Urteil des BVerwG vom 28.05.2015

Rücknahme, Ausstellung, Änderung der Rechtsprechung, Ex Nunc

BVerwGE: ja
Fachpresse: ja
Sachgebiet:
Recht der Vertriebenen einschließlich des Rechts der
Vertriebenenzuwendung, der Sowjetzonenflüchtlinge und der
politischen Häftlinge
Rechtsquelle/n:
AsylVfG §§ 2, 3, 5
BVFG § 4 Abs. 1, §§ 6, 15, 18, 100a
GG Art. 116 Abs. 1
StAG § 7 Abs. 1, §§ 8, 10, 17
VwVfG §§ 20, 21, 48
Titelzeile:
Rücknahme der Entscheidung über die Ausstellung einer
Spätaussiedlerbescheinigung
Stichworte:
Angehörigenbescheinigung; Bekenntnis nur zum deutschen Volkstum; deutscher
Volkszugehöriger; Nationalitätenerklärung; Rücknahme; Spätaussiedler;
Spätaussiedlerbescheinigung; Staatsangehörigkeit; Vertrauensschutz;
Zuständigkeit der Ausgangsbehörde.
Leitsätze:
1. Die Rücknahme der Entscheidung über die Ausstellung einer
Spätaussiedlerbescheinigung nach § 15 Abs. 1 BVFG richtet sich ausschließlich
nach § 48 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 VwVfG. § 48 Abs. 2 VwVfG findet erst bei etwa
nachfolgenden Entscheidungen über die Rücknahme von Leistungsbescheiden
Anwendung, die auf der Grundlage der Statusentscheidung erlassen wurden
(Änderung der Rechtsprechung gegenüber BVerwG, Urteile vom 20. März 1990
- 9 C 12.89 - BVerwGE 85, 79 <84> und vom 24. Mai 2012 - 5 C 17.11 -
BVerwGE 143, 161 Rn. 22).
2. Die Rücknahme der Entscheidung über die Ausstellung einer Spätaussied-
lerbescheinigung nach § 15 Abs. 1 BVFG berührt nicht den Erwerb der deut-
schen Staatsangehörigkeit gemäß § 7 StAG durch einen bereits zuvor erteilten
und nicht aufgehobenen Bescheid über die Erteilung einer Angehörigenbe-
scheinigung nach § 15 Abs. 2 BVFG.
Urteil des 1. Senats vom 28. Mai 2015 - BVerwG 1 C 24.14
I. VG Chemnitz vom 20. April 2011
Az: VG 2 K 816/07
II. OVG Bautzen vom 8. Juli 2014
Az: OVG 4 A 238/14
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 1 C 24.14
OVG 4 A 238/14
Verkündet
am 28. Mai 2015
...
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 28. Mai 2015
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig und Prof. Dr. Kraft
sowie die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Fricke und Dr. Rudolph
für Recht erkannt:
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Sächsi-
schen Oberverwaltungsgerichts vom 8. Juli 2014 wird zu-
rückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
G r ü n d e :
I
Der Kläger wendet sich gegen die Rücknahme und Rückforderung einer Spät-
aussiedlerbescheinigung nach § 15 Abs. 1 BVFG.
Der 1954 in der damaligen Sowjetunion geborene Kläger entstammt einer ge-
mischtnationalen Ehe (Vater Russe; Mutter Deutsche). Sowohl in seinem sow-
jetischen Inlandspass aus dem Jahre 1979 als auch in der Geburtsurkunde sei-
nes Sohnes T. ist die Nationalität des Klägers mit "russisch" angegeben. Im Mai
1997 stellte der Kläger Aufnahmeanträge für sich, seine (russische) Ehefrau
und seinen Sohn T. Im Oktober 1998 wurde er als Abkömmling einer Spätaus-
siedlerin in den Aufnahmebescheid seiner Mutter einbezogen. Im Dezember
1999 siedelte die Familie nach Deutschland um.
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Im Februar 2000 beantragte der Kläger die Ausstellung einer Bescheinigung für
Ehegatten und Abkömmlinge eines Spätaussiedlers nach § 15 Abs. 2 BVFG,
dem das Landratsamt Freiberg als Rechtsvorgänger des Beklagten mit Be-
scheid vom 5. Mai 2000 entsprach. Ebenfalls unter dem 5. Mai 2000 stellte das
Landratsamt dem Kläger eine Angehörigenbescheinigung nach § 15 Abs. 2
BVFG aus. Der Kläger legte gegen diesen Bescheid Widerspruch ein, den das
Landratsamt Freiberg als Antrag auf Ausstellung einer Bescheinigung für Spät-
aussiedler nach § 15 Abs. 1 BVFG umdeutete und mit Bescheid vom
14. Januar 2004 ablehnte, weil der Kläger kein deutscher Volkszugehöriger sei.
Hiergegen legte der Kläger keinen Rechtsbehelf ein.
Am 12. Oktober 2004 griffen Mitarbeiter des Landratsamts den Vorgang ohne
erkennbaren Anlass wieder auf und stellten für den Kläger unter demselben
Datum eine Bescheinigung nach § 15 Abs. 1 BVFG aus. Nach dieser ist der
Kläger Spätaussiedler nach § 4 BVFG, seine Ehefrau Ehegatte eines Spätaus-
siedlers und sein Sohn T. Abkömmling eines Spätaussiedlers. Am 15. Oktober
2004 erging gegenüber dem Kläger ein durch die Leiterin des Sozialamtes,
Frau H., unterzeichneter Bescheid des Landratsamtes, in dem unter dem Be-
treff "Antrag auf Ausstellung einer Bescheinigung für Spätaussiedler nach § 15
Abs. 1 BVFG" ausgeführt wurde, dass dem Antrag des Klägers vom Februar
2000 auf "Ausstellung einer Bescheinigung nach § 15 Abs. 2 BVFG" entspro-
chen werde. Außerdem wurde im Bescheid auf eine am "14. Oktober 2004"
ausgestellte Bescheinigung Bezug genommen, deren Identifikations- und Se-
riennummer der Bescheinigung vom 12. Oktober 2004 über den Nachweis der
Spätaussiedlereigenschaft nach § 15 Abs. 1 BVFG entsprach.
Nach Hinweisen auf Unregelmäßigkeiten führte das Landratsamt Freiberg im
Herbst 2005 eine Überprüfung durch und nahm nach Anhörung des Klägers mit
einem wiederum durch die Leiterin des Sozialamts, Frau H., unterzeichneten
Bescheid vom 24. März 2006 den Bescheid vom 15. Oktober 2004 sowie die
am 12. Oktober 2004 ausgestellte Bescheinigung nach § 15 Abs. 1 BVFG zu-
rück (Ziffer 1), forderte den Kläger unter Fristsetzung zur Rückgabe des Be-
scheides und der Bescheinigung auf (Ziffer 2) und drohte ihm für den Fall der
Zuwiderhandlung gegen diese Verpflichtung die Wegnahme des Bescheides
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und der Bescheinigung an (Ziffer 4). Zur Begründung führte es aus, der Kläger
sei kein Spätaussiedler. Es fehle an einem durchgängigen Bekenntnis nur zum
deutschen Volkstum. Zudem sei er zum Zeitpunkt seiner Ausreise nicht in der
Lage gewesen, die deutsche Sprache ausreichend zu verstehen und zu spre-
chen. Den dagegen eingelegten Widerspruch wies das Regierungspräsidium
Chemnitz mit Widerspruchsbescheid vom 22. Mai 2007 mit der Maßgabe zu-
rück, dass nur die Bescheinigung spätestens zwei Wochen nach Bestandskraft
der Rücknahmeentscheidung zurückzugeben ist. Der für die Erstellung des Be-
scheides vom Oktober 2004 zuständige Sachbearbeiter wurde nach Angaben
des Beklagten im Jahr 2011 zu einer Freiheitsstrafe verurteilt.
Das Verwaltungsgericht hat die gegen den Rücknahmebescheid gerichtete Kla-
ge abgewiesen. Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung des Klägers zu-
rückgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen Folgendes ausgeführt:
Die Voraussetzungen für eine Rücknahme des Bescheides vom 15. Oktober
2004 und der Bescheinigung vom 12. Oktober 2004 lägen vor. Beide seien von
Anfang an rechtswidrig gewesen, weil der Kläger kein Spätaussiedler sei. Im
Zeitpunkt der Ausreise sei nicht von einem durchgehenden Bekenntnis des
Klägers zum deutschen Volkstum auszugehen. Ob in der freiwilligen Eintragung
der russischen Nationalität in amtlichen Dokumenten bereits ein Gegenbe-
kenntnis zur deutschen Volkszugehörigkeit liege, könne dahinstehen. Jedenfalls
fehle es an einer familiären Vermittlung der deutschen Sprache, weil der Kläger
nur als Kind bis zum Alter von zwei Jahren mit seiner Mutter und seiner Groß-
mutter Deutsch gesprochen habe. Das Rücknahmeermessen richte sich allein
nach § 48 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 VwVfG, da die Bescheinigung als solche
keine einmalige oder laufende Geldleistung oder teilbare Sachleistung gewähre.
Es reiche nicht aus, dass die Bescheinigung Grundlage für Leistungen der Ein-
gliederungshilfe im Sinne von § 9 Abs. 3 BVFG gewesen sei. Schließlich werde
dem Kläger mit der Rücknahme der Bescheinigung nach § 15 Abs. 1 BVFG
nicht die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen, da er diese bereits im Mai
2000 mit der Ausstellung der Bescheinigung nach § 15 Abs. 2 BVFG erworben
habe. Diese ältere Bescheinigung habe sich mit Erteilung der Bescheinigung
nach § 15 Abs. 1 BVFG im Oktober 2004 weder erledigt noch sei ihre Wirksam-
keit anderweitig beseitigt worden.
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Mit seiner Revision rügt der Kläger eine Verletzung von § 48 VwVfG. Die ange-
fochtene Rücknahmeentscheidung sei ermessensfehlerhaft und damit rechts-
widrig, weil ihm hierdurch die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen werde.
Das Berufungsgericht habe nicht in den Blick genommen, dass sich die Be-
scheinigungen nach § 15 Abs. 1 und 2 BVFG gegenseitig sowohl tatbestandlich
als auch von den Rechtsfolgen her ausschlössen. So könne eine Person ent-
weder nur Spätaussiedler oder nur Abkömmling eines Spätaussiedlers sein,
denn § 7 Abs. 2 BVFG definiere Abkömmlinge ausdrücklich als Personen, wel-
che nicht die Voraussetzungen der Spätaussiedlereigenschaft des § 4 Abs. 1
oder 2 BVFG erfüllten.
Der Beklagte verteidigt das angefochtene Berufungsurteil. Der Vertreter des
Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht schließt sich der Auffassung
des Berufungsgerichts an, dass die Rücknahmeentscheidung die Stellung des
Klägers als deutscher Staatsangehöriger nicht berühre. Die Ansprüche als
Spätaussiedler und als Ehegatte oder Abkömmling eines Spätaussiedlers könn-
ten in echter Anspruchskonkurrenz nebeneinander bestehen. Daher berühre
der Verlust der Rechtsstellung nach § 15 Abs. 1 BVFG nicht die zuvor bereits
erworbenen Rechte aufgrund der Erteilung einer Bescheinigung nach § 15
Abs. 2 BVFG.
II
Die Revision des Klägers ist unbegründet. Das Urteil des Berufungsgerichts
steht im Einklang mit revisiblem Recht. Der Rücknahmebescheid vom 24. März
2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22. Mai 2007, dessen
Ziffer 1 dahingehend auszulegen ist, dass der der ausgestellten Spätaussied-
lerbescheinigung nach § 15 Abs. 1 BVFG zugrunde liegende Bescheid vom
15. Oktober 2004 als Verwaltungsakt aufgehoben wird, ist formell (1.) und ma-
teriell (2. und 3.) rechtmäßig.
Maßgeblich für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Rück-
nahmeentscheidung ist grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten Behördenent-
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scheidung (hier: Widerspruchsbescheid vom 22. Mai 2007). Das folgt schon
daraus, dass hier eine behördliche Ermessensentscheidung zu treffen war, die
eine Anpassung an eine neue Rechtslage nur begrenzt ermöglicht (vgl.
BVerwG, Urteil vom 20. Mai 1980 - 1 C 82.76 - BVerwGE 60, 133 <136>). Mit-
hin finden das Verwaltungsverfahrensgesetz für den Freistaat Sachsen
- SächsVwVfG - in der Fassung der Bekanntmachung vom 10. September 2003
(SächsGVBl. S. 614) und das Gesetz über die Angelegenheiten der Vertriebe-
nen und Flüchtlinge - Bundesvertriebenengesetz (BVFG) - in der Fassung des
Zuwanderungsgesetzes vom 30. Juli 2004 - ZuwandG 2004 - (BGBl. I S. 1950)
Anwendung. Die seit der letzten Behördenentscheidung ergangenen Änderun-
gen des Bundesvertriebenengesetzes, insbesondere die durch das Achte Ge-
setz zur Änderung des Bundesvertriebenengesetzes vom 6. Juli 2009
- BVFGÄndG 8 - (BGBl. I S. 1694) mit Wirkung zum 11. Juli 2009 in Kraft getre-
tene spezielle Rücknahmevorschrift des § 15 Abs. 4 BVFG n.F., die mit Blick
auf die staatsangehörigkeitsrechtlichen Folgen nur Rücknahmen mit Wirkung
für die Vergangenheit erfasst, sind ohne entsprechende Übergangsregelungen
nicht auf eine - wie hier - vor ihrem Inkrafttreten ausgesprochene Rücknahme
anwendbar (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. Mai 2012 - 5 C 17.11 - BVerwGE 143,
161 Rn. 12).
Nach der allgemeinen Rücknahmevorschrift des § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG
i.V.m. § 1 Satz 1 SächsVwVfG, auf die mangels einer speziellen Rücknah-
meregelung zurückzugreifen ist, kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch
nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die
Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden (BVerwG, Urteil
vom 24. Mai 2012 - 5 C 17.11 - BVerwGE 143, 161 Rn. 13).
1. Mit dem Oberverwaltungsgericht ist von der formellen Rechtmäßigkeit der
Rücknahmeentscheidung auszugehen. Der Rechtsvorgänger des Beklagten
war insbesondere für diese Entscheidung zuständig (a). Unerheblich ist, dass
Rücknahmebescheid und zurückgenommener Bescheid von der gleichen Per-
son unterzeichnet worden sind (b).
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a) Die Zuständigkeit des Landratsamts ergibt sich aus der speziellen Zustän-
digkeitsregelung des § 15 Abs. 3 BVFG. Danach entscheidet über die Rück-
nahme und den Widerruf sowie über die Ausstellung einer Zweitschrift einer
Bescheinigung die Ausstellungsbehörde. Abweichend von den allgemeinen
verwaltungsverfahrensrechtlichen Grundsätzen zur Bestimmung der Zuständig-
keit für eine Rücknahmeentscheidung nach § 48 VwVfG war das Landratsamt
damit schon deshalb für die Rücknahmeentscheidung zuständig, weil es die
zurückzunehmende Spätaussiedlerbescheinigung ausgestellt hatte.
Die gegenteilige Auffassung des Klägers, "Ausstellungsbehörde" im Sinne des
§ 15 Abs. 3 BVFG sei - analog zu den zu § 48 VwVfG entwickelten allgemeinen
Zuständigkeitsregeln - die im Zeitpunkt der Rücknahme für die Ausstellung zu-
ständige Behörde und damit hier das seit dem 1. Januar 2005 zuständige Bun-
desverwaltungsamt, widerspricht dem eindeutigen Willen des Gesetzgebers.
Den Gesetzesmaterialien ist zu entnehmen, dass nach § 15 Abs. 3 BVFG für
den Widerruf und die Rücknahme einer Bescheinigung - ungeachtet der zwi-
schenzeitlichen Zuständigkeitsübertragung auf das Bundesverwaltungsamt - die
Behörde zuständig sein soll, die die Bescheinigung ausgestellt hat (BT-Drs.
12/3212 S. 26 und 16/12593 S. 9).
b) Das Oberverwaltungsgericht hat auch mit Recht einen behördlichen Verfah-
rensfehler verneint, den der Kläger aus der Tatsache abzuleiten versucht, dass
die frühere Leiterin des Sozialamts des Landratsamts nicht nur den Rücknah-
mebescheid, sondern auch den zurückgenommenen Bescheid unterzeichnet
hat. Dies begründet weder einen gesetzlichen Ausschlussgrund nach § 20
VwVfG noch eine Fehlerhaftigkeit wegen Besorgnis der Befangenheit nach
§ 21 VwVfG. Das Berufungsgericht durfte die Frage, ob die frühere Leiterin des
Sozialamts befangen war, offenlassen, denn es fehlt jedenfalls an dem erforder-
lichen Kausalzusammenhang zwischen ihrer Mitwirkung und der in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides zur Prüfung gestellten Rücknahmeentscheidung
(vgl. BVerwG, Urteile vom 30. Mai 1984 - 4 C 58.81 - BVerwGE 69, 256
<269 f.> und vom 5. Dezember 1986 - 4 C 13.85 - BVerwGE 75, 214 <228>
jeweils zu § 20 VwVfG), weil die Widerspruchsbehörde den Rücknahmebe-
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scheid vollständig überprüft und durch eine selbstständige Sachentscheidung
bestätigt hat.
2. Die Rücknahme der Entscheidung über die Ausstellung einer Spätaussied-
lerbescheinigung ist auch materiell nicht zu beanstanden. Der zurückgenom-
mene Bescheid war bei wertender Gesamtbetrachtung hinreichend bestimmt
auf die Erteilung einer Spätaussiedlerbescheinigung nach § 15 Abs. 1 BVFG
gerichtet (a). Er war aber rechtswidrig. Der Kläger war bei Erlass des Beschei-
des kein Spätaussiedler. Es fehlte bei Verlassen der Aussiedlungsgebiete je-
denfalls an einem (durchgängigen) Bekenntnis zum deutschen Volkstum (b).
Die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 VwVfG ist gewahrt (c). Auch die Ermessensent-
scheidung begegnet keinen Bedenken (d).
a) Der zurückgenommene Bescheid war hinreichend bestimmt. Das Berufungs-
gericht ist davon ausgegangen, dass mit dem aufgehobenen Bescheid vom
15. Oktober 2004 die Rechtsstellung des Klägers durch Erteilung einer Spät-
aussiedlerbescheinigung nach § 15 Abs. 1 BVFG neben der ihm im Mai 2000
ausgestellten Angehörigenbescheinigung nach § 15 Abs. 2 BVFG hochgestuft
werden sollte. Diese Annahme ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Ins-
besondere war der aufgehobene Bescheid bei wertender Gesamtbetrachtung
und unter Einbeziehung der auf seiner Grundlage dem Kläger ausgestellten
Bescheinigung noch hinreichend bestimmt auf die Erteilung einer Spätaussied-
lerbescheinigung gerichtet. Im Bescheid vom 15. Oktober 2004 ist im Betreff
ausdrücklich von einem Antrag auf Ausstellung einer Bescheinigung nach § 15
Abs. 1 BVFG die Rede. Soweit in den Gründen einem Antrag auf Ausstellung
einer Bescheinigung nach § 15 Abs. 2 BVFG entsprochen wird, handelt es sich
offensichtlich um ein Schreibversehen bei der Absatzbezeichnung. Denn dem
Kläger war bereits im Mai 2000 eine Angehörigenbescheinigung nach § 15
Abs. 2 BVFG ausgestellt worden, während er auf der Grundlage des Beschei-
des vom 15. Oktober 2004 eine Spätaussiedlerbescheinigung nach § 15 Abs. 1
BVFG erhielt.
b) Der zurückgenommene Bescheid war aber rechtswidrig. Die Beurteilung der
Rechtswidrigkeit des statusrechtlichen Bescheides vom 15. Oktober 2004 rich-
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tet sich gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG grundsätzlich nach der zum Zeitpunkt
seines Erlasses maßgeblichen Rechtslage (vgl. BVerwG, Urteil vom 9. Mai
2012 - 6 C 3.11 - BVerwGE 143, 87 Rn. 43 mit Verweis auf den Beschluss vom
7. Juli 2004 - 6 C 24.03 - BVerwGE 121, 226 <229> m.w.N.).
Nach § 15 Abs. 1 Satz 1 BVFG in der im Oktober 2004 bei Erlass des aufgeho-
benen Bescheides geltenden Fassung des Spätaussiedlerstatusgesetzes vom
30. August 2001 (BGBl. I S. 2266) - BVFG 2001 - erhielten Spätaussiedler zum
Nachweis ihrer Spätaussiedlereigenschaft auf Antrag eine Bescheinigung
(Spätaussiedlerbescheinigung). Eine solche Bescheinigung steht nach § 15
Abs. 1 BVFG nur demjenigen zu, der in dem für die Ausstellung der Bescheini-
gung maßgeblichen Zeitpunkt die Spätaussiedlereigenschaft besitzt, d.h. Spät-
aussiedler ist (BVerwG, Urteil vom 12. März 2002 - 5 C 45.01 - BVerwGE 116,
119 Rn. 9).
Wer Spätaussiedler ist, richtet sich grundsätzlich nach der Rechtslage bei Auf-
nahme in das Bundesgebiet (vgl. BVerwG, Urteil vom 12. März 2002 - 5 C
45.01 - BVerwGE 116, 119 <121>). Die Übersiedlung des Klägers nach
Deutschland im Wege des Aufnahmeverfahrens erfolgte im Dezember 1999.
Danach wäre für die Bestimmung der Spätaussiedlereigenschaft die Rechtslage
nach dem Bundesvertriebenengesetz in der Fassung vom 2. Juni 1993 (BGBl. I
S. 829) maßgeblich. Allerdings sind nach der durch Art. 1 Nr. 2 des Gesetzes
vom 30. August 2001 (BGBl. I S. 2266) mit Wirkung zum 7. September 2001
eingeführten Übergangsvorschrift des § 100a BVFG Anträge nach § 15 Abs. 1
BVFG nach dem Recht zu bescheiden, das "nach dem 7. September 2001 gilt".
Der Bescheid nach § 15 Abs. 1 BVFG wurde dem Kläger im Oktober 2004 er-
teilt. Das Berufungsgericht hat den Bescheid daher zutreffend an der im Okto-
ber 2004 geltenden Rechtslage gemessen. Eine Korrektur der gesetzgeberi-
schen Entscheidung ist hier nicht aus Gründen des Vertrauensschutzes gebo-
ten. Denn ein schutzwürdiges Vertrauen auf den Fortbestand der bei Aufent-
haltsnahme (hier: im Dezember 1999) bestehenden Rechtslage und auf das
Fortbestehen eines seinerzeit entstandenen Spätaussiedlerstatus besteht je-
denfalls nicht bei Personen, bei denen die Aufnahme nicht aufgrund der (vorläu-
fig) bejahten deutschen Volkszugehörigkeit erfolgte, sondern die nur als Ab-
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kömmling eines Spätaussiedlers aufgenommen wurden (vgl. BVerwG, Urteil
vom 13. November 2003 - 5 C 14.03 - BVerwGE 119, 188 <190>).
Die Übergangsvorschrift des § 100a BVFG ist hingegen nicht dynamisch in dem
Sinn auszulegen, dass die Spätaussiedlereigenschaft bei Anträgen nach § 15
Abs. 1 BVFG, die vor Inkrafttreten der Gesetzesnovelle von 2001 gestellt wor-
den sind, nach dem jeweils geltenden aktuellen Recht zu bestimmen sei, hier
etwa nach den erleichterten Voraussetzungen in § 6 Abs. 2 BVFG des Zehnten
Gesetzes zur Änderung des Bundesvertriebenengesetzes vom 6. September
2013 (BGBl. I S. 3554). Denn bei dieser Übergangsregelung handelt es
sich - wie sich aus den Gesetzesmaterialien ergibt (BT-Drs.14/6310 S. 6 ff.) -
lediglich um einen (statischen) Verweis auf die zum 7. September 2001 in Kraft
getretene Neufassung des § 6 Abs. 2 BVFG. Durch sie wollte der Gesetzgeber
wieder zu der Rechtslage zurückkehren, die bis zu den Urteilen des Bundes-
verwaltungsgerichts vom 19. Oktober 2000 (- 5 C 44.99 - BVerwGE 112, 112
u.a.) in der Verwaltungspraxis von Bund und Ländern und in der höchstrichterli-
chen Rechtsprechung zur Anwendung kam. Hingegen ergeben sich für die Ge-
setzesnovelle von 2013 keine Anhaltspunkte, dass den durch sie bewirkten Er-
leichterungen für die Bestimmung der Spätaussiedlereigenschaft Rückwirkung
in Altverfahren beigemessen werden sollte.
Maßgeblich für den Erwerb der Spätaussiedlereigenschaft ist folglich § 4 Abs. 1
BVFG in der zum Entscheidungszeitpunkt im Oktober 2004 geltenden Fassung
vom 30. August 2001 (BGBl. I S. 2266) - BVFG 2001 -. Danach ist Spätaussied-
ler in der Regel ein deutscher Volkszugehöriger, der die Republiken der ehema-
ligen Sowjetunion nach dem 31. Dezember 1992 im Wege des Aufnahmever-
fahrens verlassen und innerhalb von sechs Monaten im Geltungsbereich des
Gesetzes seinen ständigen Aufenthalt genommen hat, wenn er zuvor (1.) seit
dem 8. Mai 1945 oder (2.) nach seiner Vertreibung oder der Vertreibung eines
Elternteils seit dem 31. März 1952 oder (3.) seit seiner Geburt, wenn er vor dem
1. Januar 1993 geboren ist und von einer Person abstammt, die die Stichtags-
voraussetzung des 8. Mai 1945 nach Nummer 1 oder des 31. März 1952 nach
Nummer 2 erfüllt, es sei denn, dass Eltern oder Voreltern ihren Wohnsitz erst
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nach dem 31. März 1952 in die Aussiedlungsgebiete verlegt haben, seinen
Wohnsitz in den Aussiedlungsgebieten hatte.
Deutscher Volkszugehöriger ist nach § 6 Abs. 1 BVFG 2001, wer sich in seiner
Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch
bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt
wird. Wer - wie der Kläger - nach dem 31. Dezember 1923 geboren worden ist,
ist nach § 6 Abs. 2 Satz 1 BVFG 2001 deutscher Volkszugehöriger, wenn er
von einem deutschen Staatsangehörigen oder deutschen Volkszugehörigen
abstammt und sich bis zum Verlassen der Aussiedlungsgebiete durch eine ent-
sprechende Nationalitätenerklärung oder auf vergleichbare Weise nur zum
deutschen Volkstum bekannt oder nach dem Recht des Herkunftsstaates zur
deutschen Nationalität gehört hat. Das Bekenntnis zum deutschen Volkstum
oder die rechtliche Zuordnung zur deutschen Nationalität muss bestätigt wer-
den durch die familiäre Vermittlung der deutschen Sprache (Satz 2). Diese ist
nur festgestellt, wenn jemand im Zeitpunkt der Aussiedlung aufgrund dieser
Vermittlung zumindest ein einfaches Gespräch auf Deutsch führen kann
(Satz 3). Ihre Feststellung entfällt, wenn die familiäre Vermittlung wegen der
Verhältnisse in dem jeweiligen Aussiedlungsgebiet nicht möglich oder nicht zu-
mutbar war (Satz 4). Ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum wird unterstellt,
wenn es unterblieben ist, weil es mit Gefahr für Leib und Leben oder schwer-
wiegenden beruflichen oder wirtschaftlichen Nachteilen verbunden war, jedoch
aufgrund der Gesamtumstände der Wille unzweifelhaft ist, der deutschen
Volksgruppe und keiner anderen anzugehören (Satz 5).
Der Kläger stammt aus der ehemaligen Sowjetunion und wurde im Oktober
1998 als Abkömmling in den Aufnahmebescheid seiner Mutter einbezogen.
Damit hat er die Aussiedlungsgebiete im Dezember 1999 im Wege des Auf-
nahmeverfahrens verlassen und im Bundesgebiet Aufenthalt genommen (§ 4
Abs. 1 BVFG 2001). Das Berufungsgericht ist zutreffend zu dem Ergebnis ge-
kommen, dass der Kläger jedoch die weitere Voraussetzung der Spätaussied-
lereigenschaft - die deutsche Volkszugehörigkeit im Sinne von § 6 BVFG
2001 - nicht erfüllt.
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Die Voraussetzungen für die deutsche Volkszugehörigkeit ergeben sich für den
nach dem 31. Dezember 1923 geborenen Kläger aus § 6 Abs. 2 BVFG 2001.
Der Kläger stammt zwar mütterlicherseits von einer deutschen Volkszugehöri-
gen ab. Wegen der russischen Volkszugehörigkeit seines Vaters wurde er nach
dem Recht seines Herkunftsstaates aber nicht ohne sein Zutun der deutschen
Nationalität zugerechnet, wie dies z.B. nach der sowjetischen Passverordnung
von 1974 bei Abkömmlingen der Fall war, bei denen beide Elternteile dem
deutschen Volkstum zugehörten (vgl. BVerwG, Urteil vom 29. August
1995 - 9 C 391.94 - BVerwGE 99, 133 <140>). Folglich hätte er sich bis zum
Verlassen der Aussiedlungsgebiete durch eine entsprechende Nationalitätener-
klärung oder auf vergleichbare Weise (nur) zum deutschen Volkstum bekennen
müssen. Hieran fehlt es nach den Feststellungen des Berufungsgerichts (UA
Rn. 32). Vielmehr ist seine Nationalität in seinem sowjetischen Inlandspass vom
23. Oktober 1979 mit "russisch" angegeben (UA Rn. 2). Diese Nationalität ist
auch in der Geburtsurkunde seines Sohnes T. eingetragen. Wie das Oberver-
waltungsgericht weiter festgestellt hat, erfolgten diese Eintragungen "freiwillig"
(UA Rn. 33), beruhten also auf einer entsprechenden Erklärung des Klägers. Er
selbst hat dies nach den gerichtlichen Feststellungen dahin erläutert, "bei Bean-
tragung des Passes im Jahr 1979 sei die Nationalität für ihn kein Thema gewe-
sen, weil die UdSSR eine große internationale Familie gewesen sei" (UA Rn. 6).
Bei dieser Sachlage konnte das Gericht offenlassen, ob in dem Verhalten des
Klägers bereits ein "Gegenbekenntnis" zu einem fremden Volkstum liegt, wie es
der Rechtsvorgänger des Beklagten und das Verwaltungsgericht angenommen
haben. Denn es fehlt schon an einem (positiven) Bekenntnis nur zum deut-
schen Volkstum, wie es § 6 Abs. 2 BVFG 2001 verlangt. Damit kommt es nicht
darauf an, ob es im Fall des Klägers - wie das Oberverwaltungsgericht festge-
stellt hat (UA Rn. 33) - auch an einer familiären Vermittlung der deutschen
Sprache fehlt.
c) Der Rechtsvorgänger des Beklagten hat die einjährige Rücknahmefrist des
§ 48 Abs. 4 VwVfG bei Erlass seines Bescheides vom 24. März 2006 beachtet,
die erst nach Abschluss des Anhörungsverfahrens im Dezember 2005 zu laufen
begann (vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. Dezember 1984 - Gr.Sen. 1. und
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2.84 - BVerwGE 70, 356 <362 f.>; s.a. Urteil vom 24. Mai 2012 - 5 C
17.11 - BVerwGE 143, 161 <165 f.>).
d) Das Berufungsgericht ist zutreffend zu dem Ergebnis gekommen, dass auch
die Ausübung des Rücknahmeermessens nicht zu beanstanden ist. Nach § 48
Abs. 1 Satz 1 und 3 VwVfG kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch
nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die
Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Für einen Ver-
waltungsakt, der - wie hier - ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil
begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), darf eine Rück-
nahme nach § 48 Abs. 1 Satz 2 VwVfG nur unter den Einschränkungen der Ab-
sätze 2 bis 4 erfolgen.
aa) Das Berufungsgericht hat die Rücknahme des rechtswidrigen Bescheides
über die Spätaussiedlereigenschaft des Klägers mit Recht nur am Maßstab des
§ 48 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 VwVfG gemessen. Soweit das Bundesverwaltungsge-
richt in früheren Entscheidungen einen teilweisen Rückgriff auf § 48 Abs. 2
VwVfG für geboten hielt, hält der inzwischen für das Vertriebenenrecht zustän-
dige 1. Revisionssenat an dieser Rechtsprechung nicht fest.
§ 48 Abs. 2 VwVfG stellt eine Sonderregelung für Verwaltungsakte dar, die eine
einmalige oder laufende Geldleistung oder teilweise Sachleistung gewähren
oder hierfür Voraussetzung sind. § 48 Abs. 3 VwVfG gestaltet den Vertrauens-
schutz bei der Rücknahme aller rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsak-
te aus, deren Aufrechterhaltung weniger fiskalische Interessen berührt, sondern
die stärker staatsbezogen sind und deren Aufrechterhaltung daher schwerer
erträglich ist als in den Fällen des § 48 Abs. 2 VwVfG (BT-Drs. 7/910 S. 71).
Hierzu zählen insbesondere Verwaltungsakte, die eine nichtmonetäre Rechts-
stellung gestalten oder feststellen.
Schon in der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts wur-
de der Bescheid über die Erteilung einer Spätaussiedlerbescheinigung nach
§ 15 Abs. 1 BVFG - wie schon die Erteilung eines Vertriebenenausweises - als
statusfeststellender Verwaltungsakt angesehen, dessen Rücknahme sich
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grundsätzlich nach der Regelung des § 48 Abs. 3 VwVfG richtet (vgl. BVerwG,
Urteil vom 20. März 1990 - 9 C 12.89 - BVerwGE 85, 79 <84> zum früheren
Vertriebenenausweis; ähnlich Urteil vom 24. Mai 2012 - 5 C 17.11 - BVerwGE
143, 161 Rn. 22 zur Spätaussiedlerbescheinigung). Das wurde damit begrün-
det, dass die - rechtswidrige - Feststellung, dass jemand die Spätaussiedlerei-
genschaft (früher: Vertriebeneneigenschaft) besitzt, für sich allein keine fiskali-
schen Interessen berührt, sondern - etwa im Hinblick auf die Staatsangehörig-
keit des Betroffenen - allein hoheitliche staatliche Belange. Soweit lediglich
der - rechtswidrig festgestellte - Status in Rede stand, schied auch nach der
bisherigen Rechtsprechung eine Vertrauensschutzprüfung nach § 48 Abs. 2
VwVfG im Ausweiseinziehungsverfahren aus (vgl. BVerwG, Urteile vom 20.
März 1990 - 9 C 12.89 - BVerwGE 85, 79 <84> und vom 24. Mai 2012 - 5 C
17.11 - BVerwGE 143, 161 <166 ff.>). Allerdings sah das Bundesverwaltungs-
gericht in seiner bisherigen Rechtsprechung die Notwendigkeit, Gesichtspunkte
des Vertrauensschutzes in Bezug auf die einem Vertriebenen zu gewährenden
finanziellen Vergünstigungen schon in die Entscheidung über die Rücknahme
der Statusfeststellung einzubeziehen und den Rücknahmebescheid deshalb
zusätzlich nach § 48 Abs. 2 VwVfG zu beurteilen, wenn und soweit im Einzelfall
feststand, dass der Begünstige aufgrund seines Status als Spätaussiedler (frü-
her: Vertriebener) konkrete Geld- oder Sachleistungen erhalten oder sein Ver-
trauen im Hinblick auf den Erhalt solcher Leistungen sonst in schutzwürdiger
Weise betätigt hat (vgl. BVerwG Urteil vom 24. Mai 2012 - 5 C 17.11 - BVerw-
GE 143, 161 Rn. 22 m.w.N.). Das wurde damit begründet, dass der Statusbe-
scheid Grundlage für die Gewährung bestimmter Geld- oder Sachleistungen ist,
wie z.B. finanzielle Hilfen nach § 9 BVFG, Leistungen bei Krankheit nach § 11
BVFG, Leistungen der Unfall- und Rentenversicherung nach § 13 BVFG und
der Förderung einer selbstständigen Erwerbstätigkeit nach § 14 BVFG (vgl.
BVerwG, Urteil vom 24. Mai 2012 - 5 C 17.11 - BVerwGE 143, 161 Rn. 22) und
die statusrechtliche Entscheidung für alle Behörden und Stellen verbindlich ist,
die für die Gewährung von Rechten und Vergünstigungen nach dem Bundes-
vertriebenengesetz oder einem anderen Gesetz zuständig sind (vgl. BVerwG,
Urteil vom 20. März 1990 - 9 C 12.89 - BVerwGE 85, 79 <85>). Diese Recht-
sprechung hatte zur Folge, dass ein Rücknahmebescheid jedenfalls an § 48
Abs. 3 VwVfG und ggf. hinsichtlich seiner Auswirkungen auf bereits erhaltene
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Geld- oder Sachleistungen oder im Vertrauen auf deren Erhalt getätigte Vermö-
genspositionen an § 48 Abs. 2 VwVfG gemessen wurde, was zu unterschiedli-
chen Ergebnissen führen konnte mit der Folge, dass der der Spätaussiedlerbe-
scheinigung zugrunde liegende Bescheid teilweise nicht zurückgenommen wer-
den durfte (so etwa BVerwG, Urteil vom 20. März 1990 - 9 C 12.89 - BVerwGE
85, 79; ähnlich schon Urteil vom 28. Oktober 1983 - 8 C 91.82 - BVerwGE 68,
159 <164 f.>).
An dieser Rechtsprechung hält der 1. Revisionssenat nicht mehr fest. Vielmehr
ist die Rücknahme einer Statusfeststellung nach § 15 Abs. 1 BVFG ausschließ-
lich nach § 48 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 VwVfG zu beurteilen. Das dient der einheitli-
chen Beurteilung statusrechtlicher Bescheide, die auch in anderen Rechtsge-
bieten ergehen, beispielsweise im Flüchtlingsrecht nach §§ 2, 3 und 5 AsylVfG
oder im Staatsangehörigkeitsrecht die Einbürgerung nach §§ 8 und 10 StAG. In
diesen Rechtsgebieten wird über die Rücknahme des statusrechtlichen Be-
scheides ungeachtet des rechtlichen Schicksals etwaiger daran anknüpfender
Leistungsbescheide entschieden, die auf der Grundlage der Statusbescheide
ergehen und für die die Statusentscheidung verbindlich ist. Auch im Vertriebe-
nenrecht sind derartige Leistungsbescheide - wie in den anderen genannten
Rechtsgebieten - nicht Bestandteil der Statusentscheidung und deshalb sind sie
nicht von Gesetzes wegen Gegenstand der die rechtswidrige Statusentschei-
dung aufhebenden Rücknahmeentscheidung. Ist ein Statusbescheid rechtswid-
rig, sind Gesichtspunkte des Vertrauensschutzes bei der Entscheidung über die
Rücknahme des Statusbescheides - im Anwendungsbereich des § 48 VwVfG -
ausschließlich bei der Ermessensausübung nach § 48 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3
VwVfG zu berücksichtigen.
§ 48 Abs. 2 VwVfG kommt hingegen erst bei nachfolgenden Entscheidungen
über die Rücknahme von auf der Grundlage der Statusentscheidung ergange-
nen Leistungsbescheiden zur Anwendung. Insoweit unterscheiden sich Status-
bescheide hinsichtlich der Verknüpfung mit darauf aufbauenden Folgebeschei-
den etwa von steuerrechtlichen Messbescheiden, deren einziger Zweck der
Erlass eines nachfolgenden Steuererhebungsbescheides ist. Es dient dem Ziel
einer schnellen Entscheidung über die Wiederherstellung der Integrität der
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Rechtsordnung, wenn das Verfahren zur Aufhebung einer rechtswidrigen Statu-
sentscheidung nicht schon mit Feststellungen zum rechtlichen Schicksal darauf
beruhender Leistungsbescheide belastet wird. Das zeigt auch das vorliegende
Verfahren, in dem bei Anwendung des § 48 Abs. 2 VwVfG in Bezug auf die vom
Kläger nach seinem Vorbringen im Dezember 2004 erhaltenen Eingliederungs-
hilfe nach § 9 Abs. 3 BVFG in Höhe von circa 2 000 € schon im Verfahren über
die Rücknahme der Statusbescheinigung geprüft werden müsste, ob der Kläger
die Rechtswidrigkeit des Statusbescheides kannte oder infolge grober Fahrläs-
sigkeit nicht kannte (§ 48 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 VwVfG), obwohl derzeit völlig of-
fen ist, ob die Verwaltung beabsichtigt, diesen Bescheid ebenfalls zurückzu-
nehmen.
Das der Behörde in § 48 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 VwVfG eröffnete Ermessen stellt
insbesondere sicher, dass dem Vertrauensschutz im Hinblick auf die nichtver-
mögensrechtlichen Folgen einer Rücknahme - etwa wegen eines Verlusts der
Staatsangehörigkeit - Rechnung getragen wird. Dieser Auslegung von § 48
VwVfG steht der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Dezember
1981 (- 1 BvR 898/79 u.a. - BVerfGE 59, 128) nicht entgegen. Danach darf die
Prüfung von Gesichtspunkten des Vertrauensschutzes beim Entzug eines Ver-
triebenenausweises (heute: einer Spätaussiedlerbescheinigung) nicht gänzlich
unberücksichtigt und ausschließlich der nachgelagerten Ebene der Rückforde-
rung gewährter Leistungen vorbehalten bleiben (BVerfG, Beschluss vom
16. Dezember 1981 - 1 BvR 898/79 u.a. - BVerfGE 59, 128 <152 ff.>). Denn
ungeachtet der Tatsache, dass die verfassungsgerichtliche Entscheidung zur
mittlerweile aufgehobenen zwingenden Vorschrift des § 18 BVFG a.F. ergangen
ist, wonach Vertriebenenausweise einzuziehen oder für ungültig zu erklären
waren, wenn die Voraussetzungen für ihre Ausstellung nicht vorgelegen hatten,
sind Gesichtspunkte des Vertrauensschutzes auch nach der Rechtsprechung
des Senats bei der Rücknahme des Statusbescheides nach § 48 Abs. 1 i.V.m.
Abs. 3 VwVfG zu berücksichtigen. Dabei stehen allerdings die nichtvermögens-
rechtlichen Folgen der Rücknahme im Vordergrund, ohne dass der schwer-
punktmäßig in Folgeverfahren zu prüfende vermögensrechtliche Vertrauens-
schutz jedoch gänzlich außer Betracht bleibt. Vermögensrechtlicher Vertrau-
ensschutz ist bei der Rücknahmeentscheidung auf der Primärebene insbeson-
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dere dann zu berücksichtigen, wenn das entsprechende Fachrecht auf der Se-
kundärebene keine Vertrauensschutzprüfung vorsieht. Freilich kann bei der Be-
urteilung, welches Gewicht dem vermögensrechtlichen Vertrauensschutz bei
dieser Prüfung beizumessen ist, auch die gesetzgeberische Wertung im Be-
reich des Fachrechts Berücksichtigung finden. Außerdem ist zu berücksichti-
gen, dass ein Vermögensnachteil bei schützenswertem Vertrauen auch nach
§ 48 Abs. 3 VwVfG auszugleichen ist.
bb) Die Rücknahmeentscheidung ist auch nicht - wie der Kläger meint - wegen
Verstoßes gegen Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG ermessensfehlerhaft (vgl. hierzu
BVerwG, Urteil vom 24. Mai 2012 - 5 C 18.11 - BVerwGE 143, 171 Rn. 26), da
sie nicht zum Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit des Klägers führt.
Der Kläger hat die deutsche Staatsangehörigkeit gemäß § 7 Satz 1 Staats-
angehörigkeitsgesetz in der hier maßgeblichen Fassung des Gesetzes zur Än-
derung des Staatsangehörigkeitsrechts vom 15. Juli 1999 (BGBl. I S.
1618) - StAG a.F. - bereits mit der ihm auf der Grundlage des Bescheides vom
5. Mai 2000 ausgestellten Angehörigenbescheinigung gemäß § 15 Abs. 2
BVFG erworben. Die neue Fassung, welche die Vorschrift durch das Gesetz zur
Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union
vom 19. August 2007 - EURLAsylUmsG - (BGBl. I S. 1970) mit Wirkung zum
28. August 2007 erhalten hat, ist hier nicht anwendbar. Nach § 7 Satz 1 StAG
a.F. erwarb ein Deutscher im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG, der nicht die deut-
sche Staatsangehörigkeit besitzt, mit der Ausstellung der Bescheinigung gemäß
§ 15 Abs. 1 oder 2 BVFG die deutsche Staatsangehörigkeit.
Bei Ausstellung der Angehörigenbescheinigung im Mai 2000 erfüllte der Kläger
auch die weiteren Voraussetzungen des § 7 Satz 1 StAG a.F., insbesondere
war er mit seiner Aufnahme Deutscher im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG gewor-
den. Nach dieser Vorschrift ist Deutscher im Sinne des Grundgesetzes vorbe-
haltlich anderweitiger gesetzlicher Regelung, wer die deutsche Staatsangehö-
rigkeit besitzt oder als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörig-
keit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiet des Deutschen
Reichs nach dem Stand vom 31. Dezember 1937 Aufnahme gefunden hat. Un-
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ter welchen Voraussetzungen eine Person "als Vertriebener deutscher Volks-
zugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling" diesen Status er-
wirbt, ist seit Inkrafttreten der durch das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz vom
21. Dezember 1992 - KfbG - (BGBl. I S. 2094) geänderten Fassung des Bun-
desvertriebenengesetzes am 1. Januar 1993 grundsätzlich nach den Bestim-
mungen dieses Gesetzes zu beurteilen. Personen, die - wie der Kläger - als
Abkömmling einer Spätaussiedlerin in Deutschland Aufnahme gefunden haben,
sind mit der Übersiedlung Deutsche im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG gewor-
den. Die einschlägigen Bestimmungen des Bundesvertriebenengesetzes stellen
insoweit die in Art. 116 Abs. 1 GG dem Gesetzgeber vorbehaltene gesetzliche
Regelung für den Erwerb des Deutschen-Status dar (BVerwG, Urteile vom
20. April 2004 - 1 C 3.03 - BVerwGE 120, 292 <295>, vom 19. Juni 2001 - 1 C
26.00 - BVerwGE 114, 332 <334> und vom 24. Mai 2012 - 5 C 18.11 -
BVerwGE 143, 171 Rn. 29).
Als Deutscher im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG hat der Kläger nach § 7 Abs. 1
StAG a.F. die deutsche Staatsangehörigkeit kraft Gesetzes mit der Ausstellung
der Angehörigenbescheinigung im Mai 2000 erworben. Hieran hat die spätere
Ausstellung einer Spätaussiedlerbescheinigung nach § 15 Abs. 1 BVFG nichts
geändert. Insbesondere war die deutsche Staatsangehörigkeit des Klägers nie
eine gesetzliche Folge dieser Bescheinigung. Vielmehr beruht der Staatsange-
hörigkeitserwerb des Klägers auf dem Bescheid vom Mai 2000 und der auf sei-
ner Grundlage ausgestellten Angehörigenbescheinigung. Diese Entscheidung
wurde nach den Feststellungen des Berufungsgerichts mit der späteren Ertei-
lung einer Bescheinigung nach § 15 Abs. 1 BVFG - weder ausdrücklich noch
konkludent - aufgehoben (UA Rn. 49). Insoweit unterscheidet sich der vorlie-
gende Fall von dem der Entscheidung des 5. Senats vom 24. Mai 2012 (- 5 C
18.11 - BVerwGE 143, 171) zugrunde liegenden Sachverhalt, da im dortigen
Verfahren der Erwerb der Staatsangehörigkeit auf dem zurückgenommenen
Bescheid beruhte und mit der auf den Ausstellungstag zurückreichenden Rück-
nahme eine wesentliche Voraussetzung für den Erwerb der deutschen Staats-
angehörigkeit (rückwirkend) beseitigt wurde, was ex post zum Verlust der deut-
schen Staatsangehörigkeit führte. Selbst wenn - entgegen der Rechtsauffas-
sung des Beklagten - unterstellt würde, dass sich die Entscheidung über die
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Ausstellung einer Bescheinigung nach § 15 Abs. 2 BVFG mit der Entscheidung
über eine solche nach § 15 Abs. 1 BVFG "auf andere Weise" erledigte (§ 43
Abs. 2 VwVfG), wofür allerdings nichts spricht, würde dies nichts daran ändern,
dass der Erwerb der Staatsangehörigkeit weiterhin auf der Angehörigenbe-
scheinigung vom Mai 2000 beruht, deren Unwirksamkeit ex nunc keinen Ver-
lustgrund darstellen würde (vgl. § 17 StAG).
cc) Die Ermessensentscheidung weist auch im Übrigen keine Ermessensfehler
im Sinne des § 114 Satz 1 VwGO zu Lasten des Klägers auf. Die Ausgangs-
und die Widerspruchsbehörde haben bei der Abwägung der für und gegen eine
Rücknahme sprechenden öffentlichen und privaten Belange alle nach Lage der
Dinge maßgeblichen Umstände berücksichtigt und fehlerfrei abgewogen. Das
Berufungsgericht ist zutreffend zu dem Ergebnis gekommen, dass der Beklagte
das Interesse des Klägers an der Aufrechterhaltung des statusrechtlichen Be-
scheides nach § 15 Abs. 1 BVFG in ausreichendem Maße berücksichtigt hat
(UA Rn. 50).
3. Die im Widerspruchsverfahren abgeänderte Aufforderung zur Rückgabe der
Spätaussiedlerbescheinigung innerhalb von zwei Wochen nach Bestandskraft
der Rücknahmeentscheidung findet ihre Rechtsgrundlage in § 52 VwVfG i.V.m.
§ 1 Satz 1 SächsVwVfG. Danach kann die Behörde, wenn ein Verwaltungsakt
unanfechtbar zurückgenommen ist, die aufgrund dieses Verwaltungsakts
erteilten Urkunden oder Sachen, die zum Nachweis der Rechte aus dem Ver-
waltungsakt oder zu deren Ausübung bestimmt sind, zurückfordern. Dies kann
unter der aufschiebenden Bedingung des Eintritts der Unanfechtbarkeit auch
schon zusammen mit der Rücknahme verfügt werden. Auch die Zwangsmittel-
androhung bezieht sich nach der Abänderung der Rückgabeverpflichtung
durch die Widerspruchbehörde nur noch auf die Rückgabe der Spätaussiedler-
bescheinigung. Sie findet ihre Rechtsgrundlage in § 20 i.V.m. § 27
SächsVerwVollstrG und ist ebenfalls nicht zu beanstanden.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
Prof. Dr. Berlit
Prof. Dr. Dörig
Prof. Dr. Kraft
Fricke
Ri'inBVerwG Dr. Rudolph
ist wegen Urlaubs verhindert
zu unterschreiben.
Prof. Dr. Berlit
B e s c h l u s s
Der Wert des Streitgegenstands wird für das Revisionsverfahren auf 5 000 €
festgesetzt (§ 47 Abs. 1 i.V.m. § 52 Abs. 2 GKG).
Prof. Dr. Berlit
Prof. Dr. Dörig
Prof. Dr. Kraft
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