Urteil des BVerwG vom 03.09.2015

Rechtssicherheit, Bier, Rechtsstaatsprinzip, Vorteilsausgleich

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 9 B 39.15
VGH 20 B 14.1441
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 3. September 2015
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Bier und
die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Buchberger und Dr. Bick
beschlossen:
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Bayerischen Verwaltungs-
gerichtshofs vom 12. März 2015 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf
1 197,32 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die Beschwerde des Klägers hat keinen Erfolg.
1. Die Revision ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung im Sinne des § 132
Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen. Grundsätzliche Bedeutung kommt einer
Rechtssache nur dann zu, wenn für die angefochtene Entscheidung der Vor-
instanz eine konkrete, fallübergreifende und bislang ungeklärte Frage des revi-
siblen Rechts von Bedeutung war, deren Klärung im Revisionsverfahren zu er-
warten ist und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur
Weiterentwicklung des Rechts geboten erscheint. Den Darlegungen der Be-
schwerde lässt sich nicht entnehmen, dass diese Voraussetzungen im vorlie-
genden Fall erfüllt sind.
Die vom Kläger als rechtsgrundsätzlich bedeutsam aufgeworfene Frage,
ob die reguläre Festsetzungsverjährung für die Erhebung
von Beiträgen für Trinkwasserversorgungs- oder Abwas-
serentsorgungsanlagen entsprechend der Neuregelung
des Bayerischen Kommunalabgabengesetzes (KAG BY)
bis zu 20 Jahre hinausgeschoben werden kann, wenn in
diesem Zeitraum zunächst keine rechtswirksamen Abga-
bensatzungen bestanden, oder ob dieser Zeitraum, jeden-
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falls soweit keine weiteren Voraussetzungen gegeben sein
müssen, im Hinblick auf elementare Anforderungen an die
Rechtssicherheit zu lange ist,
betrifft Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b Doppelbuchst. bb Spiegelstrich 1 KAG BY,
mithin eine landesrechtliche Bestimmung. Die mit Gesetz vom 11. März 2014
beschlossene und am 1. April 2014 in Kraft getretene Neuregelung (GVBl.
S. 70) sieht vor, dass die Festsetzung eines Beitrags ohne Rücksicht auf die
Entstehung der Beitragsschuld spätestens 20 Jahre nach Ablauf des Jahres, in
dem die Vorteilslage eintrat, nicht mehr zulässig ist. Der bayerische Landesge-
setzgeber hat sich zu dieser Neufassung entschlossen, nachdem das Bundes-
verfassungsgericht - auf die Verfassungsbeschwerde des Klägers des vorlie-
genden Rechtsstreits - Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b KAG BY a.F., der die zeit-
lich unbegrenzte Festsetzung von Beiträgen erlaubte, für unvereinbar mit Arti-
kel 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der
Rechtssicherheit (Art. 20 Abs. 3 GG) erklärt und dem Gesetzgeber Gelegenheit
zu einer verfassungsgemäßen Neuregelung gegeben hatte (BVerfG, Beschluss
vom 5. März 2013 - 1 BvR 2457/08 - BVerfGE 133, 143).
Die Beschwerde wendet sich gegen die Annahme des Verwaltungsgerichtshofs,
der Gesetzgeber habe - ausgehend von seinem weiten Gestaltungsspiel-
raum - die vom Bundesverfassungsgericht für die Neuregelung vorgezeichnete
Abwägung (Ausgleich zwischen dem Interesse des Bürgers an baldiger
Rechtssicherheit und dem öffentlichen Interesse an einem Vorteilsausgleich für
die Zurverfügungstellung einer öffentlichen Einrichtung der Daseinsvorsorge) in
verfassungskonformer Weise vorgenommen. Die Beschwerde hält die Neurege-
lung für verfassungswidrig.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts vermag die
Rüge der Nichtbeachtung von Bundesrecht bei der Auslegung und Anwendung
von Landesrecht die Zulassung der Revision nur dann zu begründen, wenn die
Auslegung der - gegenüber dem Landesrecht als korrigierender Maßstab ange-
führten - bundesrechtlichen Norm ihrerseits ungeklärte Fragen von grundsätzli-
cher Bedeutung aufwirft. Die angeblichen bundesrechtlichen Maßgaben, deren
Tragweite und Klärungsbedürftigkeit im Hinblick auf die einschlägigen landes-
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rechtlichen Regelungen sowie die Entscheidungserheblichkeit ihrer Klärung in
dem anhängigen Verfahren sind in der Beschwerdebegründung darzulegen
(stRspr, vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 8. Mai 2008 - 6 B 64.07 - Buchholz 421
Kultur- und Schulwesen Nr. 132 Rn. 5, vom 17. März 2008 - 6 B 7.08 - Buch-
holz 451.20 § 12 GewO Nr. 1 Rn. 9 und vom 16. Juli 2013 - 9 B 15.13 - juris
Rn. 5, jeweils m.w.N.).
Diese Anforderungen erfüllt die Beschwerdebegründung nicht. Sie macht gel-
tend, der Gesetzgeber habe den vom Bundesverfassungsgericht aufgezeigten
Konflikt einseitig zu Gunsten der langfristigen Zulässigkeit einer Beitragserhe-
bung gelöst, insbesondere hätte die Verjährung an weitere Voraussetzungen,
insbesondere hinsichtlich der Höhe der Beitragsbelastung geknüpft werden
müssen, auch fehlten Einschränkungen zum abgabepflichtigen Personenkreis.
Damit zeigt sie keinen weiteren Klärungsbedarf im Hinblick auf das Rechts-
staatsprinzip auf, sondern wendet sich gegen die Anwendung des bundesver-
fassungsrechtlichen Maßstabes durch den Verwaltungsgerichtshof auf die kon-
kret angegriffene landesgesetzliche Norm.
Die grundsätzlichen Fragen, die das Rechtsstaatsprinzip in seiner Ausprägung
als der Rechtssicherheit dienendes Gebot der Belastungsklarheit und
-vorhersehbarkeit im Hinblick auf die zeitliche Festsetzung von Abgaben zum
Vorteilsausgleich aufwirft, sind im Übrigen durch die o.g. Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts vom 5. März 2013 geklärt. Danach schützt der ver-
fassungsrechtliche Grundsatz der Rechtssicherheit davor, dass lange zurück-
liegende, in tatsächlicher Hinsicht abgeschlossene Vorgänge unbegrenzt zur
Anknüpfung neuer Lasten herangezogen werden können. Er verpflichtet des-
halb den Gesetzgeber sicherzustellen, dass Beiträge, die einen einmaligen
Ausgleich für die Erlangung eines Vorteils durch Anschluss an eine Einrichtung
schaffen sollen, unabhängig von einem Vertrauen des Vorteilsempfängers und
ungeachtet der Fortwirkung des Vorteils zeitlich nicht unbegrenzt festgesetzt
werden können. Im Rahmen des danach zu schaffenden Ausgleichs zwischen
dem Interesse der Allgemeinheit an Beiträgen für solche Vorteile einerseits und
dem Interesse des Beitragsschuldners andererseits, irgendwann Klarheit zu
erlangen, ob und in welchem Umfang er zu einem Beitrag herangezogen wer-
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den kann, kommt dem Gesetzgeber ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Der
Grundsatz der Rechtssicherheit verbietet aber, die Interessen des Bürgers völ-
lig unberücksichtigt zu lassen und ganz von einer Regelung abzusehen, die der
Erhebung einer Abgabe eine bestimmte zeitliche Grenze setzt (BVerfG, Be-
schluss vom 5. März 2013 - 1 BvR 2457/08 - BVerfGE 133, 143 Rn. 42 ff.; vgl.
auch BVerwG, Urteil vom 15. April 2015 - 9 C 19.14 - juris Rn. 8). Da die Ent-
scheidung des Bundesverfassungsgerichts - wie oben erwähnt - gerade zur
bayerischen Rechtslage ergangen ist, besteht auch kein Klärungsbedarf im
Hinblick auf die vom Kläger bereits im Klageverfahren und nun erneut im Be-
schwerdeverfahren betonte Besonderheit des bayerischen Landesrechts, dem-
zufolge Grundstückseigentümer auch nach Übertragung des Eigentums zu Bei-
trägen herangezogen werden können. Dieser Umstand hat in den Entschei-
dungsgründen des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts keine Berück-
sichtigung gefunden. Dementsprechend hat das Gericht einen Verzicht auf die-
se Regelung nicht als Möglichkeit zur Beseitigung des verfassungswidrigen Zu-
stands in Erwägung gezogen (BVerwG, Urteil vom 15. April 2015 - 9 C 19.14 -
juris Rn. 9 unter Hinweis auf BVerfG, Beschluss vom 5. März 2013 - 1 BvR
2457/08 - BVerfGE 133, 143 Rn. 50). Ebenso wenig hat es gefordert, dass die
Verjährung an weitere Voraussetzungen geknüpft werden müsse.
2. Dem Verwaltungsgerichtshof ist auch kein Verfahrensfehler im Sinne von
§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO unterlaufen, weil es den Rechtsstreit nicht gemäß
Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht zur
Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b Doppel-
buchst. bb Spiegelstrich 1 KAG BY vorgelegt hat. Die Nichtvorlage gemäß
Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG ist kein die Revision rechtfertigender Verfahrens-
mangel (BVerwG, Beschlüsse vom 17. Juli 1975 - 2 B 2.75 - Buchholz 310
§ 132 VwGO Nr. 136 S. 18 f. und vom 19. April 2011 - 8 B 7.11 - juris Rn. 8).
Ein für das Revisionsverfahren bedeutsamer Verfahrensmangel liegt nur vor,
wenn das Verwaltungsgericht formelle Vorschriften verletzt hat, das Urteil da-
rauf beruht und das Revisionsgericht die Sache zurückverweisen muss, weil es
selbst diesen Mangel (z.B. eine mangelnde Sachaufklärung) nicht beheben
kann. Hier scheidet eine Zurückverweisung schon allein deshalb aus, weil das
Bundesverwaltungsgericht ebenso wie alle anderen Gerichte selbst verpflichtet
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ist zu prüfen, ob die Voraussetzungen des Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG für die
Einholung einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gegeben sind
(BVerwG, Urteil vom 22. Januar 1971 - 7 C 42.70 - Buchholz 442.15 § 4 StVO
Nr. 9 S. 24; Beschluss vom 19. April 2011 - 8 B 7.11 - juris Rn. 8).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Festsetzung des
Streitwertes auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 3 GKG.
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Buchberger
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