Urteil des BVerwG vom 21.07.2010

Aufenthalt, Offenkundig, Beweisantrag, Vergleich

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 4 B 3.10
VGH 3 A 1771/08
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 21. Juli 2010
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Rubel,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Gatz und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Bumke
beschlossen:
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Hessischen Verwaltungs-
gerichtshofs vom 26. Oktober 2009 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens
mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigela-
denen, die diese selbst trägt.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 10 000 € fest-
gesetzt.
G r ü n d e :
Die auf alle Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 VwGO gestützte Beschwerde
gegen die Nichtzulassung der Revision bleibt ohne Erfolg.
1. Die Divergenzrügen (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) genügen nicht den Darle-
gungsanforderungen gemäß § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO. Die Darlegung einer
Divergenz setzt voraus, dass ein inhaltlich bestimmter, die angefochtene Ent-
scheidung tragender abstrakter Rechtssatz benannt wird und dass zum ande-
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ren ein dem widersprechender, die Entscheidung tragender Rechtssatz eines
der gesetzlich benannten Gerichte zu der gleichen Frage aufgezeigt wird.
1.1 Mit ihrer ersten Divergenzrüge macht die Klägerin geltend, die Auffassung
des Berufungsgerichts, dass bei einem im unbeplanten Innenbereich liegenden
Vorhaben in der Regel nur die die nähere Umgebung tatsächlich prägenden
Nutzungen vom Erdgeschoss bis zum Dachgeschoss ins Verhältnis zueinander
zu setzen seien, stehe im Widerspruch zum Urteil des Senats vom 18. Mai
2001 - BVerwG 4 C 8.00 - (Buchholz 406.12 § 13 BauNVO Nr. 9). Zur Begrün-
dung zitiert die Klägerin zwar mehrere Rechtssätze aus diesem Urteil. Einen
Rechtssatzwiderspruch zeigt die Klägerin damit aber nicht auf. Abgesehen da-
von, dass das Berufungsgericht die zitierten Rechtssätze seiner Entscheidung
ausdrücklich - unter wörtlicher Wiedergabe - zugrunde gelegt hat (UA S. 10),
wird nicht beachtet, dass es dem Gericht an dieser Stelle um eine Beurteilung
des Vorhabens „jenseits einer detaillierten Quadratmeterberechnung“ nach dem
äußeren Erscheinungsbild geht. Die in Bezug genommene Entscheidung des
Senats enthält keine Aussagen dazu, nach welchen Grundsätzen das äußere
Erscheinungsbild eines Gebäudes mit Blick auf die wohnliche Nutzung zu beur-
teilen ist. Den vom Senat aufgestellten Grundsatz, dass die Büronutzung re-
gelmäßig nicht mehr als die Hälfte der Wohnungen und auch nicht mehr als die
Hälfte der Wohnfläche umfassen darf, hat das Berufungsgericht beachtet. In
Übereinstimmung mit der in Bezug genommenen Rechtsprechung ist das Beru-
fungsgericht auch davon ausgegangen, dass die vom Senat aufgestellten Re-
geln nicht rechtssatzartig angewendet werden dürfen.
Abgesehen davon hat das Berufungsgericht seine Entscheidung selbständig
tragend darauf gestützt, dass auch bei einem auf die die jeweilige Nutzungsart
entfallenden Vergleich der jeweils in Anspruch genommenen Quadratmeter der
Anteil der Wohnnutzung überwiege (UA S. 12 - 15). Hiergegen erhebt die Klä-
gerin zwar auch Rügen, die jedoch erfolglos bleiben. Ist aber die vorinstanzliche
Entscheidung auf mehrere selbständig tragende Begründungen gestützt, so
kann die Revision nur zugelassen werden, wenn hinsichtlich jeder dieser Be-
gründungen ein Revisionszulassungsgrund aufgezeigt wird und vorliegt.
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1.2 Die zur nachfolgenden „differenzierteren Betrachtungsweise“ erhobene Di-
vergenzrüge (Beschwerdebegründung S. 4 - 7) erschöpft sich in dem Vorwurf,
die Berechnung des Berufungsgerichts beruhe auf einer offenkundig falschen
und willkürlichen Zuordnung des als „Keller“ bezeichneten Raums zur Wohn-
nutzung (Beschwerdebegründung S. 5); eine Begründung, warum dieser als
„Keller“ bezeichnete Raum mit einer Größe von 5,575 qm nun in der Berech-
nung dem Wohnen in vollem Umfang zugeschlagen werde, lasse sich der Ent-
scheidung nicht entnehmen (Beschwerdebegründung S. 6). Die Klägerin zitiert
zwar Rechtssätze aus der angefochtenen Entscheidung, zeigt aber keinen
Rechtssatz des Bundesverwaltungsgerichts auf, zu dem sich das Berufungsge-
richt in Widerspruch gesetzt haben könnte. Sie wendet sich vielmehr nach Art
einer Berufungsbegründung lediglich gegen die Würdigung des Berufungsge-
richts, das bei der Beurteilung der konkreten Umstände der Nutzung des als
„Keller“ bezeichneten Raums den Raum dem „Wohnen“ zugeordnet hat, und
macht geltend, das Berufungsgericht habe verkannt, dass maßgebend für die
Zuordnung die prägende Nutzung durch das dort fest installierte Kompressi-
onsgerät und der Flüssigkeitsabscheider für die Behandlungsstühle sei.
Die Rüge der Klägerin im Zusammenhang mit den Ausführungen des Beru-
fungsgerichts zur Flächenberechnung des Verwaltungsgerichts (Beschwerde-
begründung S. 6), das den als „Vorratskeller“ bezeichneten Raum mit einer
Größe vom 19,52 qm der Praxisnutzung - in seiner Funktion als „Demonstrati-
onsraum“ (VG UA S. 7) - zugeschlagen hat (UA S. 15), betrifft ebenfalls nur die
Sachverhaltswürdigung und geht zudem am rechtlichen Ansatz des Berufungs-
gerichts vorbei. Das Berufungsgericht geht - entgegen der Auffassung des Ver-
waltungsgerichts - davon aus, dass beide angefochtenen Genehmigungsbe-
scheide einer getrennten rechtlichen Bewertung zu unterziehen waren (UA S. 8,
15). Unter Anlegung der von dem Verwaltungsgericht herangezogenen Berech-
nungskriterien wäre aber nach der tatsächlichen Würdigung des Berufungsge-
richts der im Keller befindliche Vorratskeller/Verbrauchsmaterial nicht als Auf-
enthaltsraum zu veranschlagen gewesen, da dieser nach seiner Bezeichnung in
den Bauvorlagen für die Baugenehmigung vom 21. Oktober 2002 offensichtlich
nicht dem dauernden Aufenthalt von Menschen habe dienen sollen. Hierzu
macht die Klägerin lediglich geltend, die Berechnung des Verwaltungsgerichts
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sei nicht zu bemängeln; es werde verkannt, dass die Beigeladene in dem Bau-
antrag selbst die Flächen als Nutzflächen der Praxis für den Aufenthalt für Men-
schen bezeichnet habe. Ein Zulassungsgrund wird damit nicht aufgezeigt. Das
Berufungsgericht, das bei den Kellerräumen nicht danach differenziert hat, ob
es sich um Räume handelt, die zum dauernden Aufenthalt für Menschen geeig-
net sind, hat im Übrigen den in der Baugenehmigung vom 21. Oktober 2002 als
„Vorratskeller“ bezeichneten Raum mit einer Größe vom 19,52 qm der Praxis-
nutzung zugerechnet.
1.3 Soweit die Klägerin im Rahmen der Divergenzrüge darauf abhebt, das Be-
rufungsgericht habe den Demonstrationsraum im Widerspruch zur Rechtspre-
chung des Senats als nach § 4 Abs. 2 Nr. 3 BauNVO zulässige Anlage für ge-
sundheitliche Zwecke angesehen, anstatt ihn der Praxis zuzuschlagen (Be-
schwerdebegründung S. 7 - 9), wird nicht beachtet, dass das Gericht entschei-
dungstragend davon ausgeht, dass, selbst wenn man den Raum als Annex zu
der Zahnarztpraxis ansehe und ihn mit 19,52 qm ebenso wie den hälftigen Kel-
lerflur mit 4,68 qm der freiberuflichen Tätigkeit zurechne, nach der 50 %-Be-
trachtung der Wohnanteil entsprechend dem vor Ort gewonnenen tatsächlichen
Eindruck überwiege (UA S. 16). Die hiergegen erhobenen Rügen bleiben - wie
unter 1.2 und 1.3 ausgeführt - indes erfolglos.
1.4 Die Divergenzrüge, mit der die Klägerin sinngemäß geltend macht, das Be-
rufungsgericht habe nicht beachtet, dass eine nichtbewältigte Lärmproblematik
nach § 15 BauNVO genehmigungsrelevant sei, insbesondere wenn selbst nach
der vorgelegten, offenkundig fehlerhaft erstellten Lärmprognose eine Nutzung
nicht oder nur mit erheblichen Nutzungseinschränkungen möglich sei (Be-
schwerdebegründung S. 9 - 12), genügt ebenfalls nicht den Darlegungsanforde-
rungen. Die Klägerin zitiert zwar das Berufungsgericht mit dem Rechtssatz: „Die
Frage, ob diese Werte tatsächlich eingehalten werden, betrifft nicht die Recht-
mäßigkeit der Baugenehmigung, sondern allein die Frage, ob die bauaufsicht-
lich angeordneten Nebenbestimmungen von dem Bauherrn eingehalten wer-
den“. Die ausführlich zitierten Passagen aus dem Urteil des Senats vom 18. Mai
1995 - BVerwG 4 C 20.94 - (BVerwGE 98, 235) verhalten sich jedoch nicht zu
diesem Gesichtspunkt. Im Übrigen hat das Berufungsgericht nicht - wie von der
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Klägerin geltend gemacht (Beschwerdebegründung S. 11) - festgestellt, dass
nach der Lärmprognose, die der Baugenehmigung zugrunde liegt, eine Einhal-
tung der Grenzwerte zweifelhaft oder gar unmöglich sei.
2. Die auf § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO gestützten Grundsatzrügen bleiben eben-
fall erfolglos.
2.1 Die von der Klägerin aufgeworfene Grundsatzrüge zur Frage, ob aus-
schließlich die Nutzungen im Erd- bis Dachgeschoss ins Verhältnis zueinander
zu setzen sind (Beschwerdebegründung S. 12), scheitert - wie unter 1.1 darge-
legt - daran, dass das Berufungsgericht seine Entscheidung selbständig tra-
gend darauf gestützt hat, dass auch bei einem auf die die jeweilige Nutzungsart
entfallenden Vergleich der jeweils in Anspruch genommenen Quadratmeter der
Anteil der Wohnnutzung überwiege.
2.2 Die Grundsatzrüge zur Lärmproblematik (Beschwerdebegründung S. 12 f.)
beruht auf Prämissen, die das Berufungsgericht nicht festgestellt hat. Aussagen
dazu, dass von dem Vorhaben Belästigungen oder Störungen ausgehen könn-
ten, die unzumutbar sind, hat das Berufungsgericht - wie bereits dargelegt -
nicht getroffen.
3. Schließlich macht die Klägerin als Verfahrensrüge i.S.d. § 132 Abs. 2 Nr. 3
VwGO geltend, das Berufungsgericht habe zu Unrecht ihren Beweisantrag auf
Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Frage des ausreichenden
Lärmschutzes abgelehnt (Beschwerdebegründung S. 13 - 16). Sie setzt sich
dabei aber nicht damit auseinander, dass die beantragte Sachverhaltsermittlung
nach der für die Beurteilung von Verfahrensfehlern maßgeblichen Rechtsauf-
fassung des Berufungsgerichts nicht entscheidungserheblich war, sondern be-
hauptet lediglich, die Bewältigung der Lärmproblematik sei genehmigungsrele-
vant. Auf das von der Klägerin mit ihrem Beweisantrag als ungeeignet und feh-
lerhaft angegriffene Gutachten hat sich das Berufungsgericht nicht gestützt.
Maßgeblich war für das Berufungsgericht vielmehr, dass für die streitbefangene
Baugenehmigung verschiedene Immissionsrichtwerte als verbindliche Auflage
gelten, die den Werten der TA-Lärm für Innenräume entsprechen, deren Einhal-
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tung aber nicht die Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung betrifft, sondern eine
Frage der Bauüberwachung ist. Auch der Hinweis der Klägerin auf den Be-
schluss des Senats vom 16. Dezember 2008 - BVerwG 4 B 68.08 - (BRS 73
Nr. 82 Rn. 4) belegt, dass sie im Gewande der Verfahrensrüge letztlich nur Kri-
tik an der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts übt. Ein Verfahrensfehler
wird damit nicht aufgezeigt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO, die
Streitwertfestsetzung auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.
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Dr. Gatz
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