Urteil des BVerwG vom 30.08.2012

Aufschiebende Wirkung, Vorläufiger Rechtsschutz, Klagebefugnis, Adresse

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 7 VR 6.12 (7 A 9.12)
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 7. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 30. August 2012
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Nolte und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Krauß und Brandt
beschlossen:
Die Klage der Antragstellerin gegen den Planfeststel-
lungsbeschluss des Eisenbahn-Bundesamtes vom
30. April 2012 hat aufschiebende Wirkung.
Die Antragsgegnerin und die Beigeladene tragen die Ge-
richtskosten und die außergerichtlichen Kosten der An-
tragstellerin je zur Hälfte; im Übrigen tragen die Beteiligten
ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 30 000 € fest-
gesetzt.
G r ü n d e :
I
Die Antragstellerin ist Eigentümerin eines u.a. mit Wohngebäuden bebauten
Anwesens in der Gemeinde L., das unmittelbar an die zweigleisige Eisenbahn-
strecke 6088 Berlin Gesundbrunnen - Stralsund angrenzt. Sie begehrt vorläufi-
gen Rechtsschutz gegen den eisenbahnrechtlichen Planfeststellungsbeschluss
für das Vorhaben „Ausbaustrecke Berlin - Rostock, PRA1.2 Nassenheide (e) -
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Löwenberg (e)“, Bahn-km 33,690 - 44,837 vom 30. April 2012. Die beigeladene
Vorhabenträgerin will die gesamte Strecke in mehreren Planungsabschnitten
ertüchtigen. Mit dem Ausbauvorhaben sollen u.a. die Streckengeschwindigkeit
für Personenzüge von 120 km/h auf 160 km/h und die Radsatzlast für den Gü-
terverkehr von 22,5 t auf 25 t erhöht werden. Hierfür sollen die Gleistrassierung
unter Beibehaltung der Linienführung überarbeitet, der Erdkörper und der
Gleisunterbau abschnittsweise durch den Einbau einer Schutzschicht ertüchtigt
sowie die Oberleitungsanlage umgebaut werden. Im Verwaltungsverfahren hat-
te die Antragstellerin unter Angabe einer unzutreffenden Adresse Einwendun-
gen gegen die vom Planvorhaben ausgehenden Lärm- und Erschütterungsbe-
lastungen erhoben. Nach dem Planfeststellungsbeschluss besteht für das
Grundstück der Antragstellerin ein Anspruch auf passiven Lärmschutz. Mit ihrer
gegen den Planfeststellungsbeschluss gerichteten Klage begehrt die Antrag-
stellerin im Hauptantrag dessen Aufhebung sowie hilfsweise dessen Ergänzung
um Maßnahmen des aktiven Lärmschutzes und um weitere geeignete Maß-
nahmen gegen unzumutbare Beeinträchtigungen durch Erschütterungen.
II
1. Über den Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes entscheidet
nach § 50 Abs. 1 Nr. 6 VwGO in Verbindung mit lfd. Nr. 12 der Anlage zu § 18e
Abs. 1 AEG - Schienenwege mit erstinstanzlicher Zuständigkeit des Bundes-
verwaltungsgerichts - sowie § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO (analog) das Bundes-
verwaltungsgericht als Gericht der Hauptsache.
Die Antragstellerin begehrt nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO die Anordnung
der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage. Der so gefasste Antrag ist allerdings
nicht statthaft. Denn der angefochtene Planfeststellungsbeschluss ist nicht von
Gesetzes wegen sofort vollziehbar.
Nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Alt. 1 VwGO in Verbindung mit § 18e Abs. 2
Satz 1 AEG hat die Anfechtungsklage gegen einen Planfeststellungsbeschluss
für den Bau oder die Änderung von Betriebsanlagen der Eisenbahnen des Bun-
des nur dann keine aufschiebende Wirkung, wenn für das betreffende Vorha-
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ben nach dem Bundesschienenwegeausbaugesetz vordringlicher Bedarf fest-
gestellt ist. Das ist hier - soweit ersichtlich - nicht der Fall. Der Planfeststel-
lungsbeschluss verweist unter B.6 (S. 150) lediglich darauf, dass in der Anlage
(zu § 1) des Gesetzes über den Ausbau der Schienenwege des Bundes
- Bundesschienenwegeausbaugesetz - (BSWAG) (vom 15. November 1993,
BGBl I S. 1874, zuletzt geändert durch Verordnung vom 31. Oktober 2006,
BGBl I S. 2407) das Vorhaben „ABS Berlin - Rostock (- Skandinavien)
(2. Baustufe)“ unter „3. Internationale Projekte“ als lfd. Nr. 4 eingestellt ist. Die
dem vordringlichen Bedarf zugeordneten Vorhaben sind jedoch ausschließlich
unter Teil 1 Vordringlicher Bedarf - getrennt nach laufenden und fest disponier-
ten Vorhaben (a) und nach neuen Vorhaben (b) - aufgeführt. In Teil 1 Buchst. b
findet sich zwar unter der lfd. Nr. 31 eine Öffnungsklausel, indem dort „Interna-
tionale Projekte gemäß Teil 3 nach Vorliegen der Voraussetzungen“ erwähnt
werden. In den einleitenden Bemerkungen zu Teil 3 wird hierzu ausgeführt,
dass zum Ausbau dieser Strecken eine Vereinbarung mit den jeweils betroffe-
nen Nachbarländern erforderlich ist. Zur Aufnahme dieser Strecken in den Vor-
dringlichen Bedarf bzw. den Weiteren Bedarf müssen außerdem die üblichen
Kriterien erfüllt werden. Der Senat vermag jedoch nicht zu erkennen, dass die
hiernach erforderliche Aufnahme in den vordringlichen Bedarf stattgefunden
hat. Es spricht zwar viel dafür, dass hierfür eine gesetzgeberische Entschei-
dung, wie sie § 4 Abs. 1 BSWAG für die Anpassung und Aufstellung eines Be-
darfsplans vorschreibt (siehe Bundesverkehrswegeplan 2003, BTDrucks
15/2050 S. 11, Ziff. 3.2.5, sowie BTDrucks 15/1656 S. 7), nicht erforderlich ist.
Denn die internationalen Projekte in Teil 3 sind, wenn auch unter dem Vorbehalt
weiterer Prüfung, dem Bedarf bereits zugeordnet. Für die Aufnahme in den vor-
dringlichen Bedarf mag dann grundsätzlich eine Verwaltungsentscheidung aus-
reichen. Die rechtlichen Kriterien für eine solche Zuweisung, die mit dem Ver-
weis auf die üblichen Voraussetzungen umschrieben werden, werden durch die
entsprechenden Erläuterungen im Bundesverkehrswegeplan 2003 (BTDrucks
15/2050) präzisiert. So muss das Ergebnis einer Prüfung der wirtschaftlichen
Rentabilität positiv ausfallen. Die wirtschaftliche Vorteilhaftigkeit des Vorhabens,
die Grundlage für die Einteilung in die Dringlichkeitsstufe ist, wird nach dem
Nutzen-Kosten-Verhältnis bestimmt; daneben treten strukturpolitische Gründe
nach der Raumwirksamkeitsanalyse sowie die Ergebnisse der Umweltrisiko-
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und der FFH-Verträglichkeitseinschätzung (siehe BTDrucks 15/2050 S. 16
Ziff. 3.4.6, 3.4.6.1, S. 35 Ziff. 7.1, S. 42 Ziff. 7.2.3; im Anschluss daran Gesetz-
entwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des
Bundesschienenwegeausbaugesetzes, BTDrucks 15/1656 S. 10, S. 15
Ziff. 1.1.2, S. 16 Ziff. 3). Jedenfalls muss die Aufnahme aber verlautbart wer-
den, weil mit ihr eine für den gerichtlichen Rechtsschutz wesentliche Weichen-
stellung verbunden ist. Auf eine solche Verlautbarung nehmen die Beteiligten
nicht Bezug.
Fehlt es demnach am gesetzlichen Sofortvollzug, kann die Antragstellerin ge-
richtlichen Rechtsschutz, der angesichts der von der Beigeladenen bereits ins
Werk gesetzten Bauarbeiten geboten ist, sachdienlich in entsprechender An-
wendung des § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO mit einem Antrag auf Feststellung der
aufschiebenden Wirkung der Klage erreichen (vgl. schon Beschluss vom
17. Dezember 1965 - BVerwG 2 C 32.65 - Buchholz 232 § 44 BBG Nr. 8 S. 21
sowie Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwal-
tungsstreitverfahren, 6. Aufl. 2011, Rn. 1040 ff., 1047 m.w.N.).
2. Dieser Antrag hat Erfolg, denn der von der Klägerin fristgerecht erhobenen
Klage kommt nach der Grundregel des § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO aufschieben-
de Wirkung zu. Anderes käme hier nur dann in Betracht, wenn die Klage man-
gels Klagebefugnis (§ 42 Abs. 2 VwGO) unzulässig wäre (Urteil vom
30. Oktober 1992 - BVerwG 7 C 24.92 - Buchholz 310 § 137 VwGO Nr. 175,
; vgl. auch Puttler, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Aufl. 2008, § 80
Rn. 31 f.; Finkelnburg/Dombert/Külpmann, a.a.O. Rn. 646 ff., 650). An der Kla-
gebefugnis fehlt es, wenn der Anfechtende nicht geltend machen kann, durch
den angefochtenen Verwaltungsakt in seinen Rechten verletzt zu sein, wenn
also offensichtlich und eindeutig nach keiner Betrachtungsweise die vom Kläger
behaupteten Rechte bestehen oder ihm zustehen können (stRspr, siehe etwa
Urteile vom 13. Juli 1973 - BVerwG 7 C 6.72 - BVerwGE 44, 1 <2 f.> =
Buchholz 442.07 § 1 FeO Nr. 1 S. 2 f., vom 17. Juni 1993 - BVerwG 3 C 3.89 -
BVerwGE 92, 313 <315 f.> = Buchholz 451.74 § 10 KHG Nr. 4 S. 3 und vom
16. Juni 2011 - BVerwG 4 CN 1.10 - BVerwGE 140, 41 <45> = Buchholz 310
§ 47 VwGO Nr. 182 S. 41). Diese engen Voraussetzungen liegen hier nicht vor.
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Die Antragstellerin wendet sich in erster Linie gegen die Belastung ihres Anwe-
sens durch den vom Bahnbetrieb herrührenden Lärm und die Erschütterungen
sowie gegen die zeitweilige Inanspruchnahme von Teilen eines ihrer Grundstü-
cke während der Bauphase und die hierauf bezogenen Entschädigungsrege-
lungen.
Die damit verbundene Möglichkeit der Geltendmachung einer Verletzung in
eigenen Rechten, insbesondere dem Eigentumsrecht, kann nicht unter Hinweis
auf den in § 18a Nr. 7 Satz 1 AEG geregelten und im gerichtlichen Verfahren
fortwirkenden Einwendungsausschluss verneint werden, der an die Obliegen-
heit anknüpft, innerhalb der in § 18a AEG in Verbindung mit § 73 Abs. 4 Satz 1
VwVfG bestimmten Frist Einwendungen zu erheben. Es ist nämlich zweifelhaft,
ob - wie die Beigeladene meint - der Beachtlichkeit des Einwendungsschrei-
bens der Verfahrensbevollmächtigten der Antragstellerin vom 20. April 2011 die
Angabe einer unzutreffenden Adresse des betroffenen Grundstücks entgegen-
steht. Denn das Schreiben verweist zum einen auf die Lage des Grundstücks
unmittelbar an der Eisenbahnstrecke und nimmt zum anderen Bezug auf ein
beigefügtes - soweit ersichtlich aber nicht zu den Verfahrensakten genomme-
nes - Lichtbild, aus dem sich diese räumliche Situation ergeben soll. Für die
Beigeladene musste sich das Vorliegen eines diesbezüglichen Irrtums demnach
aufdrängen. Das führt dazu, dass der Antragstellerin die Möglichkeit, eine Ver-
letzung in eigenen Rechten geltend zu machen, nicht offenkundig und nach je-
der erdenklichen Betrachtungsweise wegen Einwendungsausschlusses abzu-
sprechen ist. Angesichts dessen kann offen bleiben, ob ein umfassender Ein-
wendungsausschluss ausnahmsweise nicht erst auf der Ebene der Begründet-
heitsprüfung zu berücksichtigen ist, sondern schon die Klagebefugnis entfallen
lässt.
Soweit die Antragstellerin eine unzureichende Bewältigung der Lärmproblema-
tik rügt, gilt zwar in der Regel, dass hieraus allenfalls ein Anspruch auf Ergän-
zung des Planfeststellungsbeschlusses um aktive oder passive Lärmschutz-
maßnahmen folgt, den die Antragstellerin mit ihrem Hilfsantrag insoweit sach-
dienlich verfolgt. Auch insofern ist indessen ein Aufhebungsanspruch als An-
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satzpunkt der aufschiebenden Wirkung der Klage nicht von vornherein ausge-
schlossen; ein solcher Anspruch besteht nämlich dann, wenn aufgrund einer
unbewältigten Lärmbelastung die gesamte fachplanerische Abwägung wegen
mangelnder Ausgewogenheit keinen Bestand mehr haben könnte (vgl. zuletzt
Beschluss vom 24. Januar 2012 - BVerwG 7 VR 13.11 - juris Rn. 15 m.w.N.).
Darüber ist ebenfalls im Rahmen der Prüfung der Begründetheit der Klage zu
entscheiden. Entsprechendes gilt für den Erschütterungsschutz.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 und 3, § 159 Satz 1 VwGO in
Verbindung mit § 100 Abs. 1 ZPO. Die Voraussetzungen des § 154 Abs. 3
VwGO liegen vor, denn der im Klageverfahren ausdrücklich gestellte Abwei-
sungsantrag gilt entsprechend für das Verfahren des vorläufigen Rechtsschut-
zes.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG.
Dr. Nolte
Krauß
Brandt
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Sachgebiet:
BVerwGE:
nein
Recht des Ausbaus von Schienenwegen
Fachpresse: ja
Rechtsquellen:
VwGO
§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3
AEG
§ 18e Abs. 2 Satz 1
BSWAG
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Stichworte:
Schienenweg; Ausbau; Planfeststellungsbeschluss; Anfechtungsklage; aufschieben-
de Wirkung; gesetzlicher Sofortvollzug; vordringlicher Bedarf; internationales Projekt.
Leitsatz:
Ein Planfeststellungsbeschluss für ein Vorhaben, das in der Anlage (zu § 1) des Ge-
setzes über den Ausbau der Schienenwege des Bundes (BSWAG) unter „Teil 3
Internationale Projekte“ aufgeführt ist, ist nur dann kraft Gesetzes sofort vollziehbar
(§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Alt. 1 VwGO i.V.m. § 18e Abs. 2 Satz 1 AEG), wenn die
Aufnahme in den vordringlichen Bedarf (Teil 1 Buchst. b lfd. Nr. 31 der Anlage) ver-
lautbart worden ist.
Beschluss des 7. Senats vom 30. August 2012 - BVerwG 7 VR 6.12