Urteil des BVerwG vom 16.09.2015

Stand der Technik, Aufwand, Messung, Genehmigung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 7 B 16.15
VGH 22 B 14.1514
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 7. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 16. September 2015
durch die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Dr. Philipp und Schipper
und den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Schemmer
beschlossen:
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Bayerischen Verwaltungs-
gerichtshofs vom 19. Dezember 2014 wird zurückgewie-
sen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 230 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
I
Die Klägerin, die eine Anlage zur Herstellung von bituminösem Asphaltmischgut
betreibt, wendet sich gegen die Nebenbestimmung Nr. 3.2.4.3 zu der immissi-
onsschutzrechtlichen Genehmigung des Landratsamtes Rosenheim vom
10. Juni 2013 zur wesentlichen Änderung dieser Anlage. Mit der Nebenbestim-
mung gab das Landratsamt der Klägerin kontinuierliche Messungen von organi-
schen Stoffen (angegeben als Gesamtkohlenstoff) auf. Hierzu konkretisierte es
unter Nr. 3.2.4.3.1, dass die Massenkonzentration der Emissionen im gereinig-
ten Abgas der Feuerung der Trockentrommel sowie der Paralleltrommel konti-
nuierlich zu ermitteln, zu registrieren und auszuwerten sei. Des Weiteren seien
die zur Auswertung und Beurteilung der kontinuierlichen Messungen erforderli-
chen Betriebsparameter (Bezugsgrößen) jeweils einschließlich relevanter Sta-
tussignale für Abgastemperatur, Feuchtegehalt, Druck und Volumengehalt an
Sauerstoff im Abgas zu ermitteln und zu registrieren. Auch wurde der Klägerin
unter Nr. 3.2.4.3.2 aufgegeben, über die Auswertung der kontinuierlichen Mes-
sungen jährlich einen Emissionsjahresbericht zu erstellen. Des Weiteren verfüg-
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te das Landratsamt mit zahlreichen Einzelregelungen die Modalitäten des Ein-
satzes der Messeinrichtungen und die Durchführung der kontinuierlichen Mes-
sungen sowie ihrer Auswertung.
Die gegen die Nebenbestimmung Nr. 3.2.4.3 erhobene Anfechtungsklage, der
das Verwaltungsgericht stattgegeben hat, ist vor dem Berufungsgericht ohne
Erfolg geblieben. Die angeordnete kontinuierliche Messung habe ihre Rechts-
grundlage in § 29 Abs. 1 Satz 2 BImSchG. Das dort verwendete Merkmal "er-
hebliche Emissionsmassenströme luftverunreinigender Stoffe" verweise auf die
Terminologie der TA Luft. Die Asphaltmischanlage der Klägerin überschreite mit
ihrem Massenstrom organischer Stoffe die in der TA Luft für eine kontinuierliche
Überwachung festgelegte Massenstromschwelle. Die Anordnung der kontinuier-
lichen Gesamtkohlenstoffmessung sei nicht unverhältnismäßig.
Das Berufungsgericht hat die Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen. Da-
gegen richtet sich die Beschwerde der Klägerin.
II
Die Beschwerde ist unbegründet. Die Rechtssache hat nicht die ihr von der
Klägerin beigemessene grundsätzliche Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
Keine der aufgeworfenen Fragen war in einem Revisionsverfahren entschei-
dungserheblich.
1. Die Beschwerde hält die Frage für rechtsgrundsätzlich bedeutsam:
Sind die Anforderungen des Standes der Technik im Sin-
ne des § 3 Abs. 6 BImSchG auch bei den Anordnungen
nach § 29 Abs. 1 Satz 2 BImSchG einzuhalten?
Der Verwaltungsgerichtshof hat das Merkmal des Standes der Technik bei der
Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme berücksichtigt und ausgeführt,
eine technisch verfehlte Maßnahme wäre als ungeeignetes Mittel anzusehen,
ihre Anordnung deshalb rechtswidrig. Im Weiteren hat der Verwaltungsgerichts-
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hof die kontinuierliche Gesamtkohlenstoffmessung in technischer Hinsicht als
dem Stand der Technik entsprechend beurteilt.
Einleitend führt der Verwaltungsgerichtshof zwar aus, dass eine Orientierung
der Verhältnismäßigkeitsprüfung am Stand der Technik in Fällen der vorliegen-
den Art geboten und sinnvoll sei, ohne dass die Anforderungen voll mit denen
gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2, § 3 Abs. 6 BImSchG übereinzustimmen bräuchten. Im
nachfolgenden Satz unter Rn. 25 (a.E.) stellt der Verwaltungsgerichtshof aber
fest, dass vorliegend diesbezüglich keine Bedenken bestünden. Dass die ange-
ordnete kontinuierliche Messung mittels eines Flammenionisationsdetektors als
Methode bislang in Deutschland bei einer Asphaltmischanlage nicht durchge-
führt worden sei, habe nicht zur Folge, dass die Messung nicht dem Stand der
Technik genüge (UA Rn. 26). Verfahren, deren praktische Eignung aufgrund
anderer Umstände soweit gesichert sei, dass ihre Anwendung ohne unzumut-
bares Risiko möglich erscheine, entsprächen dem Stand der Technik (UA
Rn. 28). Unter Rn. 30 heißt es mit eingehender Begründung, die angeordnete
kontinuierliche Messung verfehle die Anforderungen des Stands der Technik
nicht. Die tatsächlichen Feststellungen, die der Bejahung der praktischen Eig-
nung zugrunde liegen, sind nicht mit beachtlichen Verfahrensrügen angegriffen
worden; sie binden den Senat (§ 137 Abs. 2 VwGO). Die generelle wirtschaftli-
che Verhältnismäßigkeit der angeordneten kontinuierlichen Messungen hat der
Verwaltungsgerichtshof ebenfalls bejaht (UA Rn. 35).
2. Auch die zweite für grundsätzlich bedeutsam erachtete Frage,
ob der Behörde im Rahmen der Feststellung, ob eine
technische Einrichtung dem Stand der Technik im Sinne
des § 3 Abs. 6 BImSchG entspricht, für die Bewertung der
Verhältnismäßigkeit zwischen Aufwand und Nutzen der
Einrichtung ein gerichtlich nur beschränkt überprüfbarer
Beurteilungsspielraum zukommt, falls sich Aufwand und
Nutzen mangels tatsächlicher Erfahrungen im Betrieb
noch nicht hinreichend sicher bestimmen lassen,
führt nicht zur Zulassung der Revision.
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Obgleich der Verwaltungsgerichtshof die Auffassung vertritt, dass die Behörde
eine prognostische Entscheidung zu treffen habe, ob der Nutzen der geforder-
ten kontinuierlichen Messung so sein werde, dass der damit verbundene Auf-
wand dem betroffenen Unternehmer zugemutet werden könne (UA Rn. 29),
führt er im Weiteren aus, dass er unabhängig von dieser rechtlichen Beurteilung
die von der Immissionsschutzbehörde getroffene Entscheidung inhaltlich für
richtig halte. Damit beruht das Berufungsurteil nicht auf der Anerkennung eines
behördlichen Beurteilungsspielraums.
3. Die Frage,
ob bei der Bestimmung der Verhältnismäßigkeit zwischen
Aufwand und Nutzen einer Maßnahme im Sinne des § 3
Abs. 6 BImSchG in Verbindung mit der Anlage zu § 3
Abs. 6 BImSchG auf das Verhalten des betroffenen Un-
ternehmens im Einzelfall abgestellt werden darf,
führt die Beschwerde nicht zum Erfolg. Die Zulassungsbegründung geht an der
Sache vorbei. Soweit die Klägerin geltend macht, dass es sich bei dem Stand
der Technik um einen generellen Maßstab für die gebotene Vorsorge handle,
für den die Besonderheiten des Einzelfalls keine Rolle spielten (vgl. hierzu
BVerwG, Urteil vom 23. Juli 2015 - 7 C 10.13 - juris Rn. 18), lässt sie außer
Acht, dass der Verwaltungsgerichtshof die generelle Verhältnismäßigkeit zwi-
schen Aufwand und Nutzen kontinuierlicher Messungen, die auch für den Stand
der Technik erforderlich ist, bejaht hat (UA Rn. 35). Auf das Verhalten des be-
troffenen Unternehmers im Einzelfall hat er insoweit nicht abgestellt. Den Um-
stand, dass die Klägerin das mit Schriftsatz vom 16. Dezember 2014 unterbrei-
tete Angebot der Beklagten (GA Bd. III, Bl. 205) abgelehnt hat, in ihrem Betrieb
kontinuierliche Messungen im Rahmen eines Pilotprojekts auf Kosten der Be-
klagten zu erproben, hat der Verwaltungsgerichtshof lediglich zusätzlich
("auch") im Rahmen der Prüfung der individuellen Verhältnismäßigkeit nach
§ 29 Abs. 1 Satz 2 BImSchG berücksichtigt. Eine solche Prüfung wird durch die
Sollens-Verpflichtung nicht ausgeschlossen. Sie bedeutet zwar, dass im Regel-
fall eine Anordnung ergehen muss; in atypischen Fällen ist indes ein Abweichen
zulässig und gegebenenfalls geboten (vgl. Jarass, BImSchG, 10. Aufl. 2013,
§ 29 Rn. 6). Aus Gründen der Verhältnismäßigkeit darf zwischen dem Mehr-
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aufwand für die laufenden Ermittlungen und dem Vorteil der höheren Aussage-
kraft dieser Ermittlungen kein Missverhältnis bestehen (vgl. Hansmann/Pabst,
in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht, Bd. III, Stand Januar 2015, § 29 BImSchG
Rn. 10).
4. Schließlich führt die Frage,
ob die Anwendbarkeit des § 12 BImSchG durch einen
Anwendungsvorrang des § 29 BImSchG als speziellerer
Regelung ausgeschlossen wird, wenn die Durchführung
kontinuierlicher Messungen bei der Genehmigungsertei-
lung vorgeschrieben worden ist, um die Einhaltung von in
der Genehmigung festgelegten Emissionsbegrenzungen
nachzuweisen,
nicht zur Zulassung der Revision. Die Klägerin hält diese Frage für klärungsbe-
dürftig, weil der Verwaltungsgerichtshof nach seiner Rechtsauffassung im
Rahmen von § 12 BImSchG hätte prüfen müssen, ob die angeordnete kontinu-
ierliche Emissionsmessung dem Stand der Technik entspricht. Damit übersieht
sie, dass der Verwaltungsgerichtshof bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit
der Maßnahme, wie bereits ausgeführt, den Stand der Technik, auf den § 12
Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 6 Abs. 1 Nr. 1 und § 5 Abs. 1 Nr. 2 BImSchG bei der Vor-
sorge gegen schädliche Umwelteinwirkungen ausdrücklich abhebt, umfassend
geprüft hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestset-
zung auf § 47 Abs. 1 und 3 sowie § 52 Abs. 1 GKG.
Dr. Philipp
Schipper
Dr. Schemmer
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