Urteil des BVerwG vom 07.03.2012

Ausschluss der Öffentlichkeit, Chancengleichheit, Einvernahme Von Zeugen, Verteilung der Sitze

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 8 C 7.11
OVG 15 A 860/10
Verkündet
am 7. März 2012
Ende
Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 8. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 7. März 2012
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Prof. Dr. Dr. h.c. Rennert,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. von Heimburg,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Deiseroth und
die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Dr. Hauser und Dr. Held-Daab
für Recht erkannt:
Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land
Nordrhein-Westfalen vom 5. November 2010 wird aufge-
hoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Ent-
scheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwie-
sen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung
vorbehalten.
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G r ü n d e :
I
Die Beteiligten streiten über die Ungültigerklärung der Wahl des Bürgermeisters
sowie der Wahl des Rates der Gemeinde Kalletal vom 30. August 2009 im
Wahlbezirk 130 - Ortsteil Lüdenhausen.
Der Wahlausschuss der Gemeinde Kalletal ermittelte auf seiner Sitzung am
3. September 2009 für die beiden angegriffenen Wahlen die Ergebnisse. Der
Beigeladene zu 1 wurde im Wahlbezirk 130 - Lüdenhausen - direkt in die Ver-
tretung gewählt. Der Beigeladene zu 2 erhielt die Mehrheit bei der Wahl des
Bürgermeisters der Beklagten. Mit Schreiben vom 28. September 2009 legte
der Vorsitzende des SPD-Gemeindeverbandes Kalletal im Namen des Ge-
meindeverbandes beim Wahlleiter der Beklagten gegen die Wahl des Rates
und die Wahl des Bürgermeisters Einspruch ein und beanstandete u.a. unter
Angabe von Zeugen, dass das Wahllokal im Wahlbezirk 130 bei der Ergebnis-
feststellung verschlossen gewesen und die Öffentlichkeit nicht hergestellt wor-
den sei. Auf eine Nachfrage des Gemeindewahlleiters räumten der Wahlvorste-
her und die stellvertretende Wahlvorsteherin ein, dass das Wahllokal nach Ab-
schluss des Wahlvorgangs nicht rechtzeitig wieder geöffnet worden sei. Beide
versicherten, das Wahlergebnis sei zu keiner Zeit der Ergebnisermittlung beein-
flusst worden.
Am 26. November 2009 erklärte der Rat der Beklagten mehrheitlich die Wahlen
des Bürgermeisters und der Vertretung der Gemeinde Kalletal im Wahlbezirk
130 - Lüdenhausen - für ungültig und ordnete zugleich die Durchführung von
Wiederholungswahlen in diesem Wahlbezirk an. Der Ausschluss der Öffentlich-
keit bei der Ermittlung und Feststellung der Wahlergebnisse stelle eine Unre-
gelmäßigkeit nach § 40 Abs. 1 Buchst. b des Gesetzes über die Kommunalwah-
len im Land Nordrhein-Westfalen (KWahlG) dar.
Am 22. Dezember 2009 hat der damalige Vorsitzende des Klägers unter dem
Briefkopf des Gemeindeverbandes beim Verwaltungsgericht Klage gegen den
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Rat der Gemeinde Kalletal erhoben mit dem Ziel, die gefassten Beschlüsse
aufzuheben. Zum Verstoß gegen den Öffentlichkeitsgrundsatz bei der Stim-
menauszählung gebe es widersprüchliche Aussagen. Ein Wahlfehler müsse
erheblich sein, um zur Ungültigkeit und Nachholung einer Wahl zu führen. Auch
die SPD vermute keine Manipulationen. Der achtköpfige Wahlvorstand sei par-
teipolitisch ausgewogen besetzt gewesen. Das Mehraugen-Prinzip gewährleiste
hinreichende Neutralität bei der Auszählung. Wiederholungswahlen seien mit
der naheliegenden Gefahr einer Verfälschung des Ergebnisses verbunden.
Der Kläger hat beantragt, den Beschluss der Beklagten vom 26. November
2009 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die Wahl vom 30. August
2009 im Wahlbezirk Lüdenhausen hinsichtlich der Bürgermeisterwahl und der
Ratswahl für gültig zu erklären.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
Mit Urteil vom 24. Februar 2010 hat das Verwaltungsgericht nach der Einver-
nahme von Zeugen und einer erneuten Auszählung der Stimmzettel des Wahl-
bezirks 130 der Klage stattgegeben. Sie sei als kombinierte Anfechtungs- und
Verpflichtungsklage zulässig. Die Klagebefugnis folge aus § 42 Abs. 2 VwGO.
Der Kläger sei als Leitung einer an den Kommunalwahlen beteiligten Partei ent-
sprechend § 39 KWahlG klageberechtigt. Es bestehe die Möglichkeit, dass die
Wahlvorschläge der CDU bei den Wiederholungswahlen weniger Stimmen er-
ringen und dies zu einer anderen Sitzverteilung im Rat führe oder der Beigela-
dene zu 2 bei einer erneuten Wahl des Bürgermeisters unterliege. Damit liege
eine hinreichende Betroffenheit vor. Die Klage sei auch begründet. Zwar hätten
die Zeugenaussagen zweifelsfrei ergeben, dass ein Verstoß gegen das Öffent-
lichkeitsgebot im Sinne des § 24 Abs. 1 Satz 1 KWahlG vorliege. Die Unregel-
mäßigkeit habe sich aber nicht entscheidend auf das Ergebnis der Wahl aus-
gewirkt. Die erneute Auszählung der Stimmzettel habe zwar einige Abweichun-
gen ergeben, der Ausschluss der Öffentlichkeit sei aber nicht von entscheiden-
dem Einfluss für die Mandatszuteilung gewesen. Damit liege kein kausaler Ver-
fahrensfehler nach § 40 Abs. 1 Buchst. b KWahlG vor.
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Mit Beschluss vom 5. November 2010 hat das Oberverwaltungsgericht das an-
gegriffene Urteil geändert und die Klage abgewiesen. Die Klage sei unzulässig.
Aus der befürchteten Verfälschung des Wahlergebnisses durch eine Wiederho-
lungswahl bei knappem Wahlausgang lasse sich keine Klagebefugnis herleiten.
Es bestünden schon Zweifel, ob der Kläger zum Kreis der Klageberechtigten
gehöre und nicht allein sein Vorstand. Ungeachtet dessen sei aber auch eine
Klage des Vorstands unzulässig. Parteileitungen könnten wie Wahlberechtigte
zulässigerweise nur klagen, wenn sie zuvor Einspruch gegen die Wahl einge-
legt hätten und ihrem Einspruch nicht oder nicht vollständig stattgegeben wor-
den sei. § 39 Abs. 1 Satz 1 KWahlG gewähre lediglich einen Wahlprüfungsan-
spruch, aber kein Recht auf Gültigerklärung einer Wahl. Neben der Aufsichts-
behörde seien die Mandatsträger, die infolge des Wahlprüfungsbeschlusses ihr
Mandat verlören, klagebefugt. Damit bestehe ausreichender Rechtsschutz.
Dass die über die Reserveliste Gewählten grundsätzlich nicht klagebefugt sei-
en, sei unbedenklich, weil ihre Wahl nicht für ungültig erklärt werde und eine
Wiederholungswahl allenfalls mittelbar Auswirkungen auf die Sitzverteilung ha-
be.
Zur Begründung seiner Revision beruft sich der Kläger auf den aus Art. 3 Abs. 1
i.V.m. Art. 21, 28, 38 GG und § 5 PartG abzuleitenden Grundsatz der Chancen-
gleichheit der politischen Parteien. Er sei auch für Kommunalwahlen beachtlich
und gewährleiste den fairen Wettbewerb der Parteien. § 41 KWahlG könne da-
hin ausgelegt werden, dass der Kreis der Klageberechtigten nicht auf diejenigen
beschränkt sei, die nach § 39 Abs. 1 Satz 1 KWahlG erfolglos Einspruch einge-
legt hätten. Mit dem Grundsatz der Chancengleichheit sei unvereinbar, dass
eine Partei gegen die Gültigkeit einer Wahl Einspruch einlegen und bei dessen
Erfolglosigkeit klagen könne, während eine andere Partei, die die Wahl für gül-
tig halte, nicht gegen eine stattgebende Wahlprüfungsentscheidung vorgehen
können solle. Für eine solche Ungleichbehandlung bestehe kein einleuchtender
Grund.
Der Kläger beantragt,
den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land
Nordrhein-Westfalen vom 5. November 2010 zu ändern
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und die Berufung des Rates der Beklagten gegen das Ur-
teil des Verwaltungsgerichts Minden vom 24. Februar
2010 mit der Maßgabe zurückzuweisen, dass der Be-
schluss des Rates der Beklagten vom 26. November 2009
aufgehoben und die Beklagte verpflichtet wird, den Ein-
spruch des Gemeindeverbandes der SPD gegen die Wah-
len des Bürgermeisters der Beklagten und des Rates der
Beklagten vom 30. August 2009 in vollem Umfang zurück-
zuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Der Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien gebiete nicht, dass eine Par-
tei die Rechtmäßigkeit einer Wahl geltend machen können müsse. Anderenfalls
müsse auch jedem Wahlberechtigten ein solches Recht zustehen, denn die Ein-
spruchsberechtigten gemäß § 39 KWahlG seien gleich zu behandeln. Nach der
bindenden Auslegung des Oberverwaltungsgerichts bestehe kein Anspruch auf
Gültigerklärung der Wahl.
Der Beigeladene zu 1 beantragt ebenfalls,
die Revision zurückzuweisen,
und schließt sich der Begründung der Beklagten an.
Der Beigeladene zu 2 stellt keinen Antrag.
II
Die Revision des Klägers ist mit dem Ergebnis der Zurückverweisung der Sa-
che an das Oberverwaltungsgericht (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO) begrün-
det. Die Auffassung des Berufungsgerichts, der Kläger sei nicht klagebefugt,
weil das Klagerecht gemäß § 41 Abs. 1 Satz 1 KWahlG nur solchen Parteien
und Wählergruppen zukomme, die gemäß § 39 Abs. 1 KWahlG Einspruch ge-
gen die Gültigkeit der Wahl eingelegt haben, verletzt Bundesrecht.
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1.a) Allerdings kann der Kläger nicht geltend machen, durch die Beschlüsse
des Rates der Beklagten über die Ungültigkeit der Wahlen, bei denen es sich
um rechtsgestaltende Verwaltungsakte handelt (vgl. OVG Münster, Urteil vom
28. November 1980 - 15 A 1660/80 - OVGE 35, 144 <145>), im Sinne des § 42
Abs. 2 Alt. 2 VwGO in eigenen Rechten verletzt zu sein. Um eine Klagebefugnis
nach dieser Norm zu bejahen, ist das Bestehen subjektiver Rechte Vorausset-
zung, § 42 Abs. 2 VwGO begründet sie nicht. Das Berufungsgericht hat sie dem
Landesrecht nicht entnommen, auch aus Bundesrecht ergeben sich derartige
subjektive Rechte des Klägers nicht. Zwar sind danach auch Parteien mit eige-
nen Rechten ausgestattet. Da sie aber selbst weder über aktives noch über
passives Wahlrecht verfügen, kommt ihnen im Wahlprüfungsverfahren keine
subjektive Berechtigung zu.
b) Der Kläger kann auch nicht im Sinne einer Prozessstandschaft die Rechte
der über „seine“ Liste gewählten Ratsmitglieder geltend machen. Das könnte
hier zwar erwogen werden, weil das Berufungsgericht den über eine Reservelis-
te gewählten Ratsmitgliedern ein eigenes Klagerecht abspricht (UA S. 9), zu-
gleich aber selbst - mit Recht - verfassungsrechtliche Zweifel gegen eine
Rechtslage zu erkennen gibt, die darauf hinausläuft, gewählten Listenbewer-
bern jeden Rechtsschutz zu versagen (UA S. 8). Für eine Prozessstandschaft
der die Reserveliste aufstellenden Partei besteht aber kein Anlass; denn die
gewählten Listenbewerber sind selbst klagebefugt. Das ergibt sich aus Bundes-
recht, von dem das Landesrecht nicht abweichen darf (Art. 31 GG).
Zwar obliegt die Ausgestaltung des Kommunalwahlrechts im Einzelnen dem
Landesrecht. Das bundesrechtliche Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 2, Art. 28
Abs. 1 Satz 2 GG) gebietet aber, dass gewählte Wahlbewerber nicht nur ihr
Mandat antreten, sondern ihr Mandat im Wahlprüfungsverfahren auch verteidi-
gen dürfen. Dabei gibt es keinen Unterschied danach, ob das Mandat direkt
oder über eine Liste errungen wurde. Zwar mag das Landesrecht - wie in Nord-
rhein-Westfalen - vorsehen, dass ein im Wahlbezirk direkt gewählter Bewerber
sein Mandat unmittelbar durch den Beschluss der Wahlprüfungsbehörde ver-
liert, mit dem die Wahl für ungültig erklärt wird (§ 40 Abs. 3 KWahlG), während
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der über die Reserveliste Gewählte von der Wahlprüfungsentscheidung in dem
Sinne nur mittelbar betroffen wird, dass nach den Ergebnissen der Wiederho-
lungswahl die Verteilung der Sitze aus den Reservelisten neu zu berechnen ist
(§ 42 Abs. 3 KWahlG). Dieser Unterschied führt aber nicht dazu, dass der über
eine Liste Gewählte durch die Ungültigerklärung der Wahl und die Anordnung
einer Wiederholungswahl in seinem passiven Wahlrecht weniger oder anders
betroffen wäre als der in einem Wahlbezirk direkt Gewählte. Beide leiten ihre
demokratische Legitimation aus der ursprünglichen Wahl her. Eine „Wiederho-
lungswahl“ vermittelt eine andere Legitimität, schon weil sie zu einem anderen
- späteren - Zeitpunkt und in Kenntnis der Ergebnisse der ursprünglichen Wahl
stattfindet. Die Möglichkeit einer Verletzung des passiven Wahlrechts besteht
deshalb schon, wenn durch die Anordnung einer Wiederholungswahl das Man-
dat in Frage gestellt wird; die Legitimation des Mandats aus der ursprünglichen
Wahl entfällt bereits, wenn die zugrunde liegende Wahl für ungültig erklärt wird.
c) Die Klagebefugnis des Klägers ergibt sich aber daraus, dass im Sinne von
§ 42 Abs. 2 Alt. 1 VwGO gesetzlich ein anderes bestimmt ist. Gemäß § 40
Abs. 1 KWahlG beschließt die Vertretung der Gemeinde als Wahlprüfungsbe-
hörde über die erhobenen Einsprüche sowie über die Gültigkeit der Wahl von
Amts wegen. Gemäß § 41 Abs. 1 Satz 1 KWahlG kann gegen diesen Beschluss
der Vertretung Klage erhoben werden. Wer - neben der Aufsichtsbehörde - die-
se Klage erheben darf, sagt die Vorschrift nicht. Das Berufungsgericht legt die
Bestimmung dahin aus, dass das Klagerecht denjenigen zusteht, denen § 39
Abs. 1 Satz 1 KWahlG auch das Einspruchsrecht gegen die Gültigkeit der Wahl
einräumt, also auch den Parteien und Wählergruppen, die an der Wahl teilge-
nommen haben. Dagegen ist nichts zu erinnern. Bundesrecht gebietet zwar
nicht, Parteien und Wählergruppen das Klagerecht gegen Beschlüsse der
Wahlprüfungsbehörde über die Gültigkeit einer Kommunalwahl zu gewähren,
steht dem aber auch nicht entgegen.
Die einschränkende Auslegung des Berufungsgerichts, dass dieses Klagerecht
nur solchen Parteien zusteht, die auch gemäß § 39 KWahlG Einspruch einge-
legt haben, verletzt jedoch Bundesrecht. Denn sie führt dazu, dass zwar die
angestrebte Ungültigerklärung einer Wahl vor dem Verwaltungsgericht weiter
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verfolgt, nicht aber die Gültigkeit der Wahl verteidigt werden kann. Das
missachtet den Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien, der seine
Grundlage in Art. 21 Abs. 1 GG findet und sich als Bestandteil der demokrati-
schen Grundordnung von selbst versteht (vgl. BVerfG, Urteil vom 5. April 1952
- 2 BvH 1/52 - BVerfGE 1, 208 <242>). Er ergibt sich aus der Bedeutung, die
der Freiheit der Parteigründung und dem Mehrparteienprinzip für die freiheitli-
che Demokratie zukommt, und aus dem vom Grundgesetz gewollten freien und
offenen Prozess der Meinungs- und Willensbildung des Volkes. Inhaltlich ver-
langt der Grundsatz der Chancengleichheit, dass jeder Partei, jeder Wähler-
gruppe und ihren Wahlbewerbern grundsätzlich die gleichen Möglichkeiten im
gesamten Wahlverfahren eingeräumt werden. Auf Landesebene folgt das Recht
der Parteien auf Chancengleichheit bei Wahlen aus ihrem in Art. 21 Abs. 1 GG
umschriebenen verfassungsrechtlichen Status, der unmittelbar auch für die
Länder gilt und Bestandteil der Landesverfassungen ist (BVerfG, Urteil vom
13. Februar 2008 - 2 BvK 1/07 - BVerfGE 120, 82 <104> m.w.N.).
Das Recht der politischen Parteien auf Chancengleichheit hängt eng mit den
Grundsätzen der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl zusammen, die ihre
Prägung durch das Demokratieprinzip erfahren. Deshalb ist in diesem Bereich
- ebenso wie bei der durch die Grundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit der
Wahl verbürgten gleichen Behandlung der Wähler - Gleichheit in einem strikten
und formalen Sinn zu fordern (vgl. BVerfG, Urteil vom 13. Februar 2008 a.a.O.
<105>; BVerwG, Urteil vom 22. Oktober 2008 - BVerwG 8 C 1.08 - BVerwGE
132, 166 <174 f.> = Buchholz 415.10 KommWahlR Nr. 7). Der Grundsatz der
Chancengleichheit unterliegt zwar keinem absoluten Differenzierungsverbot,
wegen der strikten und formalen Gleichheit hat der Gesetzgeber aber nur einen
eng bemessenen Spielraum für Differenzierungen (Urteil vom 22. Oktober 2008
a.a.O. <175>).
Beherrscht der Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien das gesamte
Wahlverfahren, so gilt er auch im Verfahren der Wahlprüfung einschließlich ei-
nes sich hieran anschließenden Rechtsstreits. Es mag offen bleiben, ob des-
halb Parteien und Wählergruppen durch das jeweilige Verfahrens- und Prozess-
recht in jeder Hinsicht gleichgestellt sein müssen oder ob Besonderheiten, die
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etwa mit der jeweiligen Rolle im Verfahren (als Kläger, als Beigeladener, als
Rechtsmittelführer usw.) verbunden sind, Rechnung getragen werden kann. Der
Grundsatz der Chancengleichheit ist jedoch berührt, wenn Verfahrensrechte
zuerkannt oder vorenthalten werden und dies die Möglichkeiten der Parteien
betrifft, ihre Rolle im politischen Prozess, namentlich bei der Wahl, wirksam zur
Geltung zu bringen. So liegt es, wenn das jeweilige Wahlrecht - wie hier das
Kommunalwahlrecht in Nordrhein-Westfalen - den Parteien und Wählergruppen
nicht nur das Recht einräumt, Wahlvorschläge einzureichen (§§ 15 ff. KWahlG),
sondern auch das Recht, gegen die Wahl Einspruch einzulegen oder gegen ei-
nen Beschluss der Wahlprüfungsbehörde über die Gültigkeit der Wahl Klage zu
erheben. Dies eröffnet den Parteien die Möglichkeit, ihre Rolle im politischen
Prozess im Wahlprüfungsverfahren fortzusetzen. Der Grundsatz der Chancen-
gleichheit der Parteien gebietet dann im Verfahren der Wahlprüfung die strikte
Waffengleichheit der konkurrierenden Parteien.
Damit ist nicht vereinbar, Parteien und Wählergruppen, die an einer Kommu-
nalwahl teilgenommen haben und die die Wahl für ungültig halten, das Recht
einzuräumen, gegen die Entscheidung der Wahlprüfungsbehörde, mit der die
Wahl für gültig erklärt wird, Klage zu erheben, zugleich aber anderen Parteien
und Wählergruppen, die die Wahl für gültig halten, ein Klagerecht gegen die
Entscheidung der Wahlprüfungsbehörde, mit der die Wahl für ungültig erklärt
wird, zu versagen. Sachliche Gründe, welche diese Ungleichbehandlung aus-
nahmsweise rechtfertigen könnten, sind nicht ersichtlich.
Das Berufungsgericht verweist auf den Umstand, dass das Landesrecht nur
den Anspruch vorsieht, eine Wahl für ungültig zu erklären (§ 39 Abs. 1 Satz 1
i.V.m. § 40 Abs. 1 Buchst. a bis c KWahlG), dass es jedoch einen gegenläufi-
gen Anspruch, die Wahl für gültig zu erklären, keinem Verfahrensbeteiligten
einräumt (§ 40 Abs. 1 Buchst. d KWahlG), und knüpft hieran die Schlussfolge-
rung, dass nur klagen dürfe, wer zuvor - erfolglos - Einspruch gegen die Wahl
erhoben habe. Dies vermag nicht zu überzeugen. Richtig und naheliegend ist,
dass Einspruch gegen die Wahl nur einlegen darf, wer die Wahl für fehlerhaft
und deshalb für ungültig hält; wer die Wahl hingegen für einwandfrei erachtet,
hat keinen Anlass zu einem Einspruch. Schon deshalb verbietet sich aber, hie-
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raus Folgerungen auch für die Befugnis abzuleiten, den Beschluss der Wahl-
prüfungsbehörde über die Gültigkeit der Wahl zur gerichtlichen Überprüfung zu
stellen. Eine solche Folgerung beschränkt das Klagerecht von vornherein auf
den Angreifer, schließt aber den Verteidiger der Wahl aus, ohne für diese Un-
gleichbehandlung einen anderen Grund als eben den des vorgängigen Ein-
spruchs anzuführen.
Auch der Hinweis der Beklagten auf die Besonderheiten des Wahlprüfungs-
rechts vermag die Ungleichbehandlung der Parteien nicht zu rechtfertigen.
Richtig ist, dass das Wahlprüfungsrecht bei Bundestags- ebenso wie bei Land-
tags- und Kommunalwahlen ein weitgehend objektiviertes Verfahren ist, das auf
eine rasche Klärung der Gültigkeit einer Wahl zielt, um so die Legitimations-
grundlage der gewählten Vertretungskörperschaft und der von ihr gefassten
Beschlüsse möglichst zu sichern. Aus diesem Grunde können auch Einspruchs-
und Klagerechte - jedenfalls jenseits der Wahrnehmung subjektiver Wahlrech-
te - beschränkt oder gar ausgeschlossen werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom
12. Dezember 1991 - 2 BvR 562/91 - BVerfGE 85, 148 <159>). Das rechtfertigt
aber nicht, den Kreis der Klageberechtigten ungleich zu beschränken. Die mit
der Inanspruchnahme von Einspruchs- und Klagerechten zwangsläufig verbun-
denen Verzögerungen bei der endgültigen Feststellung des Wahlergebnisses
nimmt der Gesetzgeber in Kauf, wenn er solche Rechte einräumt. Eine unglei-
che Verkürzung dieser Klagerechte kann nicht mit der Erwägung gerechtfertigt
werden, deren Wahrnehmung koste zuviel Zeit.
Die Beklagte hat schließlich vorgebracht, die Parteien dürften gegenüber den
Wahlberechtigten nicht privilegiert werden, schon weil beide Gruppen in § 39
Abs. 1 KWahlG nebeneinander gestellt seien; auch Wahlberechtigte dürften
aber nur klagen, um einen vorherigen Einspruch weiter zu verfolgen; wenn das
Klagerecht für Parteien auf Beschlüsse der Wahlprüfungsbehörde ausgedehnt
werde, welche die Wahl für ungültig erklären, dann müsse dies auch für alle
Wahlberechtigten gelten, was aber dem Ziel einer Konzentration und Beschleu-
nigung des Wahlprüfungsverfahrens zuwiderlaufe. Auch damit wird ein tragfähi-
ger Grund für eine Verschiedenbehandlung der Parteien nicht dargetan. Die
Beklagte verkennt schon, dass für die gebotene Gleichbehandlung der Parteien
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untereinander die Behandlung anderer Verfahrensbeteiligter - und damit auch
diejenige der Wahlberechtigten - unerheblich ist. Richtig ist, dass für eine unter-
schiedliche Behandlung von Parteien und Wählergruppen einerseits und von
Wahlberechtigten andererseits sachliche Gründe bestehen müssen; das folgt
freilich nicht aus dem Gebot der Chancengleichheit der Parteien, sondern aus
dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG). Solche sachlichen Gründe
bestehen aber. Zum einen ergibt sich ein Klagerecht der Wahlberechtigten in
bestimmtem Umfang schon aus ihrem aktiven und passiven Wahlrecht. Wenn
das Kommunalwahlrecht Wahlberechtigten auch unabhängig hiervon ein wei-
tergehendes Einspruchs- und Klagerecht einräumt - was vielfach an den Nach-
weis eines Unterstützerquorums gebunden wird -, so muss sich auch dies nicht
zwangsläufig an den Einspruchs- und Klagerechten der Parteien und Wähler-
gruppen orientieren. Der Gesetzgeber kann nämlich - zum anderen - bei der
Zubilligung von Verfahrensrechten im Wahlprüfungsverfahren in Rechnung stel-
len, dass den Parteien und Wählergruppen eine besondere Bedeutung für die
politische Willensbildung des Volkes und eine besondere Funktion in der parla-
mentarischen Demokratie zukommt.
§ 41 Abs. 1 Satz 1 KWahlG ist für die nach allem gebotene Gleichbehandlung
der Parteien und Wählergruppen bei der Eröffnung der Klage gegen den Be-
schluss der Wahlprüfungsbehörde offen. Verfassungsrechtliche Bedenken ge-
gen die Vorschrift bestehen daher nicht; einer Vorlage an das Bundesverfas-
sungsgericht nach Art. 100 Abs. 1 GG bedarf es nicht. Mit seiner einschränken-
den Auslegung der genannten Vorschrift verletzt das Berufungsgericht jedoch
Bundesrecht; seine Entscheidung über die Berufung des Klägers kann deshalb
keinen Bestand haben.
2. Da sich das Berufungsgericht mit den weiteren Fragen des Verfahrens noch
nicht befasst hat, war sein Beschluss aufzuheben und die Sache zur anderwei-
tigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1
Nr. 2 VwGO). Dabei wird das Berufungsgericht zu beachten haben, dass seine
- nicht entscheidungstragend - geäußerte Auffassung, der Kläger gehöre als
„CDU-Gemeindeverband“ von vornherein nicht zum Kreis der Klageberechtig-
ten, klageberechtigt sei vielmehr nur der Vorstand eines Gebietsverbandes ei-
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ner Partei, mit Bundesrecht nicht vereinbar ist. Aus § 11 Abs. 3 Satz 2 PartG
i.V.m. § 26 Abs. 1 Satz 2 und 3 BGB ergibt sich, dass der Vorstand den Ge-
bietsverband vertritt. Eine solche Vertretung erfolgt aber immer im Namen und
für den Gebietsverband der Partei. Dieser kann gemäß § 61 Nr. 2 VwGO nach
Maßgabe der Satzung der Partei unter seinem Namen klagen und verklagt wer-
den. Mit der Regelung ihrer Vertretung in § 11 Abs. 3 PartG werden keine eige-
nen Rechte des Vorstandes begründet. Hiervon will § 41 Abs. 1 Satz 1 i.V.m.
§ 39 Abs. 1 Satz1 KWahlG nicht abweichen; das Berufungsgericht verweist
vielmehr selbst auf § 11 PartG und § 26 BGB.
Darüber hinaus wird das Berufungsgericht vor einer Entscheidung in der Sache
den SPD-Gemeindeverband beizuladen haben (§ 65 Abs. 2 VwGO entspr.).
Zwar begründet die Wahlprüfung kein Rechtsverhältnis, an dem die einspruch-
führende Partei mit eigenen Rechten beteiligt wäre. Wenn aber das jeweilige
Wahlprüfungsrecht auch Parteien das Recht einräumt, den Beschluss der
Wahlprüfungsbehörde über die Gültigkeit der Wahl mit der Klage anzufechten,
dann setzt sich die gebotene Waffengleichheit der Parteien im gerichtlichen
Verfahren dahin fort, dass die einspruchführende Partei, wenn sie nicht Klägerin
ist, dann jedenfalls als Dritte am Prozess zu beteiligen ist; über die Klage und
über ihren Einspruch kann nur einheitlich entschieden werden.
Ob die Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes zur Ungültigerklärung der
Wahl führt, wird das Berufungsgericht nach Maßgabe des Landeswahlrechts zu
entscheiden haben. Dabei wird es berücksichtigen, dass sowohl nach Bundes-
recht (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Dezember 1991 a.a.O. <158 f., 160 f.>)
als auch nach nordrhein-westfälischem Landesrecht (vgl. OVG Münster, Urteil
vom 22. Februar 1991 - 15 A 1518/90 - OVGE 42, 152 <156>) die abstrakte
Möglichkeit von Manipulationen nicht ausreicht, um die Wahl für ungültig zu er-
klären. Vielmehr muss in jedem Fall ein Einfluss auf die Mandatsverteilung
möglich erscheinen; es muss also ermittelt werden, ob die festgestellten Mängel
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im konkreten Fall Auswirkungen auf das Wahlergebnis und darüber hinaus auf
die Zuteilung von Mandaten haben konnten.
Prof. Dr. Dr. h.c. Rennert
Dr. von Heimburg
Dr. Deiseroth
Dr. Hauser
Dr. Held-Daab
B e s c h l u s s
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren auf 15 000 €
festgesetzt.
Prof. Dr. Dr. h.c. Rennert
Dr. von Heimburg
Dr. Deiseroth
Dr. Hauser
Dr. Held-Daab
Sachgebiet:
BVerwGE:
ja
Kommunalwahlrecht
Fachpresse:
ja
Rechtsquellen:
GG
Art. 21, 20, 28
VwGO
§ 42 Abs. 2
KWahlG NRW
§§ 39, 41
Stichworte:
Bürgermeisterwahl; Chancengleichheit; Chancengleichheit der Parteien; Demo-
kratieprinzip; Differenzierungsgrund, sachlicher; Einspruch; Einspruchsrecht;
Gemeindeverband; Klagebefugnis; Kommunalwahl; Parteien; Parteivorstand;
Ungültigerklärung; Waffengleichheit; Wahlbewerber; Wahlergebnis; Wahlprü-
fung; Wahlprüfungsverfahren; Wiederholungswahl.
Leitsatz:
Wenn der Gesetzgeber Parteien und Wählergruppen, die an einer Kommunal-
wahl teilgenommen haben, im Wahlprüfungsverfahren das Recht einräumt, ge-
gen die Gültigkeit der Wahl Einspruch einzulegen und diesen mit einer Klage
fortzuführen, steht die Klagebefugnis im Fall der Ungültigerklärung der Wahl
auch einer Partei zu, die keinen Einspruch eingelegt hat, weil sie die Wahl für
gültig hält (Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien).
Urteil des 8. Senats vom 7. März 2012 - BVerwG 8 C 7.11
I. VG Minden vom 24.02.2010 - Az.: VG 3 K 3343/09 -
II. OVG Münster vom 05.11.2010 - Az.: OVG 15 A 860/10 -