Urteil des BVerwG vom 18.11.2002

Ablauf der Frist, Verfügung, Herstellungskosten, Abgabenrecht

B
U
N
D
E
S
V
E
R
W
A
L
T
U
N
G
S
G
E
R
I
C
H
T
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 9 C 2.02
Verkündet
OVG 5 B 501/01
am 18. November 2002
Oertel
Justizobersekretärin
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
- 2 -
hat der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 18. November 2002
durch den Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts
H i e n und die Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. S t o r o s t , V a l l e n d a r ,
Prof. Dr. R u b e l und Dr. E i c h b e r g e r
für Recht erkannt:
Das Urteil des Sächsischen Oberverwaltungsge-
richts vom 22. August 2001 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur anderweitigen Ver-
handlung und Entscheidung an das Sächsische
Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der
Schlussentscheidung vorbehalten.
G r ü n d e :
I.
Die Klägerin wendet sich gegen die Erhebung eines Erschlie-
ßungsbeitrags für die Herstellung der Radwege der H.-Straße im
Stadtteil Pieschen der beklagten Stadt Dresden. Sie ist Eigen-
tümerin des Grundstücks H.-Straße 59. Dieses Grundstück ist
780 m² groß und mit einem viergeschossigen, überwiegend zum
Wohnen genutzten Gebäude bebaut. Es liegt außerhalb des Gel-
tungsbereichs eines Bebauungsplans und grenzt neben der
H.-Straße auch an die D.-Straße.
Die H.-Straße verbindet die D.-Straße und den H.-Platz. Von
ihr zweigen in westlicher Richtung zwei ca. 35 bis 40 m lange
Stichstraßen ab, die u.a. zu zwei teilweise mit Garagen bebau-
ten Grundstücken und zu einem Kleingartengelände führen. Spä-
testens seit den 30er Jahren weist die H.-Straße eine Fahr-
bahn, beidseitige Gehwege, Beleuchtungsanlagen und eine Stra-
- 3 -
ßenentwässerung auf. Von November 1993 bis März 1994 ließ die
Beklagte auf beiden Straßenseiten einen Radweg mit Unterbau
und einer Decke aus Betonpflastersteinen herstellen. Hierfür
wurden ein Teil der bisherigen Gehwegfläche und bisher unge-
nutzte Bereiche der Straße in Anspruch genommen. Die beiden
Stichstraßen erhielten keine Radwege. Die letzte Unternehmer-
rechnung ging bei der Stadt am 10. August 1994 ein.
Die Beklagte war der Ansicht, dass die Herstellung der Radwege
erschließungsbeitragspflichtig sei. Mit Verfügung vom
11. August 1994 entschied der Abteilungsleiter Beitragswesen
des Dezernats Stadtentwicklung und Bau, dass der Hauptzug der
H.-Straße in Bezug auf die Radwege einen Abrechnungsabschnitt
bilden solle. Für den Bau der Radwege ermittelte die Stadtver-
waltung beitragsfähige Kosten von 268 030,50 DM, die sie ab-
züglich des 10%igen städtischen Anteils ausschließlich auf die
Anlieger des Hauptzugs der Straße verteilte. Dabei wurden die
am Hauptzug und an einer der Stichstraßen liegenden Eck-
grundstücke lediglich anteilig im Verhältnis der an den jewei-
ligen Straßenabschnitt grenzenden Frontlängen zum Erschlie-
ßungsbeitrag herangezogen.
Mit Bescheid vom 2. Juni 1998 erhob die Beklagte von der Klä-
gerin für die Herstellung der Radwege einen Erschließungsbei-
trag von 6 952,47 DM. Der hiergegen erhobene Widerspruch blieb
erfolglos. Auf die Klage der Klägerin hat das Verwaltungsge-
richt Dresden nach Beiziehung der Behördenakten mit Urteil vom
3. Februar 2000 (ZMR 2002, S. 81 ff.) den Bescheid aufgehoben.
Die Berufung der Beklagten wurde vom Sächsischen Oberverwal-
tungsgericht durch Urteil vom 22. August 2001 aus folgenden
Gründen zurückgewiesen:
Die Erhebung von Erschließungsbeiträgen für den Bau der Radwe-
ge sei nach § 242 Abs. 9 BauGB ausgeschlossen. Unstreitig habe
- 4 -
es den örtlichen Ausbaugepflogenheiten entsprochen, Anbaustra-
ßen ohne beidseitige Radwege herzustellen. Deshalb sei die
H.-Straße gemäß § 242 Abs. 9 Satz 1 Alt. 1 BauGB als Erschlie-
ßungsanlage vor dem 3. Oktober 1990 bereits hergestellt gewe-
sen. Aus § 242 Abs. 9 Satz 1 Alt. 2 BauGB ergebe sich nichts
anderes. Diese Regelung sei so zu verstehen, dass sie die Er-
hebung von Erschließungsbeiträgen für Teile von Anlagen nur
zulasse, wenn die Straße noch nicht in ihrer Gesamtheit vor
dem 3. Oktober 1990 hergestellt gewesen sei.
Der angefochtene Bescheid könne auch nicht mit Blick auf das
Ausbaubeitragsrecht aufrechterhalten werden. Denn die Ab-
schnittsbildung sei fehlerhaft. Dabei könne dahingestellt
bleiben, ob dies bereits deshalb gelte, weil sie nicht vom
Stadtrat, sondern von einem Abteilungsleiter der Stadtverwal-
tung ausgesprochen worden sei. Jedenfalls sei die Abschnitts-
bildung willkürlich, weil die beiden Stichstraßen zusammen mit
der H.-Straße eine Verkehrsanlage bildeten, die beidseitigen
Radwege Teile dieser Anlage und für diese hergestellt worden
seien und die Herstellung von Radwegen entlang der beiden
Stichstraßen nicht vorgesehen sei. Daraus folge, dass der bei-
tragsfähige Herstellungsaufwand für die beiden Radwege nicht
nur auf die Grundstücke am Hauptzug der H.-Straße, sondern
auch auf die an den beiden Stichstraßen liegenden Grundstücke
zu verteilen sei. Dies sei nicht geschehen. Trotz der auch für
diese Grundstücke bestehenden Vorteilssituation durch die Rad-
wege seien sie nicht zu den Kosten für deren Herstellung he-
rangezogen worden. Das sei mit dem aus Art. 3 Abs. 1 GG fol-
genden Willkürverbot nicht vereinbar.
Der Beitragsbescheid sei deshalb zwar nur teilweise rechtswid-
rig. Er sei jedoch gemäß § 113 Abs. 3 Satz 1 VwGO insgesamt
aufzuheben. Diese Vorschrift sei hier auch im Berufungsverfah-
ren zu berücksichtigen, weil das Oberverwaltungsgericht
- anders als das Verwaltungsgericht - erstmals von der nur
- 5 -
teilweisen Rechtswidrigkeit des Bescheides ausgegangen sei.
Eine nach Art und Umfang erhebliche Ermittlung im Sinne dieser
Vorschrift stelle die Feststellung der durch die beiden Stich-
straßen der H.-Straße erschlossenen Grundstücke dar. Dies gel-
te jedenfalls für die Grundstücke, auf denen sich die Garagen
befinden. Hier bedürfe es noch einer weiteren Ermittlung der
maßgeblichen Grundstücksflächen, die durch die beiden Radwege
einen Vorteil im Sinne der ausbaubeitragsrechtlichen Vor-
schriften hätten. Dies erfordere eine weitere umfangreiche
Sachaufklärung. Die Aufhebung des Beitragsbescheides sei auch
unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdien-
lich und diene insbesondere dem wohlverstandenen Interesse der
Klägerin. Da die erforderlichen Ermittlungen nur unter Inan-
spruchnahme der Beklagten möglich wären, würde ihre Durchfüh-
rung durch das Gericht länger dauern als ihre Durchführung
durch die Beklagte selbst.
§ 113 Abs. 3 Satz 4 VwGO, wonach eine Entscheidung nach Satz 1
nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde
bei Gericht ergehen kann, stehe der Zurückweisung der Berufung
nicht entgegen. Maßgeblich sei insoweit die Vorlage der Akten
beim Berufungsgericht am 17. August 2001.
Gegen dieses Urteil richtet sich die vom Bundesverwaltungsge-
richt zugelassene Revision der Beklagten. Zur Begründung trägt
die Beklagte im Wesentlichen vor: Das angefochtene Urteil ver-
stoße gegen § 242 Abs. 9 BauGB. Es treffe nicht zu, dass nach
dieser Vorschrift eine Beitragserhebung für Teile von Er-
schließungsanlagen ausgeschlossen sei, wenn die gesamte Straße
bereits vor dem 3. Oktober 1990 hergestellt gewesen sei. Damit
werde der Unterschied zu der Regelung des § 242 Abs. 1 BauGB
verkannt. Absatz 9 der Bestimmung erwähne ausdrücklich "Teile"
von Erschließungsanlagen. Hierdurch solle vermieden werden,
dass - wie in den Altbundesländern - noch für die gesamte An-
lage Erschließungsbeiträge erhoben werden könnten, wenn vor
- 6 -
dem Stichtag bereits Teileinrichtungen fertiggestellt worden
seien. Diese Privilegierung könne nur erreicht werden, wenn im
Umkehrschluss die verschiedenen Teileinrichtungen differen-
ziert betrachtet würden.
Das Urteil verstoße zudem gegen § 130 Abs. 2 BauGB. Einer Ab-
schnittsbildung nach dieser Vorschrift hätte es nicht bedurft,
weil im Bauprogramm der Beklagten nicht vorgesehen gewesen
sei, an den Stichstraßen Radwege anzulegen. Deshalb seien mit
deren Herstellung am Hauptzug die sachlichen Beitragspflichten
entstanden.
Darüber hinaus habe das Oberverwaltungsgericht seine Pflicht
zur Sachaufklärung nach § 86 VwGO verletzt. Die Voraussetzun-
gen des § 113 Abs. 3 VwGO seien nicht erfüllt gewesen. Die
maßgeblichen Daten der bei der Beitragsverteilung noch zu be-
rücksichtigenden Grundstücke seien ihr - der Beklagten - be-
kannt und hätten kurzfristig vorgetragen werden können. Im Üb-
rigen hätten die Belange beider Prozessparteien berücksichtigt
werden müssen. Die Aufhebung des Beitragsbescheides ohne ab-
schließende Sachentscheidung sei nicht in ihrem Interesse,
weil die Notwendigkeit einer Neubescheidung zu einem weiteren
gerichtlichen Verfahren führen könne. Im Übrigen sei die
Sechs-Monats-Frist nach § 113 Abs. 3 Satz 4 VwGO abgelaufen
gewesen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom
22. August 2001 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
- 7 -
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
II.
Die Revision, gegen deren Zulässigkeit keine Bedenken beste-
hen, ist begründet. Das angefochtene Urteil beruht auf der
Verletzung von Bundesrecht. Zwar trifft die Auffassung des Be-
rufungsgerichts zu, dass § 242 Abs. 9 Satz 1 Alt. 1 BauGB die
Erhebung von Erschließungsbeiträgen für die Herstellung der
Radwege an der H.-Straße ausschließt, weil die Anlage bereits
in den 30er Jahren insgesamt hergestellt worden ist (1.). Das
Berufungsgericht hätte jedoch gem. § 86 Abs. 1 i.V.m. § 113
Abs. 1 Satz 1 VwGO ermitteln müssen, in welcher Höhe der ange-
fochtene Beitragsbescheid durch die irrevisiblen Regelungen
des Straßenausbaubeitragsrechts des Freistaates Sachsen
(§§ 26 ff. SächsKAG) gedeckt ist (2.). Die in § 113 Abs. 3
Satz 1 VwGO vorgesehene Möglichkeit der Aufhebung des ange-
griffenen Bescheides ohne weitere Sachaufklärung schied aus.
Zum einen war im Zeitpunkt der Entscheidung des Berufungsge-
richts die Sechs-Monats-Frist des § 113 Abs. 3 Satz 4 VwGO be-
reits abgelaufen. Zum anderen lagen die tatbestandlichen Vo-
raussetzungen des § 113 Abs. 3 Satz 1 VwGO nicht vor. Der
Rechtsstreit ist deshalb zur anderweitigen Verhandlung und
Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
1. Entgegen der Ansicht der Beklagten beruht das angefochtene
Urteil auf keiner Verletzung von § 242 Abs. 9 BauGB. Diese
Überleitungsvorschrift lautet in ihren hier allein interessie-
renden Sätzen 1 und 2 wie folgt:
"Für Erschließungsanlagen oder Teile von Erschließungsan-
lagen in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genann-
ten Gebiet, die vor dem Wirksamwerden des Beitritts be-
reits hergestellt worden sind, kann nach diesem Gesetz
ein Erschließungsbeitrag nicht erhoben werden. Bereits
- 8 -
hergestellte Erschließungsanlagen oder Teile von Er-
schließungsanlagen sind die einem technischen Ausbaupro-
gramm oder den örtlichen Ausbaugepflogenheiten entspre-
chend fertiggestellten Erschließungsanlagen oder Teile
von Erschließungsanlagen."
Diese Regelung verdrängt im Beitrittsgebiet die allgemeinere
Überleitungsvorschrift des § 242 Abs. 1 BauGB, wonach für vor-
handene Erschließungsanlagen, für die eine Beitragspflicht
aufgrund der bis zum In-Kraft-Treten des Sechsten Teils des
Bundesbaugesetzes geltenden Vorschriften nicht entstehen konn-
te, auch nach dem Baugesetzbuch kein Beitrag erhoben werden
kann. Als Sonderregelung für die neuen Bundesländer gilt sie
in deren Gebiet auch dann, wenn - wie hier - Erschließungsan-
lagen bereits vor der Teilung Deutschlands hergestellt worden
sind.
Die Revision ist der Auffassung, dass § 242 Abs. 9 Satz 1
BauGB wegen der ausdrücklichen Erwähnung von "Teilen von Er-
isolierte Betrachtung aller Teilein-
richtungen
te. Dies habe zur Folge, dass die Kosten einer Teileinrich-
tung, die - wie hier die Radwege - einer vor dem Wirksamwerden
des Beitritts bereits hergestellten Erschließungsanlage nach
dem Wirksamwerden des Beitritts hinzugefügt werde, nach dem
Erschließungsbeitragsrecht abzurechnen seien (ebenso OVG
Brandenburg, Urteil vom 23. März 2000 - 2 A 226/98 -, Mitt.
StGB Bgb. 2000, S. 213 <221 f.>; VG Magdeburg, Urteil vom
28. September 1995 - 2 A 2200/94 -, Finanzwirtschaft 1996,
S. 261 <263>). Die vom Verwaltungs- und vom Oberverwaltungsge-
richt vertretene Gegenansicht hält demgegenüber zusätzlich ei-
Gesamtbetrachtung der Anlage
schließungsanlage vor dem Wirksamwerden des Beitritts im Sinne
von § 242 Abs. 9 Satz 2 BauGB "bereits hergestellt" worden,
kann danach ein Erschließungsbeitrag auch dann nicht erhoben
werden, wenn dieser Anlage nach dem Wirksamwerden des Bei-
- 9 -
tritts weitere Teile hinzugefügt werden (so auch OVG Mecklen-
burg-Vorpommern, Beschluss vom 3. Juni 1996 - 6 M 20/95 -, LKV
1997, S. 225 <226>; VG Leipzig, Beschluss vom 6. Oktober 1999
- 6 K 837/99 -, VwRR MO 2000, S. 184 <186>; Becker, LKV 1999,
S. 489 <491>; Driehaus, ZMR 2002, S. 241 <242> unter Aufgabe
seiner früheren gegenteiligen Auffassung; Ernst, in: Ernst/
Zinkahn/Bielenberg, BauGB § 242 Rn. 20; Fischer, in:
Hoppenberg, Handbuch des öffentlichen Baurechts, Kap. F
Rn. 501; Neumann/Müller, DWW 2000, S. 214 f.; Otto, NJ 2000,
S. 299 <300>).
Der erkennende Senat schließt sich der letzteren Auslegung an.
Für sie sprechen der Wortlaut der Vorschrift, von dem jede
Auslegung auszugehen hat, und ihr Regelungszusammenhang mit
§ 242 Abs. 1 BauGB. Absatz 9 Satz 1 enthält - wie die Konjunk-
tion "oder" ergibt - zwei Alternativen. Es reicht also für den
Ausschluss des Rechts zur Erhebung eines Erschließungsbeitrags
aus, dass eine von ihnen erfüllt ist: Für Erschließungsanla-
gen, die vor dem 3. Oktober 1990 bereits im Sinne des Satzes 2
hergestellt waren, kann in den neuen Bundesländern kein Er-
schließungsbeitrag erhoben werden. Dasselbe gilt dort für ein-
zelne Teileinrichtungen, die vor dem 3. Oktober 1990 bereits
im Sinne des Satzes 2 hergestellt worden waren, selbst wenn
die Anlage insgesamt noch nicht in diesem Sinne hergestellt
war. § 242 Abs. 1 BauGB stellt demgegenüber in den alten Bun-
desländern ausschließlich darauf ab, ob die Anlage an dem dort
geltenden Stichtag (29. Juni 1961) insgesamt vorhanden und da-
mit nach dem bis dahin geltenden Anliegerbeitragsrecht der
Länder beitragsfrei war. Waren dagegen nur einzelne Teilein-
richtungen hergestellt, ist auch für diese in den alten Bun-
desländern die nachträgliche Erhebung von Erschließungsbeiträ-
gen grundsätzlich noch möglich. Insoweit sind die Anlieger in
den neuen Bundesländern privilegiert. Die Ansicht der Revision
hätte dagegen eine Schlechterstellung der Anlieger in den neu-
- 10 -
en Bundesländern gegenüber der in den alten Bundesländern gel-
tenden Rechtslage nach § 242 Abs. 1 BauGB zur Folge.
Dort ist es in Fällen wie dem vorliegenden gerade nicht mehr
möglich, noch Erschließungsbeiträge zu erheben. Vielmehr käme
bei einer Erweiterung einer bis zum 29. Juni 1961 endgültig
hergestellten Anlage um weitere Teileinrichtungen nur die Er-
hebung eines Straßenausbaubeitrags für eine Erweiterung oder
Verbesserung der Einrichtung in Betracht. Darüber hinaus wür-
den auch innerhalb des Beitrittsgebiets kaum zu rechtfertigen-
de Unterschiede auftreten: Wird eine Anlage, mit deren Bau
erst nach dem 3. Oktober 1990 begonnen wurde, nach ihrer end-
gültigen Herstellung um weitere Teileinrichtungen erweitert,
könnten Erschließungsbeiträge für diese Erweiterung nicht mehr
erhoben werden. Für die bereits vorher hergestellten Anlagen
würde dies dagegen bei nachträglicher Hinzufügung einer Teil-
einrichtung nicht gelten. Aus der Entstehungsgeschichte des
Gesetzes ergibt sich kein Anhaltspunkt dafür, dass der Gesetz-
geber diese Folgen in Kauf nehmen wollte. Im Beitrittsgebiet
wollte der Gesetzgeber vielmehr die Kostenerhebung für einen
weiteren Ausbau von im Zeitpunkt des Beitritts bereits vorhan-
denen Erschließungsanlagen ohne Ausnahme dem Straßenausbaubei-
tragsrecht zuweisen.
2. Entsprach hiernach die Auffassung des Berufungsgerichts,
die Erhebung von Erschließungsbeiträgen für den Bau der Radwe-
ge sei nach § 242 Abs. 9 BauGB ausgeschlossen, der sich aus
dem Bundesrecht ergebenden Rechtslage, so hat es im Einklang
mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Ur-
teile vom 19. August 1988 - BVerwG 8 C 29.87 - BVerwGE 80, 96,
97 ff. und vom 4. Juni 1993 - BVerwG 8 C 55.91 - Buchholz 310
§ 113 VwGO Nr. 256) zu Recht die Frage aufgeworfen, ob und
ggf. in welchem Umfang der angefochtene Bescheid nach dem
sächsischen Straßenausbaubeitragsrecht (§§ 26 ff. SächsKAG)
aufrechterhalten werden kann. Es ist dabei zum Ergebnis gekom-
- 11 -
men, dass der Beitragsbescheid hiernach teilweise rechtswidrig
sei, weil die Abschnittsbildung gegen das aus Art. 3 Abs. 1 GG
folgende Willkürverbot verstoße. Damit sei es nämlich nicht
vereinbar, mittels entsprechender Abschnittsbildung die an den
beiden Stichstraßen liegenden Grundstücke nicht zu den Her-
stellungskosten der Radwege heranzuziehen, obwohl auch diese
Grundstücke einen Vorteil durch die Radwege hätten.
Soweit die genannte Beurteilung des Berufungsgerichts auf ir-
revisiblem Landesrecht beruht, ist sie für das Bundesverwal-
tungsgericht gemäß § 173 VwGO i.V.m. § 562 ZPO a.F. (jetzt
§ 560 ZPO n.F.) bindend. Die von der Beklagten vorgenommene
Abschnittsbildung findet ihre Grundlage in § 27 Abs. 3
SächsKAG ("Der Aufwand kann insgesamt für mehrere Verkehrsan-
lagen, die für die Erschließung der Grundstücke eine Einheit
bilden, oder für bestimmte Abschnitte einer Verkehrsanlage er-
mittelt werden."). Diese Norm gehört dem irrevisiblen Landes-
recht an. Der von der Revision als verletzt gerügte § 130
Abs. 2 BauGB ist insoweit nicht einschlägig.
Allerdings hat das Oberverwaltungsgericht die Rechtmäßigkeit
der Abschnittsbildung anhand des aus Art. 3 Abs. 1 GG folgen-
den Willkürverbots geprüft und wegen Verstoßes hiergegen ver-
neint. Insoweit beruht seine Entscheidung auf der Auslegung
und Anwendung einer Vorschrift des Bundesrechts und ist dabei
revisionsgerichtlicher Prüfung zugänglich.
Es entspricht der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsge-
richts, Abschnittsbildungen im Erschließungsbeitragsrecht
(§ 130 Abs. 2 BauGB) am Willkürverbot zu messen. Gründe, dies
im Straßenausbaubeitragsrecht anders zu sehen, sind nicht er-
kennbar. Der allgemeine Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 GG
verbietet, ohne sachlichen Grund wesentlich Gleiches ungleich
und wesentlich Ungleiches gleich zu behandeln. Allerdings ist
den Behörden im Abgabenrecht ein weiter Gestaltungsspielraum
- 12 -
zuzubilligen, für den das Willkürverbot nur eine äußerste
Grenze darstellt. Diese Grenze ist erst erreicht, wenn einer
Regelung jeder vernünftige oder einleuchtende Grund fehlt.
Ob - gemessen an diesem Maßstab - die Ungleichheit der Vor-
teilslage zwischen den am Hauptzug der H.-Straße belegenen und
damit auch durch die dortigen Radwege unmittelbar erschlosse-
nen Gründstücken einerseits und den an den Stichstraßen bele-
genen, von den Radwegen nur mittelbar erschlossenen Grundstü-
cken andererseits eine Ungleichbehandlung bei der Erhebung von
Ausbaubeiträgen rechtfertigen kann, hängt wesentlich davon ab,
wie der Begriff der "Vorteile" im Sinne von § 26 Abs. 1 Satz 1
und § 28 Abs. 1 Satz 1 SächsKAG auszulegen ist. Hierzu enthält
das angefochtene Urteil keine näheren Ausführungen, so dass
nicht ausreichend klar wird, innerhalb welchen durch das Lan-
desrecht bestimmten Vergleichssystems es das Berufungsgericht
als willkürlich angesehen hat, die an der Stichstraße belege-
nen Grundstücke mittels Abschnittsbildung von der Heranziehung
zu den Herstellungskosten der Radwege zu befreien. Dem ist je-
doch hier nicht weiter nachzugehen, weil das angefochtene Ur-
teil bereits aus einem anderen Grunde aufzuheben und der
Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an
das Berufungsgericht zurückzuverweisen ist.
Das angefochtene Urteil verstößt in doppelter Hinsicht gegen
§ 113 Abs. 3 VwGO und leidet damit an einem erheblichen Ver-
fahrensmangel, der von der Revision auch rechtzeitig und ord-
nungsgemäß gerügt wurde und auf dem die Entscheidung beruht.
Gemäß § 86 Abs. 1 i.V.m. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO sind die
Verwaltungsgerichte grundsätzlich verpflichtet die Sache
spruchreif zu machen und deshalb die Höhe, in der ein Abgaben-
bescheid aufrechterhalten bleiben kann, selbst festzustellen
und diesen Bescheid nur aufzuheben, soweit er rechtswidrig und
der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist. Nach der
Ausnahmeregelung des § 113 Abs. 3 Satz 1 VwGO kann das Verwal-
- 13 -
tungsgericht allerdings, ohne in der Sache selbst zu entschei-
den, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid auch auf-
heben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Er-
mittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berück-
sichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. § 113
Abs. 3 Satz 4 VwGO bestimmt, dass eine solche Entscheidung nur
binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei
Gericht ergehen darf. Dem Berufungsgericht war es hier schon
deshalb versagt, von der Möglichkeit des § 113 Abs. 3 VwGO
Gebrauch zu machen, weil diese Frist bereits im erstinstanzli-
chen Verfahren abgelaufen war und im Berufungsverfahren nicht
erneut zu laufen begann. Der Wortlaut des § 113 Abs. 3 Satz 4
VwGO gibt keinen Anhaltspunkt dafür, den Beginn der dort be-
stimmten Frist, wie das Berufungsgericht meint, von der mate-
riellrechtlichen Beurteilung des Falles durch das jeweilige
Instanzgericht abhängig zu machen. Er spricht vielmehr dafür,
schon aus Gründen der im Verfahrensrecht unabdingbaren Rechts-
klarheit die Frist mit dem Eingang der Behördenakten beginnen
zu lassen, die auf die erstmalige Verfügung des Verwaltungsge-
richts gemäß § 99 VwGO vorgelegt werden, so dass § 113 Abs. 3
VwGO im Rechtsmittelverfahren keine praktische Bedeutung hat
(vgl. Demmel, Das Verfahren nach § 113 Abs. 3 VwGO, 1997,
S. 50; Gerhardt, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO,
§ 113 Rn. 50; Kopp/Schenke, VwGO, 12. Aufl. 2000, § 113
Rn. 168; Kuntze, in: Bader, VwGO, 2. Aufl. 2002, § 113 Rn. 94;
Redeker/von Oertzen, VwGO, 13. Aufl. 2000, § 113 Rn. 27;
Spannowsky, in: Sodan/Ziekow, VwGO, § 113 Rn. 206). Nach der
gesetzgeberischen Vorstellung ist das Gericht nach Ablauf der
Frist des § 113 Abs. 3 Satz 4 VwGO verpflichtet, im Interesse
der Beschleunigung des Verfahrens die notwendigen Feststellun-
gen selbst zu treffen. Die zeitliche Begrenzung soll im Inte-
resse der Beteiligten die unbefriedigende Situation verhin-
dern, dass das Gericht trotz längerer Prozessdauer von einer
abschließenden Sachentscheidung absieht. Diesem Zweck würde es
- 14 -
widersprechen, den Lauf der Frist in jeder Instanz neu begin-
nen zu lassen.
Abgesehen davon lagen die Anwendungsvoraussetzungen des § 113
Abs. 3 Satz 1 VwGO auch in der Sache nicht vor. Im Spannungs-
verhältnis zwischen dem öffentlichen Interesse an einer Ent-
lastung der Gerichte von umfangreichen Sachverhaltsermittlun-
gen und dem Bedürfnis der Beteiligten nach einer abschließen-
den und verbindlichen gerichtlichen Beurteilung des Rechts-
streits soll nach den diese Vorschrift tragenden Vorstellungen
des Gesetzgebers das Interesse an der Entlastung der Justiz
nur in besonders gelagerten Fällen überwiegen (vgl. BTDrucks
11/7030, S. 29; Gerhardt, a.a.O., Rn. 46). Deshalb sind die
hierfür genannten Tatbestandsvoraussetzungen eng auszulegen:
Nur dann, wenn die Behörde nach ihrer personellen und sachli-
chen Ausstattung eine Sachverhaltsermittlung besser durchfüh-
ren kann als das Gericht und es auch unter übergeordneten Ge-
sichtspunkten vernünftiger und sachgerechter ist, die Behörde
tätig werden zu lassen, soll die Vorschrift heranzuziehen sein
(BTDrucks 11/7030, S. 30).
Daran gemessen waren die nach Auffassung des Berufungsgerichts
noch erforderlichen Ermittlungen nach Art und Umfang nicht er-
heblich. Die Feststellung, welche Grundstücke an den Stich-
straßen liegen, wie sie nutzbar sind und wie hoch der von der
Klägerin zu zahlende Straßenausbaubeitrag ist, hätte von der
Beklagten auf entsprechende Verfügung des Gerichts mit Hilfe
des Liegenschaftskatasters zügig festgestellt werden können.
Dies gilt selbst dann, wenn auch etwaige Außenbereichs-
grundstücke am Hauptzug der H.-Straße oder an den Stichstra-
ßen, etwa die Kleingärten, anders als im Erschließungsbei-
tragsrecht durch die Radwege einen Vorteil im Sinne des § 26
Abs. 1 SächsKAG haben sollten und deshalb bei der Beitragsver-
teilung zu berücksichtigen sind. Bei vorausschauender, d.h.
nicht erst wenige Tage vor der mündlichen Verhandlung einset-
- 15 -
zender Terminsvorbereitung hätte das Gericht die Behörde si-
cherlich veranlassen können, eine entsprechende Hilfsberech-
nung noch rechtzeitig vorzulegen. Auch die gerichtliche Über-
prüfung solcher Unterlagen wird regelmäßig weder besonderen
Zeitaufwand noch erhebliche Kosten verursachen.
Unzutreffend ist schließlich die Auffassung des Berufungsge-
richts, die vollständige Aufhebung des Beitragsbescheides ohne
Entscheidung in der Sache selbst sei auch unter Berücksichti-
gung der Interessen der Beteiligten sachdienlich. Bei der er-
forderlichen Abwägung sind die voraussichtliche Dauer der ge-
richtlichen und einer behördlichen Sachverhaltsermittlung so-
wie die wirtschaftlichen Interessen der Beteiligten zu berück-
sichtigen (vgl. BFH, Urteil vom 25. Juli 2000 - VIII R 32/99 -
BFH/NV 2001, 178 f.; Gerhardt, a.a.O., Rn. 48; Kuntze, a.a.O.,
Rn. 90). Wie ausgeführt, wäre das Gericht voraussichtlich als-
bald nach der Vorlage einer Hilfsberechnung der Beklagten in
der Lage gewesen, abschließend und verbindlich in der Sache zu
entscheiden. Bei einer Aufhebung der Bescheide ohne abschlie-
ßende Sachentscheidung bestand dagegen die nicht zu vernach-
lässigende Gefahr, dass es zu einem erneuten, unter Umständen
wiederum jahrelang währenden und mit einem weiteren Kostenri-
siko für beide Beteiligte verbundenen Rechtsstreit kommt, weil
die Klägerin etwa die Nichtberücksichtigung einzelner Grund-
stücke oder Grundstücksteile für fehlerhaft hält.
3. Da das angefochtene Urteil hiernach auf einem Verstoß gegen
§ 113 Abs. 3 VwGO beruht, kann es keinen Bestand haben. Eine
Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts in der Sache selbst
kommt jedoch nicht in Betracht, weil die nach Auffassung des
Berufungsgerichts noch erforderlichen tatsächlichen Ermittlun-
gen im auf die rechtliche Prüfung beschränkten Revisionsver-
fahren nicht durchführbar sind und die Würdigung des Ergebnis-
ses dieser Ermittlungen am Maßstab des sächsischen Landes-
rechts auch grundsätzlich nicht zu den Aufgaben des Bundesver-
- 16 -
waltungsgerichts gehört. Das angefochtene Urteil ist deshalb
aufzuheben und die Sache zur anderweitigen und abschließenden
Verhandlung und Entscheidung an das Sächsische Oberverwal-
tungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2
VwGO).
Hien Dr. Storost Vallendar
Prof. Dr. Rubel Dr. Eichberger
B e s c h l u s s
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfah-
ren auf 3 554,74 € festgesetzt (§ 13 Abs. 2, §§ 14, 73 Abs. 1
Satz 2 GKG).
Hien Dr. Storost Dr. Eichberger
Sachgebiet:
BVerwGE:
ja
Gerichtsverfahrensrecht
Fachpresse:
ja
Verwaltungsprozessrecht
Abgabenrecht
Baurecht
Rechtsquellen:
GG Art. 3 Abs. 1
BauGB § 242 Abs. 9
VwGO § 113 Abs. 3
Stichworte:
Erschließungsbeitrag; Teile von Erschließungsanlagen; Herstel-
lung nach Wirksamwerden des Beitritts; Straßenausbaubeitrag;
Abschnittsbildung; Willkürverbot; Vorteil; Urteilstenor; Auf-
hebung des Verwaltungsakts ohne Sachentscheidung.
Leitsätze:
War eine Erschließungsanlage im Beitrittsgebiet vor dem
3. Oktober 1990 bereits hergestellt worden, kann ein Erschlie-
ßungsbeitrag auch dann nicht erhoben werden, wenn dieser Anla-
ge nach dem 3. Oktober 1990 weitere Teile hinzugefügt werden.
Die Sechs-Monats-Frist des § 113 Abs. 3 Satz 4 VwGO beginnt
mit dem Eingang der Behördenakten, die auf die erstmalige Ver-
fügung des Verwaltungsgerichts gemäß § 99 VwGO vorgelegt wer-
den. Sie beginnt nicht in jeder Instanz neu.
Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 113 Abs. 3 Satz 1 VwGO
sind eng auszulegen und deshalb auf besonders gelagerte Fälle
beschränkt.
Urteil des 9. Senats vom 18. November 2002 - BVerwG 9 C 2.02
I. VG Dresden vom 03.02.2000 - Az.: VG 7 K 2153/98 -
II. OVG Bautzen vom 22.08.2001 - Az.: OVG 5 B 501/01 -