Urteil des BVerwG vom 15.04.2015

Treu Und Glauben, Rechtssicherheit, Vorhersehbarkeit, Wiedervereinigung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 9 C 18.14
OVG 1 L 143/13
Verkündet
am 15. April 2015
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 15. April 2015
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Bier,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Buchberger,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Korbmacher,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Bick und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Steinkühler
für Recht erkannt:
Die Revision der Kläger gegen das Urteil des Oberver-
waltungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 1. April
2014 wird zurückgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Revisionsverfahrens je
zur Hälfte.
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G r ü n d e :
I
Die Kläger wenden sich gegen ihre Heranziehung zu einem Schmutzwasser-
anschlussbeitrag.
Die Kläger sind Eigentümer des mit einem Wohnhaus bebauten Grundstücks
Gemarkung D., Flur …, Flurstück …, das bereits vor der Wiedervereinigung an
die zentrale Schmutzwasserentsorgung angeschlossen war. Der Beklagte
übernahm mit seiner Gründung 1991 die Abwasserentsorgungseinrichtung.
Nachdem frühere Beitragssatzungen an durchgreifenden Rechtsfehlern gelitten
hatten, zog er auf der Grundlage seiner - ersten wirksamen - Satzung über die
Erhebung von Beiträgen und Gebühren für die Abwasserentsorgung vom
3. Dezember 2004 die Kläger mit Bescheid vom 29. August 2006 zu einem Bei-
trag für die Herstellung der öffentlichen Einrichtung für die zentrale Schmutz-
wasserbeseitigung
in Höhe von 14 341,46 € heran. Die nach erfolgloser Durch-
führung des Widerspruchsverfahrens erhobene Klage hatte in den Vorinstanzen
keinen Erfolg. Das Oberverwaltungsgericht hat zur Begründung seines Urteils
im Wesentlichen ausgeführt, die im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts
vom 5. März 2013 - 1 BvR 2457/08 - (BVerfGE 133, 143) aufgestellten Grund-
sätze über die zeitliche Befristung der Festsetzung von Abgaben zum Vorteils-
ausgleich seien auf die Erhebung von Abwasseranschlussbeiträgen nicht über-
tragbar. Auch Eigentümern bereits angeschlossener Grundstücke sei erstmalig
nach der Wiedervereinigung der rechtlich gesicherte Vorteil geboten worden, ihr
Schmutzwasser mittels einer öffentlichen Einrichtung entsorgen zu können. In
die Beitragskalkulation zur Abgeltung dieses Vorteils flössen zudem nur sog.
"Nachwendeinvestitionen" ein.
Mit ihrer vom Oberverwaltungsgericht zugelassenen Revision machen die Klä-
ger geltend, die Rechtsprechung der Vorinstanzen sowie die zugrundeliegen-
den landesrechtlichen Vorschriften ermöglichten eine zeitlich unbegrenzte Her-
anziehung zu Beiträgen; dies sei mit Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem
Rechtsstaatsprinzip in seiner Ausprägung als der Rechtssicherheit dienendes
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Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit unvereinbar. Da ihr Grund-
stück bereits zu DDR-Zeiten an die Abwasserbeseitigung angeschlossen gewe-
sen sei, könnten sie nicht zu einem Herstellungsbeitrag herangezogen werden.
Die Kläger beantragen,
das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Mecklenburg-Vor-
pommern vom 1. April 2014 und das Urteil des Verwal-
tungsgerichts Schwerin vom 16. April 2013 zu ändern und
den Bescheid des Beklagten vom 29. August 2006 in Ge-
stalt des Widerspruchsbescheides vom 16. November
2006 aufzuheben.
Der Beklagte verteidigt die angefochtenen Urteile und beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht beteiligt
sich am Verfahren. Er verneint einen Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 GG in Ver-
bindung mit dem Gebot der Rechtssicherheit.
II
Die Revision der Kläger ist zulässig, aber nicht begründet. Zwar verstößt das
angefochtene Urteil insoweit gegen Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem
Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) in seiner Ausprägung als der Rechtssi-
cherheit dienendes Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit, als es
entgegen dem gemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG bindenden Beschluss des Bundes-
verfassungsgerichts vom 5. März 2013 - 1 BvR 2457/08 - (BVerfGE 133, 143)
ausführt, der vorgenannte Grundsatz setze der Heranziehung zu Anschlussbei-
trägen für die Schmutzwasserbeseitigung keine von den Umständen des Ein-
zelfalls unabhängige zeitliche Grenze. Es stellt sich jedoch aus anderen Grün-
den als richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO).
1. Der verfassungsrechtliche Grundsatz der Rechtssicherheit schützt davor,
dass lange zurückliegende, in tatsächlicher Hinsicht abgeschlossene Vorgänge
unbegrenzt zur Anknüpfung neuer Lasten herangezogen werden können. Er
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verpflichtet deshalb den Gesetzgeber sicherzustellen, dass Beiträge, die einen
einmaligen Ausgleich für die Erlangung eines Vorteils durch Anschluss an eine
Einrichtung schaffen sollen, unabhängig von einem Vertrauen des Vorteilsemp-
fängers und ungeachtet der Fortwirkung des Vorteils zeitlich nicht unbegrenzt
festgesetzt werden können. Im Rahmen des danach zu schaffenden Ausgleichs
zwischen dem Interesse der Allgemeinheit an Beiträgen für solche Vorteile ei-
nerseits und dem Interesse des Beitragsschuldners andererseits, irgendwann
Klarheit zu erlangen, ob und in welchem Umfang er zu einem Beitrag herange-
zogen werden kann, kommt dem Gesetzgeber ein weiter Gestaltungsspielraum
zu. Der Grundsatz der Rechtssicherheit verbietet aber, die Interessen des Bür-
gers völlig unberücksichtigt zu lassen und ganz von einer Regelung abzusehen,
die der Erhebung einer Abgabe eine bestimmte zeitliche Grenze setzt (vgl.
BVerfG, Beschluss vom 5. März 2013 - 1 BvR 2457/08 - BVerfGE 133, 143
Rn. 42 ff.).
Die vorgenannten Grundsätze gelten für das gesamte Beitragsrecht (vgl.
BVerwG, Urteil vom 20. März 2014 - 4 C 11.13 - BVerwGE 149, 211 Rn. 16 f.;
OVG Münster, Urteil vom 30. April 2013 - 14 A 213/11 - juris Rn. 36; VGH Mün-
chen, Urteil vom 14. November 2013 - 6 B 12.704 - BayVBl. 2014, 241 <242>;
Driehaus, KStZ 2014, 181 <182>; Schmitt, KommJur 2013, 367 <369, 371>).
Sie sind damit entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts auf die Erhebung
von Anschlussbeiträgen nach dem Kommunalabgabengesetz Mecklenburg-
Vorpommern - KAG M-V - anwendbar. Die hiergegen von den Vorinstanzen
vorgebrachten Einwände beziehen sich ausnahmslos auf Umstände, denen das
Bundesverfassungsgericht bei seiner gemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG bindenden
Auslegung von Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG entweder von vornherein
keine oder eine gegenüber dem Gebot der Belastungsklarheit und –vorherseh-
barkeit nachrangige Bedeutung beigemessen hat. Namentlich die Besonderheit
des der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zugrundeliegenden bay-
erischen Landesrechts, demzufolge Grundstückseigentümer auch nach Über-
tragung des Eigentums zu Beiträgen herangezogen werden können, hat in den
Entscheidungsgründen keine Berücksichtigung gefunden. Dementsprechend
hat das Gericht einen Verzicht auf diese Regelung nicht als Möglichkeit zur Be-
seitigung des verfassungswidrigen Zustands in Erwägung gezogen (vgl.
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BVerfG, Beschluss vom 5. März 2013 - 1 BvR 2457/08 - BVerfGE 133, 143
Rn. 50). Darüber hinaus hat es ausdrücklich festgestellt, dass der verfassungs-
rechtlich gebotenen zeitlichen Begrenzung der Heranziehung zu Beiträgen we-
der ein fehlendes Vertrauen des Bürgers auf seine Nichtberücksichtigung noch
das Fortwirken des Vorteils entgegensteht (vgl. BVerfG, Beschluss vom 5. März
2013 a.a.O. Rn. 44 f.).
2. Dies zugrunde gelegt, genügt § 9 Abs. 3 Satz 1 Halbs. 2 KAG M-V dem
Grundsatz der Rechtssicherheit nicht. Danach entsteht die sachliche Beitrags-
pflicht frühestens mit dem In-Kraft-Treten der ersten wirksamen Satzung. Ge-
mäß § 12 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 KAG M-V i.V.m. § 169 Abs. 2, § 170 AO beträgt
die Festsetzungsfrist vier Jahre nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem die
Beitragsschuld entstanden ist. Kann somit ohne eine wirksame Satzung eine
Beitragsschuld nicht entstehen und diese deshalb auch nicht verjähren, so setzt
das Landesrecht der Erhebung von Beiträgen, die einen einmaligen Ausgleich
für die Erlangung eines Vorteils durch Anschluss an eine Einrichtung schaffen
sollen, keine bestimmte zeitliche Höchstgrenze, falls die maßgeblichen Satzun-
gen - wie hier - zunächst nichtig waren und erst später durch rechtswirksame
Satzungen ersetzt worden sind. Es lässt damit in diesen Fällen entgegen dem
verfassungsrechtlichen Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit das
berechtigte Interesse des Bürgers, in zumutbarer Zeit Klarheit darüber zu ge-
winnen, ob und in welchem Umfang er die erlangten Vorteile durch Beiträge
ausgleichen muss, völlig unberücksichtigt.
3. Allerdings mussten Grundstückseigentümer aufgrund von § 12 Abs. 2 Satz 1
Halbs. 2 KAG M-V bis zum Ablauf des 31. Dezember 2008 mit ihrer Heranzie-
hung zu Anschlussbeiträgen zur leitungsgebundenen Abwasserentsorgung
rechnen. Der Landesgesetzgeber hat damit dem Grundsatz der Rechtssicher-
heit zwar nur unvollständig, aber dennoch so weit Rechnung getragen, dass die
Träger kommunaler Entsorgungseinrichtungen bis zu diesem Zeitpunkt Herstel-
lungsbeiträge erheben konnten.
Da das Berufungsgericht die Anwendbarkeit der vorgenannten Vorschrift offen
gelassen hat, kann sie der erkennende Senat gemäß § 173 VwGO i.V.m. § 563
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Abs. 4 ZPO selbständig auslegen, obwohl sie nicht zum revisiblen Bundesrecht
i.S.d. § 137 Abs. 1 VwGO gehört (vgl. BVerwG, Urteil vom 6. Juni 2002 - 4 CN
4.01 - BVerwGE 116, 296 <300> m.w.N.). Gemäß § 12 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2
KAG M-V endete die Festsetzungsfrist bei der Erhebung eines Anschlussbei-
trags nach § 9 Abs. 1 Satz 1 KAG M-V frühestens mit Ablauf des 31. Dezember
2008. Hiermit wollte der Gesetzgeber den beitragserhebenden Körperschaften
mehr Zeit einräumen, um der sog. Altanschließerproblematik Rechnung tragen
zu können (vgl. LT-Drs. 4/1576 S. 77; Abg. Müller, PlProt vom 9. März 2005
S. 2984 f. und Abg. Schulz, ebd. S. 2987). Obschon die Vorschrift unmittelbar
nur Anwendung findet, wenn eine wirksame Beitragssatzung bestand und des-
halb ein Ablauf der Festsetzungsfrist vor dem Stichtag in Betracht kam, lässt
sich ihr erst recht auch für Fälle, in denen - wie vorliegend - noch keine wirksa-
me Beitragssatzung bestand, der Wille des Gesetzgebers entnehmen, eine Bei-
tragserhebung jedenfalls bis zum 31. Dezember 2008 zu ermöglichen (ebenso
zum brandenburgischen Landesrecht OVG Berlin-Brandenburg, Beschlüsse
vom 27. Mai 2013 - 9 S 75.12 - juris Rn. 29 und vom 16. Juli 2014 - 9 N 69.14 -
juris Rn. 22 f., Urteil vom 14. November 2013 - 9 B 34.12 - juris Rn. 60 f.; hierzu
BVerwG, Beschluss vom 11. September 2014 - 9 B 22.14 - juris Rn. 35).
Verschaffte § 12 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 KAG M-V dem Beitragsschuldner mithin
bis zu diesem Stichtag die - vom Gebot der Belastungsklarheit und –vorherseh-
barkeit geforderte - Gewissheit darüber, dass er noch zu einem Beitrag heran-
gezogen werden konnte, so verstößt das Landesrecht allerdings weiterhin in-
soweit gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit, als es damit nur eine Min-
dest-, nicht aber eine zeitliche Höchstgrenze für eine Beitragserhebung festlegt.
Jedenfalls für Beiträge, die nach dem Kommunalabgabengesetz erhoben wer-
den, dürfte zur Bestimmung der erforderlichen Höchstgrenze auch ein Rückgriff
auf die 30-jährige Verjährungsfrist des § 53 Abs. 2 VwVfG M-V - sowohl im We-
ge der Analogie (so für Erschließungsbeiträge VGH München, Urteil vom
14. November 2013 - 6 B 12.704 - BayVBl. 2014, 241 <242>) als auch vermit-
telt über den Grundsatz von Treu und Glauben (so für sanierungsrechtliche
Ausgleichsbeiträge BVerwG, Urteil vom 20. März 2014 - 4 C 11.13 - BVerwGE
149, 211 Rn. 28, 31 ff.) - ausscheiden. Denn es ist Aufgabe des Gesetzgebers,
in Wahrnehmung seines weiten Gestaltungsspielraums einen Ausgleich zwi-
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schen den widerstreitenden Interessen einerseits der Allgemeinheit an der Bei-
tragserhebung und andererseits der Beitragspflichtigen an einer zeitlich nicht
unbegrenzten Inanspruchnahme zu schaffen (BVerfG, Beschluss vom 5. März
2013 - 1 BvR 2457/08 - BVerfGE 133, 143 Rn. 42). Mit diesem Gestaltungsauf-
trag ist - nicht zuletzt angesichts der Vielzahl der vom Bundesverfassungsge-
richt aufgezeigten, jedoch gerade nicht den Verweis auf die Höchstverjährungs-
frist einschließenden Lösungsmöglichkeiten wie auch der Unterschiedlichkeit
der in einzelnen Ländern erlassenen und zudem deutlich kürzeren Ausschluss-
fristen - der schematische Rückgriff auf § 53 Abs. 2 VwVfG M-V wohl unverein-
bar, zumal die Vorschrift gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG M-V nicht für Verfahren
gilt, die - wie vorliegend - nach den Vorschriften der Abgabenordnung durchzu-
führen sind. Einer verfassungskonformen Auslegung des § 9 Abs. 3 Satz 1
Halbs. 2 KAG M-V dahingehend, dass eine zur Heilung eines Rechtsmangels
erlassene Beitragssatzung rückwirkend zu dem Zeitpunkt in Kraft gesetzt wer-
den muss, zu dem die ursprünglich nichtige Beitragssatzung in Kraft treten soll-
te (so zu § 22 Abs. 1 SächsKAG: OVG Bautzen, Beschluss vom 25. April 2013
- 5 A 478/10 - juris Rn. 8 ff., sowie zu § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG NW: OVG Müns-
ter, Urteil vom 18. Mai 1999 - 15 A 2880/96 - NVwZ-RR 2000, 535 <536 f.>),
steht schließlich der Wortlaut der Vorschrift wie auch § 12 Abs. 2 Satz 1
Halbs. 2 KAG M-V entgegen.
Bezieht sich die verbleibende Ungewissheit mithin nur auf die Frage, ab wel-
chem Zeitpunkt der Bürger nicht mehr mit einer Inanspruchnahme rechnen
muss, so lässt der hierin liegende Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20
Abs. 3 GG die in § 12 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 KAG M-V getroffene Übergangs-
regelung unberührt. Auch wenn diese in erster Linie dem Interesse der bei-
tragserhebenden Körperschaften diente, trug sie doch dazu bei, dass die hier-
von betroffenen Beitragsschuldner über die Möglichkeit der Beitragserhebung
nicht "dauerhaft im Unklaren" (BVerfG, Beschluss vom 5. März 2013 - 1 BvR
2457/08 - BVerfGE 133, 143 Rn. 45) waren, sondern vielmehr die Gewissheit
hatten, dass sie jedenfalls bis zum Ablauf der darin genannten Frist mit der
Heranziehung zu Anschlussbeiträgen rechnen mussten. Zudem unterliegt es
- entsprechend dem Rechtsgedanken des § 139 BGB (vgl. BVerfG, Urteil vom
28. Mai 1993 - 2 BvF 2/90 u.a. - BVerfGE 88, 203 <333>) - angesichts der ge-
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setzgeberischen Intention, einen zeitlichen Spielraum für die Lösung insbeson-
dere der sog. Altanschließerproblematik zu schaffen, keinem Zweifel, dass der
Gesetzgeber, wäre er sich der Notwendigkeit einer weitergehenden Regelung
bewusst gewesen, eine gesetzliche Ausschlussfrist nicht vor dem 31. Dezem-
ber 2008 hätte enden lassen. Damit wirkt sich der Verstoß gegen den Grund-
satz der Rechtssicherheit erst auf den Zeitraum nach Ablauf der vorgenannten
Übergangsfrist und folglich nicht auf Bescheide aus, die zuvor erlassen wurden.
4. Die Zeitdauer zwischen dem Eintritt der Vorteilslage und der Heranziehung
zu Beiträgen bis zum 31. Dezember 2008 war für die Vorteilsempfänger zumut-
bar.
Bei dem Begriff des Vorteils handelt es sich um einen landesrechtlichen und
damit - vorbehaltlich verfassungsrechtlicher Bindungen - nicht revisiblen Begriff
(vgl. BVerwG, Beschluss vom 24. April 2012 - 9 BN 1.12 - juris Rn. 16). Hierzu
hat das Berufungsgericht festgestellt, der beitragsrechtliche Vorteil sei auch
Eigentümern von tatsächlich schon zu DDR-Zeiten angeschlossenen Grundstü-
cken erst in dem Zeitpunkt zugeflossen, in dem ihnen mit den jeweiligen öffent-
lichen Entsorgungseinrichtungen erstmals und frühestens unter dem grundle-
gend neuen Rechtsregime nach der Wiedervereinigung der rechtlich gesicherte
Vorteil geboten worden sei, ihr Schmutzwasser mittels einer öffentlichen Ein-
richtung entsorgen zu können. Dies begegnet angesichts der weiteren Feststel-
lung des Berufungsgerichts, dass Herstellungsbeiträge nur für nach der Wie-
dervereinigung entstandene Aufwendungen - und somit nicht doppelt - erhoben
werden dürfen, keinen bundesrechtlichen Bedenken. Insbesondere steht Bun-
desverfassungsrecht dieser Auslegung - auch unter Berücksichtigung der Bin-
dungswirkung des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 5. März
2013 - 1 BvR 2457/08 - (BVerfGE 133, 143) - nicht entgegen. Zwar schützt da-
nach das Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit davor, dass lange
zurückliegende, in tatsächlicher Hinsicht abgeschlossene Vorgänge unbegrenzt
zur Anknüpfung neuer Lasten herangezogen werden können (BVerfG, Be-
schluss vom 5. März 2013 a.a.O. Rn. 41). Indes bedeutet dies nicht, dass maß-
geblicher Zeitpunkt ausnahmslos bereits derjenige des tatsächlichen Anschlus-
ses an das Abwassersystem ist. Die Bestimmung der ab dem Eintritt der Vor-
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teilslage zu bemessenden Ausschlussfrist muss nicht nur die Erwartung des
Begünstigten auf den Eintritt der Festsetzungsverjährung, sondern auch das
öffentliche Interesse an einem finanziellen Beitrag für die Erlangung individuel-
ler Vorteile aus dem Anschluss an die Anlage berücksichtigen (BVerfG, Be-
schluss vom 5. März 2013 a.a.O. Rn. 40). Hieraus folgt, dass es sich nach der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts um eine b e i t r a g s r e l e -
v a n t e Vorteilslage handeln muss. Die Annahme des Berufungsgerichts, mit
der Umgestaltung der Rechtsordnung und der Neugründung einer kommunalen
- und damit erstmals kommunalabgabenrechtlich relevanten - Abwasserentsor-
gung im Jahr 1990 sei mit Blick auf den zukünftigen Ausbau der Einrichtung
erstmalig eine Vorteilslage entstanden, stimmt damit überein.
Die demnach rund 18-jährige Zeitspanne, innerhalb derer gemäß § 12 Abs. 2
Satz 1 Halbs. 2 KAG M-V die Erhebung von Anschlussbeiträgen für die
Schmutzwasserbeseitigung jedenfalls möglich war, überschreitet die Grenze
des verfassungsrechtlich Zumutbaren nicht. Insbesondere hat das Bundesver-
fassungsgericht in seinem Beschluss vom 5. März 2013 - 1 BvR 2457/08 -
(BVerfGE 133, 143) nicht entschieden, schon eine 12-jährige Dauer verletze
den Grundsatz der Rechtssicherheit (vgl. BVerwG, Beschluss vom 11. Septem-
ber 2014 - 9 B 22.14 - juris Rn. 37). Der Verfassungsbeschwerde wurde nicht
wegen der im konkreten Fall zwischen der Vorteilserlangung und der beitrags-
rechtlichen Heranziehung verstrichenen Zeit, sondern deshalb stattgegeben,
weil das bayerische Landesrecht überhaupt keine zeitliche Grenze für die Ab-
gabenerhebung bestimmte. Für deren Festlegung steht dem Gesetzgeber ein
weiter Gestaltungsspielraum zu (BVerfG, Beschluss vom 5. März 2013 - 1 BvR
2457/08 - BVerfGE 133, 143 Rn. 46). Angesichts der besonderen Herausforde-
rungen der Wiedervereinigung, welche nicht nur durch einen vollständigen
Wechsel des Rechtsregimes, sondern auf kommunaler Ebene zusätzlich durch
eine Vielzahl von gleichzeitig und mit beschränkten kommunalen Ressourcen
zu bewältigenden Aufgaben wie einem grundlegenden Verwaltungsumbau, der
Herstellung kommunaler Strukturen einschließlich der notwendigen Rechts-
grundlagen sowie der Instandhaltung, Sanierung und Fortentwicklung der Infra-
struktur geprägt waren, wahrt § 12 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 KAG M-V die Gren-
zen des gesetzgeberischen Ermessens.
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5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 159 Satz 1 VwGO i.V.m.
§ 100 Abs. 1 ZPO.
Dr. Bier
Buchberger
Prof. Dr. Korbmacher
Dr. Bick
Steinkühler
B e s c h l u s s
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren auf
14 341,46 € festgesetzt (§ 47 Abs. 1, § 52 Abs. 3 GKG).
Dr. Bier
Prof. Dr. Korbmacher
Steinkühler
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