Urteil des BVerwG vom 03.09.2014

Gemeinde, Vollzug, Gestaltungsspielraum, Überprüfung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 9 B 44.14
OVG 5 A 192/13
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 3. September 2014
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Bier und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Korbmacher und Steinkühler
beschlossen:
Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Sächsischen Oberverwal-
tungsgerichts vom 19. Februar 2014 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 2 003,55 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die Beschwerde, die sich allein auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen
Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) stützt, kann keinen Erfolg haben.
Die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache ist nicht in der erforderlichen
Weise dargetan (vgl. § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO). Dies erfordert die Formulie-
rung einer bestimmten, höchstrichterlich noch ungeklärten und für die Revi-
sionsentscheidung erheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts sowie die
Angabe, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung
dieser Rechtsfrage bestehen soll (vgl. Beschluss vom 19. August 1997
- BVerwG 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 26 S. 14). Daran
fehlt es. Die Beschwerde formuliert keine abstrakte, fallübergreifende Frage,
sondern fragt lediglich streitfallbezogen danach, „ob die Einordnung der Rats-
freischulstraße in Leipzig als Haupterschließungsstraße entgegen der Ver-
kehrsplanung der Stadt Leipzig einen Verstoß gegen das Selbstverwaltungs-
recht gemäß Art. 28 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz (GG) darstellt“.
Aber auch wenn diese Frage dahin zu verstehen sein sollte, dass die Be-
schwerde es für rechtsgrundsätzlich klärungsbedürftig hält, ob die gerichtliche
Überprüfung eines Straßenausbaubeitragsbescheids hinsichtlich der von der
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Gemeinde vorgenommenen Einstufung einer Straße als Anliegerstraße durch
das in Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG garantierte kommunale Selbstverwaltungsrecht
ausgeschlossen oder eingeschränkt wird, würde dies die Zulassung der Revi-
sion nicht rechtfertigen. Die Frage lässt sich, ohne dass es der Durchführung ei-
nes Revisionsverfahrens bedürfte, verneinend beantworten.
Das nach Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleistete Recht der Gemeinde, alle
Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eige-
ner Verantwortung zu regeln, umfasst zwar auch das Recht, im Rahmen der
gesetzlichen Bestimmungen, insbesondere der jeweiligen Kommunalabgaben-
gesetze, Straßenausbaubeitragssatzungen zu erlassen und darin für die Ermitt-
lung des Gemeindeanteils am beitragsfähigen Aufwand die unterschiedlichen
Straßenarten näher zu bestimmen. Insoweit steht der Gemeinde als ortsrechtli-
cher Normgeberin aufgrund ihrer Satzungs- und Abgabenhoheit ein gerichtlich
nur eingeschränkt überprüfbarer weiter Gestaltungsspielraum zu (vgl. BVerfG,
Beschluss vom 25. Juni 2014 - 1 BvR 668/10, 1 BvR 2104/10 - juris Rn. 49,
zum Gestaltungsspielraum des Normgebers im Abgabenrecht).
Dagegen kann eine Gemeinde beim Vollzug des Abgabenrechts durch den Er-
lass von Abgabenbescheiden keinen einer nur eingeschränkten gerichtlichen
Überprüfung zugänglichen Beurteilungsspielraum für sich beanspruchen. Er-
hebt sie auf der Grundlage ihrer Abgabensatzungen Beiträge und Gebühren,
unterliegt sie bei der Anwendung der in den Satzungen vorkommenden unbe-
stimmten Rechtsbegriffe („Anliegerstraße“) der uneingeschränkten Nachprüfung
durch die Verwaltungsgerichte, deren Aufgabe es ist, den Begriffsinhalt verbind-
lich zu konkretisieren (vgl. BVerfG, Beschluss vom 31. Mai 2011 - 1 BvR
857/07 - BVerfGE 129, 1 <21> m.w.N.). Ein behördliches Letztentscheidungs-
recht lässt sich insoweit nicht aus Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG ableiten. Die Ge-
meinde wird bei der Heranziehung ihrer Gemeindemitglieder zu Abgaben nicht
als kommunale Normgeberin tätig, sondern als hoheitlich handelnde Norman-
wenderin. Das kommunale Selbstverwaltungsrecht beinhaltet keine Einschrän-
kung der gerichtlichen Kontrollbefugnisse beim Vollzug von gemeindlichen
Rechtsnormen. Eine Einschränkung bedarf vielmehr der Entscheidung durch
den staatlichen Gesetzgeber (vgl. BVerfG, Beschluss vom 31. Mai 2011 a.a.O.
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S. 21 f.). Nur dieser ist befugt, die Kontrolle der Rechtsanwendung der Verwal-
tungsbehörden durch die Gerichte zurückzunehmen und den Behörden Letzt-
entscheidungsbefugnisse einzuräumen, wobei er hierbei durch die Grundrechte
sowie durch das Rechtsstaats- und das Demokratieprinzip und die hieraus fol-
genden Grundsätze der Bestimmtheit und Normenklarheit gebunden ist
(BVerfG, Beschluss vom 31. Mai 2011 a.a.O. S. 22 f.). Ohne eine solche ge-
setzliche Ermächtigung stünde eine eingeschränkte gerichtliche Kontrolle der
von der Beklagten auf der Grundlage ihres Verkehrskonzepts vorgenommenen
Einstufung der Straßen nicht nur im Widerspruch zur Gesetzesbindung der Ge-
richte (Art. 20 Abs. 3, Art. 97 Abs. 1 GG), sondern würde vor allem auch das
Recht der Abgabenschuldner auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes aus
Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verletzen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 31. Mai 2011
a.a.O. S. 22).
Ob die Ratsfreischulstraße in Leipzig richtigerweise, wie die Beklagte meint, als
Anliegerstraße oder - dem Berufungsurteil folgend - als Haupterschließungs-
straße einzustufen ist, richtet sich ausschließlich nach nicht revisiblem Landes-
bzw. Ortsrecht und entzieht sich daher einer Beurteilung durch das Bundesver-
waltungsgericht.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des
Werts des Streitgegenstandes beruht auf § 52 Abs. 3, § 47 Abs. 1 und 3 GKG.
Dr. Bier
Prof. Dr. Korbmacher
Steinkühler
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