Urteil des BVerwG vom 13.08.2015

Rechtliches Gehör, Emrk, Form, Auflage

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 4 B 15.15
OVG 2 L 78/12
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 13. August 2015
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Rubel
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Petz und Dr. Decker
beschlossen:
Die Beschwerde der Kläger gegen die Nichtzulassung der
Revision in dem Beschluss des Oberverwaltungsgerichts
des Landes Sachsen-Anhalt vom 18. Dezember 2014 wird
zurückgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens
je zur Hälfte.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 20 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die auf § 132 Abs. 2 Nr. 1 und 3 VwGO gestützte Beschwerde bleibt ohne Er-
folg.
1. Das Beschwerdevorbringen ergibt nicht, dass die Revision wegen grundsätz-
licher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen wäre.
Grundsätzlich bedeutsam im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ist eine
Rechtssache dann, wenn in dem angestrebten Revisionsverfahren die Klärung
einer bisher höchstrichterlich ungeklärten, in ihrer Bedeutung über den der Be-
schwerde zugrunde liegenden Einzelfall hinausgehenden, klärungsbedürftigen
und entscheidungserheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts (§ 137 Abs. 1
VwGO) zu erwarten ist. In der Beschwerdebegründung muss dargelegt (§ 133
Abs. 3 Satz 3 VwGO), d.h. näher ausgeführt werden, dass und inwieweit eine
bestimmte Rechtsfrage des Bundesrechts im allgemeinen Interesse klärungs-
bedürftig und warum ihre Klärung in dem beabsichtigten Revisionsverfahren zu
erwarten ist (stRspr; so bereits BVerwG, Beschluss vom 2. Oktober 1961 - 8 B
78.61 - BVerwGE 13, 90 <91>; siehe auch Beschluss vom 1. Februar 2011
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- 7 B 45.10 - juris Rn. 15). Diesen Anforderungen genügt die Beschwerde nicht.
Sie formuliert zwar eine Rechtsfrage, die sie für grundsätzlich klärungsbedürftig
hält (Beschwerdebegründung S. 5), legt aber weder dar, dass und inwieweit
diese Frage im allgemeinen Interesse klärungsbedürftig noch warum ihre Klä-
rung in dem beabsichtigten Revisionsverfahren zu erwarten ist. Vielmehr wen-
det sie sich im Stile einer Berufungsbegründung gegen die Auslegung der Zif-
fer 6 des zwischen den Beteiligten am 13. Mai 2009 geschlossenen außerge-
richtlichen Vergleichs durch das Oberverwaltungsgericht. Das wird den Anfor-
derungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO nicht gerecht.
2. Die Revision ist auch nicht wegen eines Verfahrensfehlers (§ 132 Abs. 2
Nr. 3 VwGO) zuzulassen. Das Oberverwaltungsgericht hat dadurch, dass es
ohne mündliche Verhandlung nach § 130a VwGO entschieden hat, das Recht
der Kläger auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 i.V.m. § 138
Nr. 3 VwGO) nicht verletzt.
Gemäß § 130a Satz 1 VwGO kann das Oberverwaltungsgericht über die Beru-
fung durch Beschluss entscheiden, wenn es sie einstimmig für begründet oder
einstimmig für unbegründet hält und eine mündliche Verhandlung nicht für er-
forderlich hält. Die Beteiligten sind vorher zu hören (§ 130a Satz 1 i.V.m. § 125
Abs. 2 Satz 3 VwGO). Die Anhörung muss dabei erkennen lassen, dass ohne
mündliche Verhandlung durch Beschluss entschieden werden soll und ob das
Gericht die Berufung für begründet oder für unbegründet hält (BVerwG, Urteil
vom 21. März 2000 - 9 C 39.99 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 49 = juris
Rn. 12). Gleichzeitig muss darauf hingewiesen werden, dass sich die Beteilig-
ten zu dem beabsichtigten Verfahren äußern können (BVerwG, Urteil vom
21. August 1981 - 4 C 6.81 - Buchholz 312 EntlG Nr. 21 = juris Rn. 11). Die
- vor der Schlussberatung nur vorläufigen - Gründe für die in Betracht gezogene
Sachentscheidung müssen jedoch in der Anhörungsmitteilung nicht angegeben
werden (BVerwG, Beschlüsse vom 13. Dezember 1983 - 9 B 1387.82 - Buch-
holz 312 EntlG Nr. 34 = juris Rn. 5, vom 25. September 2007 - 5 B 53.07 - juris
Rn. 16, vom 4. Oktober 2010 - 9 B 17.10 - juris Rn. 6 und vom 28. Januar 2014
- 4 B 50.13 - juris Rn. 7). Diese (formellen) Vorgaben hat das Oberverwaltungs-
gericht beachtet. Es hat mit Schreiben vom 12. Juni 2014 die Beteiligten zur
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Absicht, die Berufung ohne mündliche Verhandlung als unbegründet abzuwei-
sen, angehört und ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt. Dass die
Kläger einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung widersprochen haben,
macht das Verfahren nach § 130a VwGO nicht fehlerhaft (BVerwG, Beschluss
vom 11. Dezember 1997 - 2 B 117.97 - juris Rn. 1 m.w.N.).
Werden die Voraussetzungen des § 130a VwGO beachtet, kann das Beru-
fungsgericht nach pflichtgemäßem Ermessen über die Berufung ohne mündli-
che Verhandlung entscheiden. Bei seiner Ermessensentscheidung kann das
Gericht unterschiedliche Gesichtspunkte erwägen. Dazu gehört auch die recht-
liche oder tatsächliche Komplexität des Streitfalles (vgl. BVerwG, Beschlüsse
vom 12. März 1999 - 4 B 112.98 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 35 S. 5 und
vom 11. Dezember 2003 - 6 B 60.03 - Buchholz 442.066 § 43 TKG Nr. 3 = juris
Rn. 20); das Berufungsgericht ist bei Ausübung seines Ermessens nach § 130a
VwGO verpflichtet, Art. 6 Abs. 1 EMRK mit dem Inhalt, den die Vorschrift in der
Entscheidungspraxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
(EGMR) gefunden hat, vorrangig zu beachten (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. De-
zember 1999 - 4 CN 9.98 - BVerwGE 110, 203 <210 ff.>; Beschlüsse vom
25. September 2003 - 4 B 68.03 - Buchholz 140 Art. 6 EMRK Nr. 9, vom 4. Au-
gust 2005 - 4 B 42.05 - Buchholz 140 Art. 6 EMRK Nr. 10 und vom 25. Sep-
tember 2007 - 5 B 53.07 - juris Rn. 16). Gemessen an diesen Grundsätzen ist
auch die Ermessensentscheidung des Oberverwaltungsgerichts nicht zu bean-
standen. Das Berufungsgericht hat dargelegt, aus welchen Gründen es nach
§ 130a VwGO entschieden hat (UA S. 13). Dass diese Entscheidung auf sach-
fremden Erwägungen oder auf groben Fehleinschätzungen beruht (vgl. zu die-
sem Maßstab etwa BVerwG, Beschluss vom 3. Februar 1999 - 4 B 4.99 - Buch-
holz 310 § 130a VwGO Nr. 33 S. 2 m.w.N.), ist weder dargetan noch sonst er-
sichtlich. Die Kläger rügen zwar, das Oberverwaltungsgericht habe ihre Beru-
fung wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils
zugelassen; dass dann die Berufung im Beschlusswege ohne mündliche Ver-
handlung zurückgewiesen werde, stelle ein Novum dar, zumal unklar gewesen
sei, welche Gesichtspunkte für das plötzliche Umschwenken des Senats maß-
geblich gewesen seien. Damit ist ein Ermessensfehler aber nicht dargetan. Im
ersten Anhörungsschreiben vom 12. Juni 2014 hat das Oberverwaltungsgericht
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die Beteiligten nicht nur zur beabsichtigten Entscheidung nach § 130a VwGO
angehört, sondern auch ausgeführt, dass es die in der Berufungserwiderung
der Beklagten vorgetragenen Argumente - nach vorläufiger Einschätzung - für
überzeugend halte und deshalb beabsichtige, die Berufung zurückzuweisen
(GA Bl. 236). Im Schreiben des Gerichts vom 22. Juli 2014, das die Bevoll-
mächtigten der Kläger ausweislich des Empfangsbekenntnisses am 28. Juli
2014 erhalten haben (GA Bl. 244, 245), hat das Oberverwaltungsgericht zusätz-
lich dargelegt, inwiefern im Rahmen der Zulassung der Berufung Zweifel an der
Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils bestanden hätten. Vor diesem Hinter-
grund erweist sich der Vorwurf der Kläger als haltlos.
Ferner tragen die Kläger vor, jedenfalls nach der Antragsumstellung vom ur-
sprünglichen Feststellungsantrag auf eine allgemeine Leistungsklage mit Hilfs-
antrag sei es unzulässig gewesen, ohne mündliche Verhandlung nach § 130a
VwGO zu entscheiden. Wie die Begründung des Beschlusses zeige, habe das
Berufungsgericht eine völlig neue rechtliche Betrachtung der streitgegenständli-
chen Vereinbarung der Beteiligten vorgenommen. Die Änderung der Klagean-
träge und der Umstand, dass Auslegungen solcher Art von der Vorinstanz nicht
angestellt worden seien, führe dazu, dass das Oberverwaltungsgericht eine
mündliche Verhandlung hätte durchführen müssen, in welcher es die beabsich-
tigte Auslegung hätte darlegen können, womit die Kläger Gelegenheit gehabt
hätten, zu den einzelnen Auslegungskriterien und Ergebnissen konkret Stellung
zu nehmen. Auch diese Ausführungen führen nicht auf einen Verfahrensfehler.
Für die Frage, ob im Falle einer Antragsänderung im Berufungsverfahren eine
mündliche Verhandlung erforderlich ist oder gleichwohl nach § 130a VwGO ver-
fahren werden kann, kommt es - im Lichte des Art. 6 Abs. 1 EMRK - maßgeb-
lich darauf an, ob hierdurch neue, im erstinstanzlichen Verfahren noch nicht
relevante Rechtsfragen oder Tatsachen entscheidungserheblich werden
(BVerwG, Beschluss vom 18. Dezember 2014 - 8 B 47.14 - Buchholz 310
§ 130a VwGO Nr. 85 = juris Rn. 7). Ist das der Fall, dann müssen die Beteilig-
ten die Gelegenheit erhalten, sich zu den neuen entscheidungserheblichen
Fragen in einer mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht zu äußern
(vgl. BVerwG, Beschluss vom 10. September 1998 - 8 B 102.98 - Buchholz
401.9 Beiträge Nr. 40 = juris Rn. 7; Kopp/Schenke, VwGO, 21. Auflage 2015,
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§ 130a Rn. 2 m.w.N.). Das gilt für neue Rechtsfragen ebenso wie für neue Tat-
sachenfragen, weil zu beidem rechtliches Gehör in prozessordnungsgemäßer
Form zu gewähren ist. Für die Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit
muss ebenso wie bei der Prüfung sonstiger Verfahrensmängel von der materi-
ellrechtlichen Rechtsauffassung des Berufungsgerichts ausgegangen werden
(BVerwG, Beschluss vom 18. Dezember 2014 a.a.O.). Gemessen hieran konn-
te das Oberverwaltungsgericht von einer mündlichen Verhandlung absehen.
Kernpunkt des vorliegenden Verfahrens war sowohl in der ersten (vgl. UA S. 3
und 4) als auch in der zweiten Instanz Wirksamkeit und Auslegung der Ziffer 6
des zwischen den Beteiligten am 13. Mai 2009 geschlossenen außergerichtli-
chen Vergleichs. Hieran änderte die Antragsumstellung mit Schriftsatz vom
1. Oktober 2014 nichts, denn die Kläger trugen damit allein dem Umstand
Rechnung, dass die Bauarbeiten am Elbe-Havel-Kanal seit Mai 2014/Septem-
ber 2014 abgeschlossen waren und damit eine auf den Zeitraum vor Beginn der
Ausbaumaßnahmen bezogene Feststellungsklage ersichtlich keinen Sinn mehr
machte. Sowohl vor als auch nach der Antragsumstellung ging es jedoch stets
um die Frage, ob die Kläger den von ihnen behaupteten Anspruch gegen die
Beklagte aus Ziffer 6 des zwischen ihnen geschlossenen außergerichtlichen
Vergleichs herleiten können. Damit haben sich trotz Antragsumstellung weder
die Tatsachengrundlagen noch die Rechtsfragen geändert. Davon ist auch das
Oberverwaltungsgericht ausgegangen (vgl. UA S. 14) und das räumen letztlich
auch die Kläger ein, in dem sie in ihrem Schriftsatz vom 1. Oktober 2014 (GA
Bl. 250) selbst ausführen, dass die "Sache im Wesentlichen ausgeschrieben"
sei. Der Umstand, dass das Verwaltungsgericht Ziffer 6 des Vergleichs nicht
selbst ausgelegt hat, sondern der klägerischen Auslegung gefolgt ist, weil es
die Regelung für nichtig hielt, zwingt zu keiner anderen Beurteilung.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 159 Satz 1 VwGO i.V.m.
§ 100 Abs. 1 ZPO. Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus § 47 Abs. 1 Satz 1
und Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG.
Prof. Dr. Rubel
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