Urteil des BVerwG vom 29.09.2015

Rechtliches Gehör, Verkündung, Geeignetheit, Umweltverträglichkeitsprüfung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 7 B 22.15
OVG 2 L 184/10
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 7. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 29. September 2015
durch die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Philipp
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Keller und Dr. Schemmer
beschlossen:
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts
des Landes Sachsen-Anhalt vom 24. März 2015 wird zu-
rückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens
einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigela-
denen.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 15 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
I
Der Beklagte erteilte der Rechtsvorgängerin der Beigeladenen eine immissi-
onsschutzrechtliche Genehmigung für die Umnutzung einer Anlage zur Rinder-
haltung in eine Anlage zur Haltung von Rindern, Sauen und Mastschweinen.
Die hiergegen erhobene Klage der Klägerin, die Eigentümerin eines in der Nähe
gelegenen, mit einem Wohnhaus bebauten Grundstücks ist, blieb erfolglos. Das
Oberverwaltungsgericht hat die Berufung zurückgewiesen und die Revision
gegen sein Urteil nicht zugelassen. Hiergegen richtet sich die Beschwerde der
Klägerin.
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II
Die allein auf den Zulassungsgrund des Verfahrensmangels (§ 132 Abs. 2 Nr. 3
VwGO) gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg.
1. Der geltend gemachte Verstoß gegen § 116 Abs. 2 VwGO liegt nicht vor. In
der mündlichen Verhandlung vor dem Oberverwaltungsgericht am 24. März
2015 ist der Beschluss verkündet worden, dass eine Entscheidung den Beteilig-
ten zugestellt werde. In diesen Fällen ist das Urteil nach § 116 Abs. 2 VwGO
binnen zwei Wochen nach der mündlichen Verhandlung der Geschäftsstelle zu
übergeben. Das ist hier geschehen. Aus den Gerichtsakten ergibt sich, dass der
von den mitwirkenden Richtern unterschriebene Tenor am 24. März 2015 und
damit noch am Tag der mündlichen Verhandlung der Geschäftsstelle überge-
ben wurde. Das Urteil ist damit, wie es dem Zweck des § 116 Abs. 2 VwGO
entspricht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 6. Mai 1998 - 7 B 437.97 - Buchholz
310 § 116 VwGO Nr. 22), innerhalb der Zweiwochenfrist beschlossen worden.
Allerdings ist das Urteil nicht innerhalb dieser Frist, sondern erst am 23. April
2015 vollständig abgefasst, das heißt mit Tatbestand, Entscheidungsgründen
und Rechtsmittelbelehrung von den beteiligten Berufsrichtern unterschrieben
und der Geschäftsstelle übergeben worden. Dies muss aber nicht einen Verfah-
rensfehler begründen. Das vervollständigte Urteil ist, nachdem die Urteilsformel
der Geschäftsstelle übergeben worden ist, in entsprechender Anwendung des
§ 117 Abs. 4 Satz 2 VwGO alsbald nachzureichen (BVerwG, Urteil vom 24. Juni
1971 - 1 CB 4.69 - BVerwGE 38, 220 = NJW 1971, 1854, 1855; Beschluss vom
9. August 2004 - 7 B 20.04 - juris Rn. 16; Clausing, in: Schoch/Schneider/Bier,
VwGO; Stand März 2015, § 117 Rn. 25). Ob das vollständige Urteil in diesem
Sinne hier fristgemäß nachgereicht worden ist, kann auf sich beruhen. Eine et-
waige erhebliche Verzögerung führt nicht zu dem absoluten Revisionsgrund des
§ 138 Nr. 6 VwGO. Ein bei Verkündung noch nicht vollständig abgefasstes Ur-
teil ist im Sinne des § 138 Nr. 6 VwGO nicht mit Gründen versehen, wenn Tat-
bestand und Entscheidungsgründe nicht binnen fünf Monaten nach Verkündung
schriftlich niedergelegt, von den Richtern besonders unterschrieben und der
Geschäftsstelle übergeben worden sind. Dies gilt auch in den Fällen des § 116
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Abs. 2 VwGO. Maßgeblich ist insoweit allein der Zeitpunkt der Übergabe des
vollständigen Urteils an die Geschäftsstelle des Gerichts (stRspr, vgl. BVerwG,
Beschluss vom 11. Juni 2001 - 8 B 17.01 - Buchholz 310 § 116 VwGO Nr. 26
S. 3 m.w.N.). Die Fünfmonatsfrist ist im vorliegenden Fall bei Weitem nicht aus-
geschöpft worden.
Wird ein Urteil noch vor Ablauf von fünf Monaten der Geschäftsstelle überge-
ben, kann es gleichwohl im Einzelfall nicht mit Gründen versehen sein, wenn zu
dem Zeitablauf besondere Umstände hinzukommen, die wegen des Zeitablaufs
bereits bestehende Zweifel zu der Annahme verdichten, dass der gesetzlich
geforderte Zusammenhang zwischen der Fällung des Urteils und den schriftlich
niedergelegten Gründen nicht mehr gewahrt ist (BVerwG, Beschlüsse vom
25. April 2001 - 4 B 31.01 - Buchholz 310 § 117 VwGO Nr. 47 und vom
9. August 2004 - 7 B 20.04 - juris Rn. 17, Urteil vom 30. Mai 2012 - 9 C 5.11 -
Buchholz 406.11 § 246a BauGB Nr. 1 Rn. 24).
Allein der Zeitablauf weckt hier keine Zweifel am Vorliegen des erforderlichen
Zusammenhangs zwischen dem Ergehen des Urteils und der Wiedergabe des
Beratungsergebnisses. Das umfangreiche Urteil des Oberverwaltungsgerichts,
in dessen Vorfeld zwei Sachverständigengutachten eingeholt worden waren,
wurde einen Monat nach der mündlichen Verhandlung der Geschäftsstelle
übergeben.
Überdies zeigt die Beschwerde keine Anhaltspunkte auf, die dafür sprechen
könnten, dass dem Oberverwaltungsgericht bei Abfassung des Urteils die
Gründe der Entscheidungsfindung nicht mehr gegenwärtig waren. Die von der
Klägerin geäußerte Kritik an dem für die durchgeführte Ausbreitungsberech-
nung verwendeten Programm wird im Berufungsurteil unter Hinweis auf die
Ausführungen des von der Klägerin hinzugezogenen Sachverständigen ange-
sprochen (UA S. 38); die grundsätzliche Geeignetheit des Programms zur Be-
stimmung der Geruchsbelastung wird ausdrücklich bejaht (UA S. 42). Daher
besteht kein Anlass für die Annahme, die Entscheidungsgründe des Berufungs-
urteils würden ihrer Funktion, die das Beratungsergebnis tragenden Gründe zu
dokumentieren, nicht gerecht.
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2. Das Oberverwaltungsgericht hat auch nicht den Anspruch der Klägerin auf
rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) durch eine unzu-
lässige Überraschungsentscheidung verletzt. Einen solchen Verstoß sieht die
Klägerin darin, dass das Oberverwaltungsgericht seiner Entscheidung unter
anderem die Auffassung zugrunde gelegt habe, für das Vorhaben der Beigela-
denen habe nach § 3c Satz 1 i.V.m. Nr. 7.8.3 und 7.11 der Anlage 1 zum Ge-
setz über die Umweltverträglichkeitsprüfung (UVPG) in der hier maßgeblichen
Fassung vom 23. Oktober 2007 (BGBl. I S. 2470) nur eine standortbezogene
Vorprüfungspflicht bestanden. Die Beteiligten seien indessen übereinstimmend
davon ausgegangen, dass eine allgemeine Vorprüfungspflicht bestanden habe.
Aus diesem Vorbringen folgt kein Verfahrensfehler.
Das Gericht muss die Beteiligten grundsätzlich nicht vorab auf seine Rechtsauf-
fassung oder die beabsichtigte Würdigung des Prozessstoffes hinweisen, weil
sich die tatsächliche und rechtliche Würdigung regelmäßig erst auf Grund der
abschließenden Beratung ergibt (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom
28. Dezember 1999 - 9 B 467.99 - Buchholz 310 § 86 Abs. 3 VwGO Nr. 51
S. 2). Eine der Gewährleistung des rechtlichen Gehörs zuwiderlaufende unzu-
lässige Überraschungsentscheidung liegt erst dann vor, wenn das Gericht einen
bislang nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grund-
lage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung
gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem
bisherigen Prozessverlauf selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer
Rechtsauffassungen nicht zu rechnen brauchte (stRspr, vgl. etwa BVerwG, Be-
schluss vom 26. Juni 2013 - 7 B 42.12 - juris Rn. 11 m.w.N.). Das ist hier nicht
der Fall.
Die Frage, ob hier eine standortbezogene oder eine allgemeine Vorprüfungs-
pflicht besteht, war bereits Gegenstand des verwaltungsgerichtlichen Urteils.
Zudem hatte die Beigeladene im Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht in
ihrem Schriftsatz vom 11. April 2011 ausführlich dargelegt, dass ihrer Auffas-
sung nach nur eine standortbezogene Vorprüfungspflicht bestanden habe; dies
gelte unabhängig davon, ob für die rechtliche Beurteilung der Zeitpunkt der An-
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tragstellung oder der Zeitpunkt der Genehmigungserteilung maßgeblich sei. Vor
diesem Hintergrund musste die Klägerin damit rechnen, dass das Oberverwal-
tungsgericht sich nicht ihrer Ansicht, sondern derjenigen der Beigeladenen an-
schließen würde. Die Beschwerde hat auch nicht dargelegt, dass die Beigela-
dene im Laufe des Verfahrens von ihrer in dem erwähnten Schriftsatz geäußer-
ten Rechtsauffassung abgerückt wäre.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 und § 162 Abs. 3 VwGO, die
Streitwertfestsetzung auf § 47 Abs. 1 und 3 sowie § 52 Abs. 1 GKG.
Dr. Philipp Dr. Keller Dr. Schemmer
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