich unberührt. Sie unterfallen einseitig
dem Risikobereich der Gemeinde, welche es zudem in der Hand hat, mit dem
Zeitpunkt der Fertigstellung auch darüber zu entscheiden, inwiefern die einge-
nommenen Ablösungsbeträge die Erschließungskosten abdecken (vgl.
BVerwG, Urteil vom 9. November 1990 - 8 C 36.89 - BVerwGE 87, 77 <79 f.>).
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Auch soweit aus anderen, nicht preissteigerungsbedingten Gründen in Einzel-
fällen ein nicht mehr tolerierbares Missverhältnis zwischen der Belastung eines
Grundstücks mit Erschließungskosten und dem ihm vermittelten Vorteil beste-
hen sollte, bedarf es keiner absoluten Grenze. Ob sich derartige Mehrkosten
innerhalb des Rahmens der ablösungstypischen Risiken halten oder die Ge-
schäftsgrundlage des Ablösungsvertrags berühren, ist ebenfalls anhand einer
Abwägung aller Umstände und Interessen des Einzelfalls festzustellen. Auch
insoweit ist allerdings die dem Ablösungsvertrag immanente Unsicherheit über
die Höhe des Erschließungsaufwands und das damit einhergehende Risiko ei-
nes Auseinanderfallens von Ablösungsbetrag und Erschließungsbeitrag zu be-
rücksichtigen. Eine Kostensteigerung, die den Betrag, der dem betroffenen
Grundstück als Erschließungsbeitrag zuzuordnen ist, auf weniger als das Dop-
pelte des vereinbarten Ablösungsbetrags anhebt, vermag sich daher auch
dann, wenn sie ausstattungsbedingt ist, in der Regel nicht auf die vertragliche
Bindung auszuwirken (vgl. BVerwG, Urteil vom 9. November 1990 - 8 C 36.89 -
BVerwGE 87, 77 <83 f.>).
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
Dr. Bier
Buchberger
Prof. Dr. Korbmacher
Dr. Bick
Steinkühler
B e s c h l u s s
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 6 426,30 € festgesetzt (§ 47 Abs. 1,
§ 52 Abs. 3 GKG).
Dr. Bier
Prof. Dr. Korbmacher
Steinkühler
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