Urteil des BVerwG vom 03.09.2015

Hinweispflicht, Schreibfehler, Bier, Aufklärungspflicht

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 9 B 6.15
OVG 5 A 228/13
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 3. September 2015
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Bier und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Korbmacher und Steinkühler
beschlossen:
Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Sächsischen Oberverwal-
tungsgerichts vom 23. Juni 2014 wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt der Beklagte.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf
6 693,06 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die auf den Zulassungsgrund des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO gestützte Be-
schwerde kann keinen Erfolg haben.
Als Verfahrensmangel im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO macht die Be-
schwerde geltend, das Oberverwaltungsgericht habe den Amtsermittlungs-
grundsatz (§ 86 Abs. 1 VwGO), den Überzeugungsgrundsatz (§ 108 Abs. 1
Satz 1 VwGO) und seine Hinweispflicht (§ 86 Abs. 3 VwGO) verletzt. Das
Oberverwaltungsgericht habe seiner Entscheidung ohne ausreichende Sach-
aufklärung die Tatsache zugrunde gelegt, dass das in der Globalberechnung
2006 ermittelte Betriebskapital des Beklagten auch Anlagen erfasse, die vor
dem 3. Oktober 1990 hergestellt worden seien und für die bis 2009 kein Fi-
nanzbedarf bestanden habe. Diese Tatsache sei aufklärungsbedürftig gewesen.
Die Globalberechnung 2006 enthalte keine Altanlagen, die vor dem 1. Juli 1990
hergestellt worden seien. Es habe sich bei der Angabe "01.07.1990" auf Sei-
te 13 der Berechnung um einen offensichtlichen Schreibfehler gehandelt. Aus
den weiteren Ausführungen der Globalberechnung zu den Altanlagen ergebe
sich, dass der Beklagte Altanlagen gemeint habe, die vor dem 3. Oktober 1990
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errichtet worden seien. Dies hätte sich dem Oberverwaltungsgericht aufdrängen
müssen, da die Globalberechnung unter Nr. 7.3 auf die Grundsatzentscheidung
des Berufungsgerichts vom 21. Oktober 1999 - 2 S 551/99 - verweise, wonach
Altanlagen solche vor dem 3. Oktober 1990 errichteten Anlagen seien. Außer-
dem sei nicht vorstellbar, dass innerhalb des Zeitraums vom 1. Juli 1990 bis
zum 2. Oktober 1990 acht Abwasseranlagen hergestellt werden konnten. Tat-
sächlich seien die in der Globalberechnung unter dem Baujahr 1990 berück-
sichtigten Anlagen erst nach dem 3. Oktober 1990 gebaut worden. Mit diesem
Vorbringen ist keiner der gerügten Verfahrensfehler in der erforderlichen Weise
bezeichnet.
Das Oberverwaltungsgericht ist aufgrund der auf Seite 13 der Globalberech-
nung unter Nr. 7.3 enthaltenen Aussage, "Altanlagen, d.h. Anlagen, die vor dem
01.07.1990 hergestellt wurden, sind nicht mit ihren Wiederbeschaffungszeitwer-
ten in die Kostenseite der Kalkulation einzustellen", davon ausgegangen, dass
bei der Ermittlung des höchstzulässigen Betriebskapitals die Wiederbeschaf-
fungszeitwerte der vor dem 1. Juli 1990 hergestellten Anlagen entgegen der im
Zeitpunkt der Aufstellung der Berechnung geltenden Rechtslage aus der Glo-
balberechnung ausgenommen worden sind (UA Rn. 4 und 21). Es ist allerdings
zu dem Ergebnis gekommen, dass das Fehlen einer vollständigen, die Altanla-
gen einbeziehenden Berechnung des höchstzulässigen Betriebskapitals gemäß
§ 17 Abs. 3 Satz 2 SächsKAG unschädlich sei, da bei einer Berücksichtigung
von Altanlagen das höchstzulässige Betriebskapital und damit der höchstzuläs-
sige Beitragssatz noch höher ausgefallen wären, als bisher vom Beklagten mit
der Globalberechnung 2006 ermittelt (UA Rn. 22). Danach war die Frage, ob
die Angabe "01. Juli 1990" zutraf, insoweit für das Berufungsgericht nicht ent-
scheidungserheblich, und ein etwaiger Fehler bei der Sachverhaltsaufklärung
oder der Überzeugungsbildung könnte nicht zur Zulassung der Revision führen.
Für beachtlich hat das Oberverwaltungsgericht hingegen die unterlassene Er-
mittlung des angemessenen Beitragssatzes gemäß § 18 Abs. 2 Satz 2 Sächs-
KAG erachtet. Auch in Fällen, in denen der bei der Globalberechnung gewählte
Prognosezeitraum mit dem geplanten Endausbauzustand zusammenfalle, kön-
ne eine Kontrollrechnung notwendig sein, um eine Überfinanzierung der gesam-
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ten Einrichtung im Endausbauzustand zu verhindern. Ob eine derartige Kon-
trollberechnung bei einer bis zum Endausbauzustand reichenden Globalbe-
rechnung ausnahmsweise unterbleiben könne, sofern Überfinanzierungen von
vornherein ausgeschlossen seien, könne dahinstehen. Denn nach der Global-
berechnung 2006 umfasse die Abwassereinrichtung des Beklagten "solche vor
dem 3. Oktober 1990 hergestellten Altanlagen, für die bis 2009 kein Finanzbe-
darf bestand" (UA Rn. 24 a.E.).
Ein Aufklärungsmangel oder ein Verstoß gegen den Überzeugungsgrundsatz
liegt auch insoweit nicht vor. Mit der in Randnummer 24 a.E. wiedergegebenen
Formulierung hat das Oberverwaltungsgericht entgegen der Auffassung der
Beschwerde nicht inzident die Aussage getroffen, dass die Globalberechnung
Altanlagen umfasse, die zwischen dem 1. Juli 1990 und dem 2. Oktober 1990
errichtet worden seien. Es hat mit dieser Formulierung in der Urteilsbegründung
vielmehr eine Feststellung zum Gesamtbestand der Abwassereinrichtung des
Beklagten getroffen und diese auf die Globalberechnung 2006 gestützt. Dieser
hat es entnommen, dass auch Altanlagen zum Bestand der Abwassereinrich-
tung gehören. Das steht im Einklang mit dem zweiten Absatz in Nr. 7.3 der Glo-
balberechnung. Dort wird ausgeführt, es seien keine vor 1990 gebauten Anla-
gen in die Kostenseite der Kalkulation eingestellt worden, weil im Prognosezeit-
raum keine Investitionen "an diesen Altanlagen" geplant gewesen seien. Im Üb-
rigen stellt auch die Beschwerde das Vorhandensein von Altanlagen in der Ab-
wassereinrichtung des Beklagten nicht in Abrede. Danach bestand, ausgehend
vom materiell-rechtlichen Ansatz des Oberverwaltungsgerichts, wonach ein
Verzicht auf die Kontrollrechnung allenfalls dann zu erwägen ist, wenn eine
Überfinanzierung von vornherein deshalb ausgeschlossen werden kann, weil
die Abwassereinrichtung keine Altanlagen umfasst, keine Notwendigkeit zur
Aufklärung der Frage, ob es sich bei der Datumsangabe in Nr. 7.3 der Global-
berechnung um einen bloßen Schreibfehler handelte. Darauf hat das Oberver-
waltungsgericht inzwischen auch in einem weiteren den Beklagten betreffenden
Beschluss vom 1. April 2015 - 5 A 235/13 - (juris Rn. 28) hingewiesen.
Konnte vom rechtlichen Standpunkt des Berufungsgerichts aus die Frage offen
bleiben, ob es sich bei der Datumsangabe in Nr. 7.3 der Globalberechnung um
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einen Schreibfehler oder ein sonstiges Versehen handelte, scheidet insoweit
auch ein Verstoß gegen die gerichtliche Hinweispflicht (§ 86 Abs. 3 VwGO) aus.
Ohne Erfolg bleibt die Beschwerde auch, soweit sie als weiteren Verstoß gegen
die Aufklärungspflicht und die Hinweispflicht rügt, das Oberverwaltungsgericht
hätte eine Kontrollberechnung selbst vornehmen können. Ob das Gericht gegen
die Pflicht zur Amtsermittlung verstoßen hat, ist ausgehend von seiner materiell-
rechtlichen Auffassung zu beurteilen. Danach scheidet hier eine Aufklärungs-
und Hinweispflichtverletzung aus. Das Oberverwaltungsgericht hat eine Nach-
berechnung durch das Gericht aus materiell-rechtlichen Gründen für ausge-
schlossen erachtet. Es hat § 18 Abs. 2 Satz 2 SächsKAG die Aussage ent-
nommen, dass die Kontrollberechnung eine Ermessensentscheidung der zu-
ständigen Organe des Beklagten erfordere, die nicht durch eine gerichtliche
Entscheidung ersetzt werden könne. Es hat dies damit begründet, dass es der
Aufgabenträger in der Hand habe, den gesamten Finanzbedarf für die Herstel-
lung der öffentlichen Einrichtung der Beitragserhebung zugrunde zu legen oder
durch eine andere zeitliche Anknüpfung bestimmte Investitionen davon auszu-
nehmen. Für die vorliegende Fallkonstellation hat es außerdem darauf abge-
stellt, dass angesichts des vom Rechtsvorgänger des Beklagten gewählten
Fonds-Betreibermodells und dessen Rückabwicklung mittels Ergänzungsver-
einbarung für die Bestimmung des Investitionszeitraums und damit des bei-
tragsrelevanten Finanzbedarfs verschiedene zeitliche Anknüpfungspunkte ge-
wählt werden könnten. Die Angriffe der Beschwerde wenden sich ausschließlich
gegen die Tragfähigkeit dieser rechtlichen Würdigung und versuchen darzutun,
dass eine Nachberechnung durch das Oberverwaltungsgericht sehr wohl mög-
lich gewesen sei. Damit ist eine Verletzung der Aufklärungs- bzw. Hinweispflicht
nicht dargetan.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO; die Streitwertfestset-
zung beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 3 GKG.
Dr. Bier
Prof. Dr. Korbmacher
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