Urteil des BVerwG vom 20.11.2014

Treu Und Glauben, Grundsatz der Unmittelbarkeit, Rechtliches Gehör, Gefahr

Sachgebiet:
Umweltschutzrecht, insbesondere Chemikalienrecht und
Immissionsschutzrecht
Rechtsquelle/n:
VwGO § 87 Abs. 3 Satz 2; § 96 Abs. 2
BauNVO § 5
BauGB § 34 Abs. 1 und 2; § 35 Abs. 3 Satz 1
BImSchG § 3 Abs. 4; § 5 Abs. 1 Nr. 1 und 2
TA Luft Nr. 4.8
Titelzeile:
Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens zu Errichtung und
Betrieb einer Schweinemastanlage
Entscheidungsart:
Standardfall Beschluss
unbegründete Beschwerde
BVerwGE: nein
Fachpresse: nein
Stichwort/e:
Schweinemastanlage; gemeindliches Einvernehmen; Unmittelbarkeit der
Beweisaufnahme; Ortsbesichtigung; Dorfgebiet; GIRL (Geruchsimmissions-
Richtlinie); Bebauungszusammenhang; Bioaerosole; Keime; Endotoxine;
schädliche Umwelteinwirkung; Luftverunreinigung; Schutzpflicht; Gefahr;
Vorsorge; Sonderfallprüfung.
Leitsatz/-sätze:
Zur Frage, ob Luftverunreinigungen durch Bioaerosole in der Umgebung einer
Schweinemastanlage eine Gefahr im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG
darstellen (Rn. 16).
Beschluss des 7. Senats vom 20. November 2014 - BVerwG 7 B 27.14
I. VG Gießen vom 29. Dezember 2011
Az: VG 8 K 65/10.GI
II. VGH Kassel vom 1. April 2014
Az: VGH 9 A 2030/12
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 7 B 27.14
VGH 9 A 2030/12
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 7. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 20. November 2014
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Nolte,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Krauß und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Philipp
beschlossen:
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Hessischen Verwaltungs-
gerichtshofs vom 1. April 2014 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens
einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Beigela-
denen.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 10 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
I
Die Klägerin wendet sich gegen die Ersetzung ihres Einvernehmens zu Errich-
tung und Betrieb einer Schweinemastanlage.
Der Beklagte hat mit Bescheid vom 17. Dezember 2009 dem Beigeladenen
gemäß § 4 BImSchG die Genehmigung erteilt, im Außenbereich der Klägerin
eine Anlage zum Halten und zur Aufzucht von 1 602 Mastschweinen, 300 Auf-
zuchtferkeln, 28 Rindern und 20 Kälbern zu errichten und zu betreiben; das von
der Klägerin verweigerte Einvernehmen hat er ersetzt. Das Verwaltungsgericht
hat die Klage gegen die Ersetzung des Einvernehmens abgewiesen, der Ver-
waltungsgerichtshof die hiergegen gerichtete Berufung zurückgewiesen.
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II
Die auf sämtliche Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 VwGO gestützte Be-
schwerde gegen die Nichtzulassung der Revision hat keinen Erfolg.
1. Die Verfahrensrügen greifen nicht durch.
a) Die Klägerin rügt einen Verstoß gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der
Beweisaufnahme (§ 96 Abs. 2 VwGO). Das Gericht habe die Inaugenschein-
nahme des Ortsteils F. nicht der Berichterstatterin übertragen dürfen, sondern
die Ortsbesichtigung durch sämtliche Richter durchführen müssen.
Die Rüge ist unbegründet. Gemäß § 96 Abs. 2 VwGO kann das Gericht in ge-
eigneten Fällen schon vor der mündlichen Verhandlung durch eines seiner Mit-
glieder als beauftragten Richter Beweis erheben lassen. Für die Frage, ob ein
geeigneter Fall vorliegt, kann auf die Kriterien zurückgegriffen werden, die für
die Beweisaufnahme durch den Vorsitzenden oder Berichterstatter im vorberei-
tenden Verfahren nach § 87 Abs. 3 Satz 2 VwGO gelten (Beschluss vom
21. April 1994 - BVerwG 1 B 14.94 - Buchholz 11 Art. 140 GG Nr. 54 S. 3 =
NJW 1994, 1975 - juris Rn. 4). Nach dieser Vorschrift kommt eine Beweisauf-
nahme durch den Vorsitzenden oder Berichterstatter in Betracht, wenn von
vornherein anzunehmen ist, dass das Gericht das Beweisergebnis auch ohne
unmittelbaren Eindruck von dem Verlauf der Beweisaufnahme sachgemäß zu
würdigen vermag. Das kann auch bei einer Ortsbesichtigung der Fall sein
(Beschluss vom 15. August 1997 - BVerwG 4 B 130.97 - Buchholz 310 § 87
VwGO Nr. 9 S. 2 - juris Rn. 3). Fragen der persönlichen Würdigung spielen bei
der Beschreibung der örtlichen Verhältnisse keine ausschlaggebende Rolle; die
Beteiligten haben es zudem in der Hand, dass in die Niederschrift alle tatsächli-
chen Umstände aufgenommen werden, denen sie, aus welchen Gründen auch
immer, Bedeutung beimessen.
Warum ausgehend hiervon die Ortsbesichtigung für eine Übertragung auf die
Berichterstatterin nicht geeignet gewesen sein sollte, legt die Klägerin nicht dar.
Um sich eine zutreffende Vorstellung von den Örtlichkeiten zu bilden, war der
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Verwaltungsgerichtshof nicht ausschließlich auf das Protokoll des Ortstermins
angewiesen; er konnte sich auch auf die bei den Akten befindlichen Luftbilder,
Karten und Pläne des Gemeindegebiets stützen (UA S. 22, juris Rn. 55). Dass
die Frage nach dem Gebietscharakter - wie die Klägerin vorträgt - zu den Kern-
fragen des Rechtsstreits gehört, steht der Übertragung der Ortsbesichtigung auf
die Berichterstatterin nicht entgegen. Wäre der Gebietscharakter nicht ent-
scheidungserheblich, hätte für eine Ortsbesichtigung von vornherein kein An-
lass bestanden.
b) Die Klägerin rügt darüber hinaus einen Verstoß gegen das Gebot, rechtliches
Gehör zu gewähren. Der Verwaltungsgerichtshof habe sich im Urteil an vier
Stellen ohne vorherigen Hinweis auf Feststellungen gestützt, die vom im Be-
weisbeschluss bezeichneten Beweisthema nicht umfasst und im Protokoll des
Ortstermins nicht enthalten seien. Das Urteil stelle insoweit eine Überra-
schungsentscheidung dar.
Auch diese Rüge ist unbegründet. Der Verwaltungsgerichtshof hat an den von
der Klägerin bezeichneten Stellen des Urteils keine Anhaltspunkte dafür gese-
hen, dass der Beigeladene die Auflagen der immissionsschutzrechtlichen Ge-
nehmigung nicht einhalten werde (UA S. 29, juris Rn. 68), dass das Gutachten
H. nicht alle Geruchsquellen in der Ortslage berücksichtigt haben könnte (UA
S. 30 f., juris Rn. 73), dass 20 Tierplätze 400 bis 500 m entfernt noch wahr-
nehmbar sein könnten (UA S. 31, juris Rn. 74) und dass Rinderställe für ge-
wöhnlich nicht zwangsbelüftet würden (UA S. 32, juris Rn. 76). Ergänzend hat
er jeweils dargelegt, dass sich Anhaltspunkte hierfür auch im Ortstermin nicht
ergeben hätten. Der Verwaltungsgerichtshof hat mithin nicht bestimmte Tatsa-
chen positiv festgestellt, sondern lediglich dargelegt, warum kein Anlass be-
stand, den Einwendungen der Klägerin weiter nachzugehen. Insoweit hätte es
ihr oblegen, entsprechende Anhaltspunkte darzulegen. Dass der Verwaltungs-
gerichtshof ihren Einwänden ohne eine solche Darlegung nicht gefolgt ist, konn-
te sie nicht überraschen. Bezogen auf die Zwangsbelüftung hat der Verwal-
tungsgerichtshof es nicht damit bewenden lassen, die Behauptung der Klägerin,
Rinderställe würden für gewöhnlich nicht zwangsbelüftet, zurückzuweisen. Er
hat darüber hinaus festgestellt, dass die im Gutachten H. angenommene
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Zwangsbelüftung im in Rede stehenden Stall tatsächlich vorhanden sei. Auch
insoweit wäre es aber Sache der Klägerin gewesen, ihren Einwand gegen das
Gutachten H. in tatsächlicher Hinsicht zu untermauern. Unabhängig hiervon ist
nicht ersichtlich, inwiefern sie von dieser Feststellung überrascht worden sein
sollte. Dass die Feststellung unrichtig sei, hat sie nicht geltend gemacht.
2. Die geltend gemachte Abweichung im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO
von dem Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. Januar 1996
- BVerwG 4 B 7.96 (juris) liegt nicht vor. Das Bundesverwaltungsgericht hat in
diesem Beschluss den Rechtssatz aufgestellt, dass ein Dorfgebiet im Sinne von
§ 5 BauNVO ein „ländliches Mischgebiet“ sei, dessen Charakter nicht von
einem bestimmten prozentualen Mischverhältnis der zulässigen Nutzungsarten
abhänge (ebenso Urteil vom 23. April 2009 - BVerwG 4 CN 5.07 - BVerwGE
133, 377 = Buchholz 406.12 § 5 BauNVO Nr. 9 Rn. 10). Einen hier-
von abweichenden Rechtssatz hat der Verwaltungsgerichtshof nicht aufgestellt.
Er hat festgestellt, dass es sich bei den tierhaltenden Betrieben im Ortskern um
ausgesprochen stattliche Höfe mit großen Stallungen handele; ihre Grund-
stücksflächen dürften zusammengenommen der Fläche des von der Klägerin
als Wohngebiet betrachteten Bereichs entsprechen oder sie sogar übertreffen
(UA S. 25, juris Rn. 62). Einen Rechtssatz zum prozentualen Verhältnis der
Nutzungsarten hat der Verwaltungsgerichtshof damit weder ausdrücklich noch
inzident aufgestellt. Er hat lediglich zum Ausdruck gebracht, dass die landwirt-
schaftliche Nutzung im hier in Rede stehenden Gebiet gegenüber der Wohnbe-
bauung nicht von untergeordneter Bedeutung ist, sondern das Gebiet prägt.
3. Die Rechtssache hat nicht die von der Klägerin geltend gemachte grundsätz-
liche Bedeutung.
a) Die Frage
„Kann bei der Einstufung von Gemeindeteilen als
Wohn-/Mischgebiet im Sinne der §§ 3, 4, 6 BauNVO bzw.
als Dorfgebiet im Sinne des § 5 BauNVO primär auf die
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auf sie einwirkenden Immissionen aus vorhandenen Anla-
gen abgestellt werden?“
bedarf, soweit sie sich in einem Revisionsverfahren stellen würde, nicht der Klä-
rung in einem Revisionsverfahren. Der Verwaltungsgerichtshof ist bei der für die
Anwendung der GIRL (Geruchsimmissions-Richtlinie) maßgeblichen Einstufung
der Wohnbebauung im Bereich a als Wohn-/Misch- oder als Dorfgebiet davon
ausgegangen, dass jedenfalls der Bereich b ohne jeden Zweifel ein typisches
Dorfgebiet sei. Wie weit dieses Dorfgebiet reicht, hat er in Anknüpfung an die
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Bestimmung der näheren
Umgebung im Sinne von § 34 Abs. 1 BauGB (Urteil vom 26. Mai 1978
- BVerwG 4 C 9.77 - BVerwGE 55, 369 <380> = Buchholz 406.11 § 34 Nr. 63
S. 47 f.) davon abhängig gemacht, inwieweit sich einerseits die ansässigen Be-
triebe auf die Umgebung und andererseits die Umgebung auf die Betriebe prä-
gend auswirken. Gegen diesen Ausgangspunkt erhebt auch die Klägerin keine
rechtlichen Bedenken. Bei der Frage, ob die in Rede stehende Wohnbebauung
durch die landwirtschaftlichen Betriebe im Ortskern geprägt wird, hat der Ver-
waltungsgerichtshof wesentlich, aber nicht ausschließlich auf die Geruchsvor-
belastung der Wohnbebauung abgestellt. Diese liege noch bei 14% der Jahres-
stunden; eine planerische Ausweisung als Wohn- oder Mischgebiet stoße damit
auf Bedenken (UA S. 24, juris Rn. 58). Deutlich werde die Prägung der Wohn-
bebauung durch die Landwirtschaft aber auch daran, dass es sich bei der rei-
nen Wohnnutzung um einen kleinräumigen Bereich handele, der an keiner Stel-
le in ein ausgedehnteres Wohngebiet übergehe (UA S. 25, juris Rn. 61). Die
alteingesessenen Betriebe dominierten auch heute noch optisch den Bereich
bis zum nördlichen Ortsrand, so dass das ganze Gebiet trotz seiner Ausdeh-
nung seit Kriegsende den Charakter eines Dorfgebiets beibehalte.
Inwieweit dieser Ansatz einen rechtsgrundsätzlichen Klärungsbedarf auslösen
sollte, zeigt die Klägerin nicht auf. Die für die Bestimmung des Bebauungszu-
sammenhangs erforderliche wertende und bewertende Betrachtung der konkre-
ten tatsächlichen Verhältnisse kann nach dem Sachzusammenhang, in den sie
eingebettet ist, zwar nur an äußerlich erkennbare, also mit dem Auge wahr-
nehmbare Gegebenheiten der vorhandenen Bebauung und der übrigen Gelän-
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deverhältnisse anknüpfen (Beschluss vom 13. Mai 2014 - BVerwG 4 B 38.13 -
juris Rn. 13). Ob innerhalb eines bestehenden - hier vom Verwaltungsgerichts-
hof bejahten - Bebauungszusammenhangs eine Wohnbebauung von in der Nä-
he befindlichen landwirtschaftlichen Betrieben als Dorfgebiet geprägt wird,
hängt aber auch davon ab, ob und inwieweit die Wohnbebauung Immissionen
ausgesetzt ist, die von den landwirtschaftlichen Betrieben verursacht werden.
Geprägt wird ein Grundstück nicht nur durch die in der Umgebung vorhandenen
baulichen Anlagen, sondern auch durch deren Nutzung und die dadurch auf
dem Grundstück verursachten Immissionen. Auch diese Prägung ist bei der
Gebietseinstufung zu berücksichtigen. Die Baugebietstypen der BauNVO unter-
scheiden sich gerade durch ihre Störempfindlichkeit und Schutzbedürftigkeit;
die Gebiete werden auch durch ein gebietstypisches Immissionsniveau charak-
terisiert (vgl. Urteil vom 16. September 2010 - BVerwG 4 C 7.10 - Buchholz
406.11 § 34 BauGB Nr. 212 Rn. 20).
b) Auch die Frage
„Sind Bioaerosole (Keime und Endotoxine) in unmittelba-
rer Nähe eines Lebensmittelmarktes eine Gefahr im Sinne
des § 5 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG und damit als schädliche
Umwelteinwirkungen im Sinne des § 35 Abs. 3 Satz 1
BauGB einzustufen?“
rechtfertigt nicht die Zulassung der Revision. Sie bedarf, soweit sie entschei-
dungserheblich wäre, nicht der Klärung in einem Revisionsverfahren.
Dass Bioaerosole grundsätzlich geeignet sind, z.B. als Auslöser von Atemwegs-
erkrankungen und Allergien nachteilig auf die Gesundheit zu wirken, hat der
Verwaltungsgerichtshof nicht in Abrede gestellt (UA S. 34; juris Rn. 81). Die
Eignung von einwirkenden Luftverunreinigungen im Sinne des § 3 Abs. 4
BImSchG, einen Schaden herbeizuführen, genügt jedoch nicht, um Schutzan-
sprüche gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG zu begründen. Die immissions-
schutzrechtliche Schutzpflicht greift als Instrument der Gefahrenabwehr nur ein,
wenn die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts besteht. Die
insoweit zu stellenden Anforderungen sind in der Rechtsprechung des Bundes-
verwaltungsgerichts geklärt. Der Senat hat hierzu in seinem Urteil vom
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11. Dezember 2003 - BVerwG 7 C 19.02 - BVerwGE 119, 329 <332 f.> - darge-
legt:
„Sie dient der Abwehr erkannter Ge-
fahren und der Vorbeugung gegenüber künftigen Schä-
den, die durch solche Gefahren hervorgerufen werden
können. Ob Umwelteinwirkungen im Einzelfall geeignet
sind, Gefahren herbeizuführen, unterliegt der verwal-
tungsgerichtlichen Prüfung <253>).
Eine Gefahr liegt nach der klassischen Begriffsdefinition
dort vor, wo
aus gewissen gegenwärtigen Zuständen
nach dem Gesetz der Kausalität gewisse andere Schaden
bringende Zustände und Ereignisse erwachsen werden‘
(PrOVG, Urteil vom 15. Oktober 1894, PrVBl 16, 125
<126>). Daran fehlt es bei Ungewissheit über einen Scha-
denseintritt. Potentiell schädliche Umwelteinwirkungen, ein
nur möglicher Zusammenhang zwischen Emissionen und
Schadenseintritt oder ein generelles Besorgnispotential
können Anlass für Vorsorgemaßnahmen sein, sofern die-
se nach Art und Umfang verhältnismäßig sind. Vorsorge
gegen schädliche Umwelteinwirkungen erfasst mithin
mögliche Schäden, die sich deshalb nicht ausschließen
lassen, weil nach dem derzeitigen Wissensstand bestimm-
te Ursachenzusammenhänge weder bejaht noch verneint
werden können, weshalb noch keine Gefahr, sondern nur
ein Gefahrenverdacht oder ein Besorgnispotential besteht
(BVerwGE 72, 300 <315>). Gibt es hinreichende Gründe
für die Annahme, dass Immissionen möglicherweise zu
schädlichen Umwelteinwirkungen führen, ist es Aufgabe
der Vorsorge, solche Risiken unterhalb der Gefahrengren-
ze zu minimieren (vgl. BVerwGE 69, 37 <43, 45>;
Beschluss vom 30. August 1996 - BVerwG 7 VR 2.96 -
Buchholz 406.25 § 17 BImSchG Nr. 3). Ob bei ungewis-
sem Kausalzusammenhang zwischen Umwelteinwir-
kungen und Schäden eine Gefahr oder ein Besorgnispo-
tential anzunehmen ist, hängt vom Erkenntnisstand über
den Wahrscheinlichkeitsgrad des Schadenseintritts ab.“.
Zum Erkenntnisstand über die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts durch
Bioaerosole hat der Verwaltungsgerichtshof in Übereinstimmung mit der einhel-
ligen obergerichtlichen Rechtsprechung (VGH München, Beschluss vom
27. März 2014 -- juris Rn. 21; OVG Münster, Urteil vom
30. Januar 2014 - 7 A 2555/11 - juris Rn. 88 ff.; OVG Magdeburg, Beschluss
vom 13 Juni 2013 - 2 M 16/13 - juris Rn. 12 ff.; OVG Schleswig, Urteil vom
8. März 2013 - 1 LB 5/12 - juris Rn. 92; OVG Lüneburg, Beschluss vom
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19. Dezember 2012 - 1 MN 164/12 - juris Rn. 68; ebenso BVerwG, Urteil vom
19. April 2012 - BVerwG 4 CN 3.11 - BVerwGE 143, 24 Rn. 21) festgestellt,
dass der aktuelle Kenntnisstand von Umwelthygiene und Umweltmedizin keine
hinreichend sicheren Aussagen über die Gefährlichkeit solcher Immissionen für
Menschen zulasse. Ausbreitung und kausale Verursachungszusammenhänge
seien nicht hinreichend bekannt. Es könne keine Wirkschwelle angegeben wer-
den, oberhalb derer mit Gesundheitsschäden beim Menschen zu rechnen sei
(UA S. 34, juris Rn. 81). Diese Feststellungen hat der Kläger mit Verfahrensrü-
gen nicht angegriffen; sie sind daher für den Senat bindend (§ 137 Abs. 2
VwGO). Ausgehend hiervon hat der Verwaltungsgerichtshof eine durch Bioae-
rosole bedingte Gefahr im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG für die Wohn-
bebauung im Bereich a (UA S. 19, juris Rn. 48) verneint; das Besorgnispotential
von Bioaerosolen sei gegenwärtig nur über das Vorsorgegebot nach § 5 Abs. 1
Nr. 2 BImSchG zu berücksichtigen. Inwieweit dies ausgehend von dem darge-
legten Maßstab und den getroffenen Feststellungen zu beanstanden sein sollte,
legt die Klägerin nicht dar. Die Möglichkeit, dass es gemäß Nr. 4.8 der TA Luft
2002 geboten sein kann, im Wege einer Sonderfallprüfung festzustellen, ob in
einem Beurteilungsgebiet schädliche Umwelteinwirkungen hervorgerufen wer-
den können, hat der Verwaltungsgerichtshof - wie sich aus der Bezugnahme
auf die Beschlüsse des OVG Münster vom 14. Januar 2010 - 8 B 1015/09 - juris
Rn. 57 ff. und des OVG Lüneburg vom 13. März 2012 - 12 ME 270/11 - juris
Rn. 16 (vgl. auch OVG Magdeburg, Beschluss vom 13. Juni 2013 - 2 M 16/13 -
juris Rn. 17) und seine Ausführungen zum hier eingehaltenen Abstand zwi-
schen dem Vorhaben des Beigeladenen und dem nächst gelegenen Wohnhaus
ergibt - nicht von vornherein ausgeschlossen. In Bezug auf den Lebensmittel-
markt im hierfür ausgewiesenen Sondergebiet hat er eine Sonderfallprüfung
aber schon deshalb nicht in Betracht gezogen, weil es der Klägerin nach dem
Grundsatz von Treu und Glauben verwehrt sei, sich auf Belange des Sonder-
gebiets zu berufen (UA S. 16 bis 18, juris Rn. 44 bis 47). Die Klägerin habe das
Sondergebiet erst nach Erteilung der immissionsschutzrechtlichen Genehmi-
gung für die Schweinemastanlage des Beigeladenen ausgewiesen. Auf dessen
Einwendung habe sie selbst dargelegt, dass es im Sondergebiet nicht zu
schädlichen Umwelteinwirkungen kommen werde. Das Einvernehmen zu der
immissionsschutzrechtlichen Genehmigung unter Hinweis auf eben diese Um-
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welteinwirkungen zu verweigern, sei widersprüchlich (UA S. 17, juris Rn. 45). In
Bezug auf diese Erwägung hat die Klägerin einen Revisionszulassungsgrund
nicht geltend gemacht. Auch in Bezug auf das Versorgungsgebot hat sie einen
Revisionszulassungsgrund weder ausdrücklich noch sinngemäß aufgezeigt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO, die
Streitwertfestsetzung auf § 47 Abs. 1 Satz 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.
Dr. Nolte
Krauß
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