Urteil des BVerwG vom 21.08.2012

Wider Besseres Wissen, Daten, Hauptsache, Zusammenarbeit

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 20 F 5.12
OVG 14 PS 1/12
In der Verwaltungsstreitsache
- 2 -
hat der Fachsenat des Bundesverwaltungsgerichts
für Entscheidungen nach § 99 Abs. 2 VwGO
am 21. August 2012
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Neumann,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Bumke und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Brandt
beschlossen:
Die Beschwerde des Klägers gegen den Beschluss des
Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom
23. März 2012 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
G r ü n d e :
Die Beschwerde des Klägers, der in dem diesem Zwischenverfahren zugrunde
liegenden Hauptsacheverfahren die Verpflichtung des Beklagten begehrt, voll-
ständige Auskunft über die zu seiner Person gespeicherten Daten zu erhalten,
ist unbegründet. Zu Recht hat der Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts ent-
schieden, dass die Weigerung des Beklagten, die vom Hauptsachegericht an-
geforderten Akten der Verfassungsschutzbehörde des Landes Niedersachsen
vollständig und ungeschwärzt vorzulegen, rechtmäßig ist.
1. In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Senats hat der Fachsenat
des Oberverwaltungsgerichts die mit der Eingangsverfügung verbundene form-
lose Aufforderung, die Unterlagen vollständig und im Original vorzulegen, für
ausreichend angesehen.
Ein - grundsätzlich erforderlicher - Beweisbeschluss oder eine vergleichbare
förmliche Äußerung des Hauptsachegerichts zur Klärung der rechtlichen Erheb-
lichkeit des Akteninhalts für die Entscheidung des Rechtsstreits ist dann aus-
nahmsweise entbehrlich, wenn die zurückgehaltenen Unterlagen zweifelsfrei
rechtserheblich sind. Das ist immer dann der Fall, wenn die Pflicht zur Vorlage
der Behördenakten bereits Streitgegenstand des Verfahrens zur Hauptsache ist
1
2
3
- 3 -
und die dortige Entscheidung von der - allein anhand des Inhalts der umstritte-
nen Akten zu beantwortenden - Frage abhängt, ob die Akten, wie von der Be-
hörde geltend gemacht, geheimhaltungsbedürftig sind (Beschluss vom 19. April
2010 - BVerwG 20 F 13.09 - BVerwGE 136, 345 Rn. 4 m.w.N.). So liegt es hier.
Der Beklagte hat dem Begehren des Klägers im Hauptsacheverfahren auf (voll-
ständige) Auskunft materiell-rechtliche Weigerungsgründe i.S.d. § 13 Abs. 2
Satz 1 Nr. 1 bis 3 NVerfSchG entgegengehalten, deren Berechtigung für das
Gericht der Hauptsache nur in Kenntnis des Akteninhalts feststellbar ist.
2. Nach § 99 Abs. 1 Satz 1 VwGO sind Behörden zur Vorlage von Urkunden
oder Akten und zu Auskünften an das Gericht verpflichtet. Wenn das Bekannt-
werden des Inhalts der Akten dem Wohl des Bundes oder eines deutschen
Landes Nachteile bereiten würde oder wenn die Vorgänge nach einem Gesetz
oder ihrem Wesen nach geheim gehalten werden müssen, kann die zuständige
oberste Aufsichtsbehörde gemäß § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO die Vorlage der
Urkunden oder Akten oder die Erteilung der Auskünfte verweigern. Ein Nachteil
in diesem Sinne ist u.a. dann gegeben, wenn und soweit die Bekanntgabe des
Akteninhalts die künftige Erfüllung der Aufgaben der Sicherheitsbehörden ein-
schließlich deren Zusammenarbeit mit anderen Behörden erschweren oder Le-
ben, Gesundheit oder Freiheit von Personen gefährden würde (stRspr, vgl. Be-
schlüsse vom 29. Juli 2002 - BVerwG 2 AV 1.02 - BVerwGE 117, 8, vom
25. Februar 2008 - BVerwG 20 F 43.07 - juris Rn. 10, vom 5. November 2008
- BVerwG 20 F 6.08 - juris Rn. 4, vom 3. März 2009 - BVerwG 20 F 9.08 - juris
Rn. 7 und vom 2. Juli 2009 - BVerwG 20 F 4.09 - Buchholz 310 § 99 VwGO
Nr. 54 Rn. 8).
Gemäß § 1 Satz 1 NVerfSchG dient der Verfassungsschutz des Landes Nie-
dersachsen dem Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, des
Bestandes und der Sicherheit des Bundes und der Länder. Aufgabe der Verfas-
sungsschutzbehörde des Landes ist die Sammlung und Auswertung von Infor-
mationen, insbesondere von sach- und personenbezogenen Auskünften, Nach-
richten und Unterlagen, über Bestrebungen und Tätigkeiten i.S.d. § 3 Abs. 1
NVerfSchG. Dieses Ziel rechtfertigt die Geheimhaltung gewonnener verfas-
4
5
- 4 -
sungsschutzdienstlicher Informationen und Informationsquellen, Arbeitsweisen
und Methoden der Erkenntnisgewinnung.
3. Gemäß § 13 Abs. 1 Satz 1 NVerfSchG erteilt die Verfassungsschutzbehörde
dem Betroffenen über zu seiner Person gespeicherte Daten auf Antrag unent-
geltlich Auskunft. Gemäß § 13 Abs. 2 NVerfSchG hat die Auskunftserteilung zu
unterbleiben, wenn einer der in Satz 1 Nr. 1 bis 3 genannten Geheimhaltungs-
gründe vorliegt. Wird der Auskunftsanspruch nach § 13 Abs. 1 NVerfSchG vor
dem Verwaltungsgericht geltend gemacht und beabsichtigt die oberste Auf-
sichtsbehörde, die Vorlage der vom Verwaltungsgericht zum Zweck der Sach-
verhaltsaufklärung angeforderten Akten gemäß § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO we-
gen Geheimhaltungsbedürftigkeit ganz oder teilweise zu verweigern, genügt es
nicht, dass sie in ihrer Erklärung gegenüber dem Gericht auf die Geheimhal-
tungsgründe des Fachgesetzes verweist. Die oberste Aufsichtsbehörde hat
vielmehr neben der Geheimhaltungsbedürftigkeit der Akten zusätzlich gemäß
§ 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO in den Blick zu nehmen, dass das angerufene Gericht
der Hauptsache auf die Kenntnis der Akten angewiesen ist, um zu einer sach-
gerechten Entscheidung zu kommen. Insofern ist die Vorschrift des § 99 Abs. 1
Satz 2 VwGO im Verhältnis zu den fachgesetzlich geregelten Auskunftsansprü-
chen eine prozessrechtliche Spezialnorm. Das bedeutet, dass der obersten
Aufsichtsbehörde auch in den Fällen Ermessen zugebilligt ist, in denen das
Fachgesetz der zuständigen Fachbehörde kein Ermessen einräumt (stRspr, vgl.
nur Beschluss vom 14. April 2011 - BVerwG 20 F 19.10 - juris Rn. 5).
4. Nach diesen Grundsätzen ist die Verweigerung des Beklagten nicht zu bean-
standen.
4.1 Zu Recht hat der Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts nicht beanstan-
det, dass der Beklagte die in der Sperrerklärung angeführten Geheimhaltungs-
gründe nicht unter Angabe von Blattzahlen der paginierten Akten (Beiakten C
und D) den jeweiligen Aktenseiten bzw. Bestandteilen einer Seite zugeordnet
hat. Grundsätzlich muss eine Sperrerklärung zwar eine präzisierende Um-
schreibung und Zuordnung der geltend gemachten Geheimhaltungsgründe ent-
halten (Beschlüsse vom 5. November 2008 a.a.O. Rn. 10, vom 25. Juni 2010
6
7
8
- 5 -
- BVerwG 20 F 1.10 - Buchholz 310 § 99 VwGO Nr. 59 Rn. 11 und vom
18. April 2012 - BVerwG 20 F 7.11 - juris Rn. 5). Der in der Sperrerklärung ent-
haltene Hinweis, die Zuordnung sei behördenintern geleistet und dokumentiert
worden, genügt dafür nicht (vgl. dazu auch Beschluss vom 18. April 2012 a.a.O.
Rn. 10 f.). Eine differenzierende Aufbereitung der Unterlagen - unter Angabe
von Blattzahlen, gegebenenfalls auch der Bezifferung von Absätzen oder der
Gliederungspunkte eines Dokuments - erweist sich aber im vorliegenden Fall
ausnahmsweise als entbehrlich, weil der Umfang der Unterlagen überschaubar
ist und sich bei Durchsicht der Akte die Zuordnung der Geheimhaltungsgründe
ohne Weiteres erschließt.
4.2 Die Durchsicht der Beiakten C und D belegt die in der Sperrerklärung dar-
gelegten Geheimhaltungsgründe. Die Feststellung des Fachsenats des Ober-
verwaltungsgerichts, dass die Aktenseiten, die der Beklagte vollständig zurück-
gehalten oder aber nur mit Schwärzungen vorgelegt hat, geheimhaltungsbe-
dürftig sind, ist nicht zu beanstanden.
Der Senat hat die vom Beklagten vorgelegten, uneingeschränkt lesbaren Akten-
stücke der Beiakten C und D im Einzelnen durchgesehen. Dabei hat sich erge-
ben, dass der Beklagte nur Eintragungen zurückgehalten hat, die gemäß § 99
Abs. 1 Satz 2 VwGO geheimhaltungsbedürftig sind. Wie der Fachsenat des
Oberverwaltungsgerichts dargelegt hat, rechtfertigen Aktenzeichen, Organisa-
tionskennzeichen und Arbeitstitel, Verfügungen, Arbeitshinweise, Randbemer-
kungen und Querverweise sowie Hervorhebungen und/oder Unterstreichungen
die Zurückhaltung dieser Seiten. Diese Informationen sind grundsätzlich geeig-
net, vor allem im Rahmen einer umfangreichen Zusammenschau, die künftige
Aufgabenerfüllung der Sicherheitsbehörden einschließlich deren Zusammen-
arbeit mit anderen Behörden zu erschweren, weil sich daraus Rückschlüsse auf
Arbeitsweisen und Methoden der Erkenntnisgewinnung ableiten lassen. Da-
rüber hinaus sind in den Beiakten C und D Informationen enthalten, deren Sper-
rung dem Quellenschutz dient, die personenbezogene Daten von Behördenan-
gehörigen und Mitarbeitern betreffen, Methoden der operativen Arbeit oder der
Zusammenarbeit mit anderen Behörden offenbaren oder Rückschlüsse auf die
interne Arbeits- und Verfahrensweise der Verfassungsschutzbehörde ermögli-
9
10
- 6 -
chen würden. Das gilt in besonderer Weise für so genannte Deckblattberichte,
für die darüber hinaus der Gesichtspunkt des Quellenschutzes greift, und die
aus diesem Grund grundsätzlich in ihrer Gesamtheit einschließlich Anlagen ge-
heimhaltungsbedürftig sind (Beschluss vom 5. April 2012 - BVerwG 20 F 1.12 -
juris Rn. 4). Zu einigen wenigen Aktenseiten, die der Beklagte dem Hauptsa-
chegericht im Original vorgelegt und mit Schwärzungen versehen hat, fehlen
zwar die für einen Abgleich erforderlichen ungeschwärzten Blattseiten in den
Beiakten C und D (vgl. dazu auch Beschluss vom 5. April 2012 a.a.O. Rn. 7).
Das ist jedoch hier ausnahmsweise unschädlich, weil sich die Schwärzungen
erkennbar auf geheimhaltungsbedürftige Angaben beziehen. Das ergibt sich
aus dem inhaltlichen Gesamtzusammenhang, in dem die geschwärzten Anga-
ben stehen, und aus dem formalen Aufbau der Seite, d.h. der konkreten Stelle
der Schwärzungen auf dem Blatt. Die Überprüfung durch den Senat hat auch
bestätigt, dass punktuelle Schwärzungen - über die dem Hauptsachegericht
bereits vorgelegten Aktenseiten hinaus - nicht angezeigt waren, weil für jede
Aktenseite - meist mehrere - Geheimhaltungsgründe vorliegen, die die Vorlage-
verweigerung der Seite insgesamt rechtfertigen.
Soweit der Kläger zum Informantenschutz die „Validität“ der Quellenberichte
bestreitet und meint, eine Falschinformation erscheine nahe liegend bzw. mög-
lich, wird nicht beachtet, dass der Informantenschutz grundsätzlich unabhängig
vom Wahrheitsgehalt der Mitteilungen greift (Urteil vom 27. Februar 2003
- BVerwG 2 C 10.02 - BVerwGE 118, 10 <14>; Beschluss vom 22. Juli 2010
- BVerwG 20 F 11.10 - BVerwGE 137, 318 Rn. 13). Eine Behörde darf die Ver-
traulichkeit von Angaben Dritter auch dann wahren, wenn sich Hinweise eines
Informanten nachträglich als unzutreffend erweisen sollten (Beschluss vom
5. April 2012 a.a.O. Rn. 5).
Der im Zusammenhang mit den Ermessenserwägungen des Beklagten erhobe-
ne Einwand, die Angaben seien nachweislich falsch, beschränkt sich auf den
Hinweis, der Kläger habe an den genannten Veranstaltungen nicht als „Teil-
nehmer“, sondern in seiner Eigenschaft als Journalist teilgenommen. Dass er
bei den Veranstaltungen anwesend war, stellt der Kläger nicht in Abrede. Der
Beklagte weiß auch, dass der Kläger ein Journalist ist. Insofern handelt es sich
11
12
- 7 -
nicht um „falsche Informationen“. Die Frage, welche Schlüsse der Beklagte aus
bestimmten Tatsachen zieht, ist ebenso wie die vom Kläger im Zusammenhang
mit § 10 Abs. 3 NVerfSchG aufgeworfene Frage, warum er weiterhin „beobach-
tungswürdig“ erscheine, nicht im in-camera-Verfahren zu beantworten. Anhalts-
punkte dafür, dass in den Quellenberichten wider besseres Wissen oder leicht-
fertig Behauptungen aufgestellt worden wären, sind weder vorgetragen noch zu
erkennen.
4.3 Der Beklagte hat in seiner Eigenschaft als oberste Aufsichtsbehörde i.S.d.
§ 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO auch das ihm eingeräumte Ermessen erkannt. Er hat,
wie in § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO vorgesehen, eine auf den laufenden Rechts-
streit bezogene und auf einer Abwägung der widerstreitenden Interessen der
Beteiligten im Prozess beruhende Ermessensentscheidung über die Aktenvor-
lage getroffen und nicht lediglich auf das Vorliegen der fachgesetzlichen Weige-
rungsgründe nach § 13 Abs. 2 NVerfSchG verwiesen.
Wie der Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts ausgeführt hat, sind die Erwä-
gungen zwar sehr kurz gehalten, sie genügen aber noch den Anforderungen an
eine Ermessensausübung i.S.d. § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO. So hat der Beklagte
ausgeführt, dass bei der gebotenen Güterabwägung nicht nur das Interesse an
einer lückenlosen Sachverhaltsaufklärung durch das Gericht, sondern auch das
private Interesse des Klägers an der begehrten Auskunft zu berücksichtigen sei.
Dabei sei an Hand jedes einzelnen Aktenstücks die Frage der Offenlegung ge-
prüft worden. Dem entspricht, dass der Beklagte die Beiakten C und D offen-
sichtlich sorgsam gesichtet und nicht nur Aktenseiten, die allgemein zugängli-
ches Material enthalten (ungeschwärzt) vorgelegt hat, sondern sich entschieden
hat, auch einige behördliche Schreiben (Telexschreiben, Vermerk) offenzulegen
und sich insoweit auf die Schwärzung lediglich formaler Aspekte wie Aktenzei-
chen, Organisationskennzeichen u.ä. beschränkt hat. Auch die Erwägung, die
sich auf Grund der Durchsicht bestätigt sieht, dass die journalistische Tätigkeit
des Klägers nicht Anlass der Datenerhebung und -speicherung ist, zeigt, dass
der Beklagte sein Ermessen nach § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO im Hinblick auf die
Umstände des konkreten Einzelfalls ausgeübt hat. Soweit der Kläger geltend
macht, die Teilnahme an bestimmten Veranstaltungen sei seiner journalisti-
13
14
- 8 -
schen Arbeit geschuldet, missversteht er möglicherweise den Begriff „Anlass“.
Wie der Beklagte in seiner Beschwerdeerwiderung ausgeführt hat, waren Hand-
lungen, die zu strafrechtlichen Ermittlungen führten, und nicht die journalistische
Tätigkeit des Klägers Anlass für verfassungsschutzbehördliche Maßnahmen,
die zu den in den Akten befindlichen Informationen geführt haben. Die Durch-
sicht der Akten belegt, dass die vom Kläger genannten Veranstaltungen nicht
allein deswegen in den Blick der Behörde geraten sind, weil er dort anwesend
war.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO (vgl. dazu auch Be-
schlüsse vom 8. Mai 2009 - BVerwG 20 KSt 1.09 / BVerwG 20 F 26.08 - und
vom 16. Dezember 2010 - BVerwG 20 F 15.10 - NVwZ-RR 2011, 261 Rn. 11).
Einer Streitwertfestsetzung bedarf es mit Blick auf Nr. 5502 des Kostenver-
zeichnisses nicht; danach fällt für eine sonstige Beschwerde eine Gebühr in
Höhe von 50 € im Fall der Zurückweisung an.
Neumann
Dr. Bumke
Brandt
15