Urteil des BVerwG vom 30.07.2015

Zusammenarbeit, Staatssicherheit, DDR, Haft

BVerwGE: nein
Fachpresse: ja
Sachgebiet:
Recht zur Bereinigung von SED-Unrecht
Sachgebietsergänzung:
berufliche Rehabilitierung
Rechtsquelle/n:
VwGO § 118, § 132 Abs. 2 Nr. 2, Nr. 3
BerRehaG § 1 Abs. 1, § 4
AusglLeistG § 1 Abs. 4
Titelzeile:
Ausschließung von der beruflichen Rehabilitierung wegen
Spitzeltätigkeit für die Staatssicherheit der DDR
Stichworte:
Berufliche Rehabilitierung; Ausschließungsgrund; Spitzeltätigkeit; konspirative
Zusammenarbeit; abgenötigte Zusammenarbeit; MfS; Stasi; Überrumpelung;
Jugendlichkeit; Verpflichtungserklärung; kompromittierender Bericht;
Abkehrverhalten des Spitzels; Distanzierung vom MfS; widersprüchliches Urteil;
Urteilsberichtigung; offensichtliche Schreibfehler; Anforderungen an die
Divergenz; verschiedene Rechtssätze; Übertragbarkeit von Grundsätzen.
Leitsatz:
Der durch eine freiwillige Spitzeltätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit
der DDR verwirklichte Ausschluss von der Rehabilitierung nach § 4 BerRehaG
entfällt nicht wieder durch eine nachträgliche Distanzierung des Spitzels vom
MfS.
Beschluss des 3. Senats vom 30. Juli 2015 - BVerwG 3 B 42.14
I. VG Potsdam vom 8. April 2014
Az: VG 11 K 617/13
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 3 B 42.14
VG 11 K 617/13
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 30. Juli 2015
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Kley,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Wysk und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Kuhlmann
beschlossen:
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Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichts Pots-
dam vom 8. April 2014 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 5 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die Klägerin wendet sich dagegen, dass ihr der Beklagte die Rehabilitierung
nach dem Beruflichen Rehabilitierungsgesetz (BerRehaG) wegen einer Spitzel-
tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit der DDR (MfS) verweigert.
Die 1962 geborene Klägerin begann 1978 ein Fachschulstudium zur medizi-
nisch-technischen Laborassistentin an einer Medizinischen Fachschule in Ber-
lin-Friedrichshain. Im November 1980 wurde die Klägerin wegen versuchter
Republikflucht festgenommen, im Dezember 1980 exmatrikuliert und im Januar
1981 wegen versuchten ungesetzlichen Grenzübertritts zu einer Freiheitsstrafe
von anderthalb Jahren verurteilt. Im Juli 1981 verfasste die Klägerin in der Haft
eine handschriftliche Verpflichtungserklärung zur konspirativen Zusammenar-
beit mit dem MfS. Im Dezember 1981 wurde sie mit der Auflage, ihr Studium
weiterzuführen, auf Bewährung vorzeitig aus der Haft entlassen. Anlässlich ei-
nes Treffens mit Stasi-Mitarbeitern am 27. Januar 1982 verfasste sie einen
handschriftlichen Bericht über einen Vorgesetzten, verweigerte dann aber aus-
drücklich die weitere Zusammenarbeit mit dem MfS. Nachdem die Klägerin
nicht mehr zur Arbeit erschien und einen Ausreiseantrag gestellt hatte, verbüßte
sie nach Widerruf der Strafaussetzung von November 1982 bis April 1983 die
restliche Haftzeit. Im April 1984 stellte sie einen weiteren Ausreiseantrag und
schrieb im Oktober 1984 eine weitere handschriftliche Verpflichtungserklärung
zur konspirativen Zusammenarbeit mit dem MfS. Im Dezember 1985 reiste die
Klägerin in die Bundesrepublik Deutschland aus.
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Mit ihrem Antrag auf berufliche Rehabilitierung erläuterte sie, wie ihr die Zu-
sammenarbeit mit dem MfS abgenötigt worden sei, wie sie sich ihr zu entziehen
versucht habe, die Staatssicherheit sie aber immer wieder unter Druck gesetzt
habe. Man habe sogar ihre ungeborene Tochter als Druckmittel benutzt, wes-
halb sie sich entschlossen habe, das Kind zur Adoption freizugeben. Der Be-
klagte lehnte den Antrag ab, weil infolge der Zusammenarbeit mit dem MfS der
Ausschließungsgrund des § 4 BerRehaG vorliege. Die hiergegen gerichtete
Klage hat das Verwaltungsgericht abgewiesen und den Ausschließungsgrund
bestätigt. Von allem anderen abgesehen, bleibe der Bericht vom 27. Januar
1982, den die Klägerin über ihren Vorgesetzten verfasst habe. Darin habe sie
Äußerungen des Vorgesetzten festgehalten, die sie selbst für problematisch
gehalten habe. Es sei ihr bewusst gewesen, dass sie Informationen über unbe-
fangen gegebene Äußerungen des Vorgesetzten geliefert habe, die für die Stasi
potenziell interessant und geeignet gewesen seien, ihn weiterer intensiver
Überprüfung und möglicher politischer Verfolgung auszusetzen. Aus der Bewer-
tung des MfS ergebe sich, dass die Klägerin den Bericht entsprechend ihrer
Einsatzrichtung abgegeben habe und dass die Informationen tatsächlich rele-
vant gewesen seien, weiter überprüft und weitergegeben worden seien. Die
Klägerin habe sich auch nicht in einer die Freiwilligkeit der Spitzeltätigkeit aus-
schließenden Zwangslage befunden. Sie habe angegeben, bei der Abfassung
des Berichts überrumpelt worden zu sein. Dass sie dies später bereut und in
beeindruckender Weise eine weitere Zusammenarbeit gegenüber einem haupt-
amtlichen Mitarbeiter des MfS abgelehnt habe, mache die Verwirklichung des
Ausschließungsgrundes nicht ungeschehen. Weder dies noch die Einmaligkeit
des Vorfalls und das jugendliche Alter der Klägerin ergäben einen so atypi-
schen Fall, dass ein Absehen vom Ausschließungsgrund gerechtfertigt sei.
Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil bleibt
ohne Erfolg. Es liegt keiner der Gründe des § 132 Abs. 2 VwGO vor, aus denen
die Revision zugelassen werden kann.
1. Ein Verfahrensmangel im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, auf dem die
Entscheidung beruhen kann, ist nicht gegeben. Die Beschwerde macht insofern
geltend, es liege eine Verletzung des Überzeugungsgrundsatzes nach § 108
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Abs. 1 Satz 1 VwGO vor, weil das Verwaltungsgericht zentralen Vortrag der
Klägerin nicht berücksichtigt und gegen Denkgesetze verstoßen habe.
Soweit die Beschwerde dies damit begründen will, dass sich die Ausführungen
zur Wirkung einer nachträglichen Distanzierung vom MfS auf den Seiten 14 und
23 des Urteilsabdrucks widersprächen, übergeht sie, dass der (scheinbare) Wi-
derspruch auf das Fehlen des sinnumkehrenden Wortes „nicht“ auf Seite 14
(Zeile 11) des Urteilsabdrucks zurückgeht, das aus dem Zusammenhang des
Satzes und der weiteren Urteilsbegründung ohne Weiteres als offensichtlicher
Schreibfehler erkennbar ist. Dementsprechend hat das Verwaltungsgericht das
fehlende Wort durch Beschluss vom 26. Juni 2014 - nach Eingang der Be-
schwerdebegründung - im Wege der Urteilsberichtigung nach § 118 VwGO
nachträglich eingefügt. Liegt kein Widerspruch vor, geht auch die Rüge fehl,
das Verwaltungsgericht habe, ausgehend von seinen widersprüchlichen Aus-
führungen, den Vortrag der Klägerin zu Entlastungstatsachen nicht mehr ge-
würdigt. Tatsächlich trifft dies nicht zu; vielmehr hat das Verwaltungsgericht die
von der Klägerin geltend gemachten Umstände unter dem Blickwinkel seines
Rechtsstandpunktes bewertet (UA S. 23).
2. Eine Abweichung von Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im
Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO ist nicht dargelegt.
Die Beschwerde meint, das Verwaltungsgericht weiche von Aussagen in den
Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. Februar 2009 - 5 C 4.08 -
(Buchholz 428.4 § 1 AusglLeistG Nr. 16) und vom 18. September 2009
- 5 C 1.09 - (BVerwGE 135, 1) ab. Eine Divergenz liegt vor, wenn sich das vo-
rinstanzliche Gericht in Anwendung derselben Rechtsvorschrift mit einem seine
Entscheidung tragenden (abstrakten) Rechtssatz in Widerspruch gesetzt hat zu
einem ebensolchen Rechtssatz in der Entscheidung eines divergenzfähigen
Gerichts, und wenn das Urteil auf dieser Abweichung beruht (stRspr, vgl. nur
BVerwG, Beschlüsse vom 11. März 2009 - 4 BN 7.09 - juris und vom
19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 26 S. 14).
Nach den Ausführungen der Beschwerde soll sich das Verwaltungsgericht bei
der Anwendung von § 4 BerRehaG aber in Widerspruch zu Rechtsprechung
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gesetzt haben, die zu § 1 Abs. 4 des Ausgleichsleistungsgesetzes (Ausgl-
LeistG) ergangen ist. Auch wenn die Rechtssätze teilweise gleich formuliert
sind, können sie nach dem Sinnzusammenhang des jeweiligen Gesetzes und
seinem Zweck doch unterschiedlich ausgelegt werden und dieselben Begriffe
unterschiedliche Bedeutung haben (vgl. Kuhlmann, in: Wysk, VwGO, 2011,
§ 132 Rn. 26; Kraft, in: Eyermann, VwGO, 14. Aufl., § 132 Rn. 32, jeweils
m.w.N.). Abgesehen davon räumt die Beschwerde ein, dass die im Fall der Klä-
gerin entscheidungserhebliche Frage, ob eine Spitzeltätigkeit durch späteres
(Abkehr)Verhalten in einer den Ausschließungsgrund beseitigenden Weise auf-
gewogen werden kann, in den angeführten Entscheidungen des 5. Senats des
Bundesverwaltungsgerichts nicht entschieden worden ist. In der Sache geht es
der Beschwerde auch ersichtlich um die Übertragbarkeit gewisser zu § 1 Abs. 4
AusglLeistG entwickelter Grundsätze auf § 4 BerRehaG. In diesem Sinne ist es
zu verstehen, wenn die Beschwerde in eigener Interpretation Rechtssätze in
Auslegung des angegriffenen Urteils und des Bundesverwaltungsgerichts auf-
stellt, die sich in keiner der Entscheidungen finden.
3. Die Rechtssache hat mit den sich daraus fallabhängig ergebenden Fragen
keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
Die Beschwerde formuliert als grundsätzlich klärungsbedürftig Varianten zu der
Frage, ob die „Entlastung [eines für das MfS tätigen Spitzels] durch späteres
Abkehrverhalten“ des Spitzels möglich ist. Diese Frage lässt sich in dem Rah-
men, in dem der Fall Anlass zu einer fallübergreifenden Klärung bieten könnte,
ohne Durchführung eines Revisionsverfahrens im Sinne des angefochtenen
Urteils verneinen. Anlass zur Klärung kann hier nur geben, ob der durch eine
freiwillige Spitzeltätigkeit für das MfS verwirklichte Ausschließungsgrund nach
§ 4 BerRehaG durch das nachträgliche Verhalten des informellen Mitarbeiters
wieder entfallen kann. Diese Frage ist zu verneinen. Besondere Umstände, wie
sie bei Abgabe des Berichts in der Person der Klägerin vorgelegen haben mö-
gen (Jugendlichkeit, Überrumpelung), sind bereits bei der Prüfung zu berück-
sichtigen, ob der Verfolgte gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder
Rechtsstaatlichkeit verstoßen hat (vgl. BVerwG, Beschluss vom 20. August
2008- 3 B 73.08 - ZOV 2008, 264 dazu, dass auch eine einzige Denunziation
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ausreichen kann). Ist dies zu bejahen - wie es das Verwaltungsgericht unbean-
standet festgestellt hat -, bieten weder der Tatbestand des § 4 BerRehaG noch
übergeordnete Grundsätze einen Ansatz dafür, späteres Verhalten des Spitzels
ausgleichend wirksam werden zu lassen. Die nachträgliche Distanzierung des
Spitzels bleibt ohne Einfluss auf die Folgen, die sein Verhalten bereits ausge-
löst hat, und geht in seinen Wirkungen nicht über die Verhaltensanforderungen
hinaus, die ohnehin einem ehemaligen Bürger der DDR abverlangt werden, der
wegen erlittener Verfolgung Leistungen beansprucht, aber nicht der Staatssi-
cherheit zu Diensten war. Ausgehend von dieser Beantwortung der Grundsatz-
frage würden sich die weiteren Differenzierungen der Fallfrage nicht mehr ent-
scheidungserheblich stellen.
Von einer weiteren Begründung seines Beschlusses sieht der Senat nach § 133
Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO ab.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des
Streitwerts beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 i.V.m. § 52 Abs. 2 GKG.
Kley
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Dr. Kuhlmann
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