Urteil des BVerwG vom 29.06.2015

Widerruf, Afghanistan, Rechtliches Gehör, Gefährdung

BVerwGE: nein
Fachpresse: ja
Sachgebiet:
Asylrecht
Sachgebietsergänzung:
Widerruf des nationalen Abschiebungsschutzes
Rechtsquelle/n:
AsylVfG §§ 73c, 77
AufenthG § 60 Abs. 5, 7 Satz 1 und 2
AuslG 1990 § 53 Abs. 1 Satz 1
Titelzeile:
umfassende gerichtliche Rechtmäßigkeitsprüfung beim Widerruf
des nationalen Abschiebungsschutzes
Stichworte:
Abschiebungsschutz; Widerruf; Überprüfung, umfassende.
Leitsatz:
Das Verwaltungsgericht hat im Anfechtungsprozess gegen den Widerruf der
Feststellung von Abschiebungsschutz nach nationalem Recht (§ 73c Abs. 2
AsylVfG) den Widerrufsbescheid umfassend auf seine Rechtmäßigkeit zu prüfen;
in diese Prüfung hat es auch vom Kläger nicht geltend gemachte
Anfechtungsgründe und von der Behörde nicht angeführte Widerrufsgründe
einzubeziehen (Fortführung von BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 - 10 C
17.12 - BVerwGE 146, 31 Prüfungsumfang bei Widerruf der Asyl- und
Flüchtlingsanerkennung).
Urteil des 1. Senats vom 29. Juni 2015 - BVerwG 1 C 2.15
I. VG Minden vom 22. Juni 2009
Az: VG 9 K 1329/08.A
II. OVG Münster vom 26. August 2014
Az: OVG 13 A 1828/09.A
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 1 C 2.15
OVG 13 A 1828/09.A
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 29. Juni 2015
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig und Prof. Dr. Kraft
und die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Fricke und Dr. Rudolph
ohne mündliche Verhandlung für Recht erkannt:
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Ober-
verwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen
vom 26. August 2014 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Ent-
scheidung zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung
vorbehalten.
G r ü n d e:
I
Der Kläger wendet sich gegen den Widerruf des ihm gewährten Abschiebungs-
schutzes.
Der 1972 in Kabul/Afghanistan geborene Kläger ist afghanischer Staatsangehö-
riger, tadschikischer Volks- und schiitischer Religionszugehörigkeit. Nach Ab-
schluss seiner Schulausbildung war er sechs Jahre in Mazar-e-Sharif als Lehrer
tätig. Er reiste im Herbst 1998 auf dem Luftweg in das Bundesgebiet ein und
beantragte seine Anerkennung als Asylberechtigter. Er gab an, als Jugendlicher
in der kommunistisch geprägten Demokratischen Volkspartei Afghanistans
(DVPA) aktiv gewesen zu sein, was die Taliban zum Anlass genommen hätten,
seinen Bruder vor den Augen seiner Eltern zu töten. Das Bundesamt für Migra-
tion und Flüchtlinge (Bundesamt) stellte unter Ablehnung des Antrages im Übri-
gen mit Bescheid vom 1. Februar 1999 fest, dass hinsichtlich Afghanistan ein
Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG vorliegt, weil der Kläger
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sowohl wegen seiner Religionszugehörigkeit zu den Schiiten als auch der Tä-
tigkeit für die früheren Machthaber gefährdet ist.
Das Bundesamt hörte den Kläger im Januar 2007 zu seiner Absicht an, den
gewährten Abschiebungsschutz gemäß § 73 AsylVfG zu widerrufen, weil dem
Kläger aufgrund der veränderten Situation in Afghanistan zumindest im Raum
Kabul keine erhebliche oder gar extreme Gefahr für Leib oder Leben drohe. Es
widerrief mit Bescheid vom 3. April 2008 die mit Bescheid vom 1. Februar 1999
getroffene Feststellung eines Abschiebungshindernisses. Zur Begründung führ-
te es im Kern aus, dass die zur Feststellung eines Abschiebungshindernisses
wegen der durch die damalige allgemeine Situation bestehenden Gefährdung
im Sinne des § 53 Abs. 6 AuslG gegebene Lage nicht mehr bestehe. Der Klä-
ger habe auch keine Ausführungen dazu gemacht, dass ihm bei seiner Rück-
kehr nach Afghanistan eine Gefährdung im Sinne des § 53 Abs. 1 bis 4 AuslG
bzw. eine erhebliche konkrete Gefährdung im Sinne des § 53 Abs. 6 AuslG
drohen könnte; im Raum Kabul bestehe auch keine extreme Gefahrenlage, die
bei verfassungskonformer Auslegung des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG zur Fest-
stellung eines Abschiebungsverbots nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG führen wür-
de.
Mit seiner Klage machte der Kläger geltend, ihm drohe weiterhin aufgrund sei-
ner früheren Mitgliedschaft in der Demokratischen Volkspartei Afghanistans
(DVPA) durch die Taliban Verfolgung. Das Verwaltungsgericht hat unter Abwei-
sung der auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 2
AufenthG gerichteten Klage die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des
Widerrufsbescheides verpflichtet festzustellen, dass in Bezug auf den Zielstaat
Afghanistan ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegt.
Bei einer Rückkehr sei der Kläger mit Blick auf seinen langjährigen Aufenthalt
im westlichen Ausland und den damit einhergehenden Verlust sozialer und fa-
miliärer Netzwerke einer extremen Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt, da er
voraussichtlich nicht in der Lage wäre, sich im alltäglichen Existenzkampf zu
behaupten.
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Mit der hiergegen gerichteten Berufung machte die Beklagte geltend, dass für
Rückkehrer in Afghanistan auch dann keine extreme Gefahrenlage bestehe,
wenn die Aufnahme in einen funktionierenden Familienverband nicht gewähr-
leistet sei; im Zuge des Berufungsverfahrens machte sie weiterhin geltend, dass
der Kläger zum Zeitpunkt des Widerrufs des Abschiebungsschutzes weder mit
Blick auf seine kommunistische Vergangenheit noch auf seine tadschikische
Volkszugehörigkeit mit Verfolgung rechnen müsse.
Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen.
Zur Begründung hat es im Kern ausgeführt: Der Widerrufsbescheid vom 3. April
2008 sei rechtswidrig und verletze den Kläger in seinen Rechten, weil die Be-
klagte bei Widerruf des dem Kläger mit Bescheid vom 1. Februar 1999 zugebil-
ligten Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG nicht auf eine
Änderung der ursprünglichen Anerkennungsvoraussetzungen, sondern der all-
gemeinen Gefahrenlage abgestellt habe. Nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG sei
auf die im Zeitpunkt der Berufungsentscheidung geltende Sach- und Rechtsla-
ge und damit auf § 73c Abs. 2 AsylVfG abzustellen. Der formell nicht zu bean-
standende Widerruf sei in dem noch zu prüfenden Umfang materiell rechtswid-
rig, weil § 73c Abs. 2 AsylVfG die Feststellung erfordere, dass sich die Sachla-
ge so verändert habe, dass die Voraussetzungen für das festgestellte Abschie-
bungshindernis entfallen seien und keine anderen nationalen Abschiebungs-
verbote vorliegen; es müsse sich also durch neue Tatsachen eine andere
Grundlage für die Gefahrenprognose bei dem jeweiligen Abschiebungsverbot
ergeben. Eine nachträglich lediglich geänderte Beurteilung der Gefahrenlage
rechtfertige den Widerruf nicht. Dem Kläger sei mit Bescheid vom 1. Februar
1999 unabhängig von der allgemeinen Versorgungs- und Sicherheitslage in
Afghanistan Abschiebungsschutz mit Blick auf seine schiitische Religionszuge-
hörigkeit und seine Tätigkeit für die früheren Machthaber und damit aufgrund
von seiner Person innewohnenden gefahrerhöhenden Umständen gewährt
worden. Der Widerrufsbescheid stelle indes allein auf eine Veränderung der
allgemeinen Situation in Afghanistan ab, die auch als ursächlich für die Zuer-
kennung von Abschiebungsschutz gesehen werde. Als Folge dieser irrtümli-
chen Annahme enthalte der Widerrufsbescheid keinen auf die ursprünglichen
Anerkennungsvoraussetzungen bezogenen Vergleich zwischen den damaligen
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und den aktuellen Verhältnissen. Es fehle daher an dem für den Widerruf nach
§ 73c Abs. 2 AsylVfG erforderlichen und von der Beklagten zu erbringenden
Nachweis, dass sich die Sachlage mit Blick auf die ursprünglich angenommene
Gefährdung des Klägers wegen seiner schiitischen Religionszugehörigkeit und
seiner Tätigkeit für die früheren Machthaber so verändert habe, dass die Vo-
raussetzungen für das festgestellte Abschiebungshindernis entfallen seien. An
der aus diesem Begründungsmangel folgenden Rechtswidrigkeit des Wider-
rufsbescheides ändere das auf die individuelle Gefährdungsprognose bezogene
Vorbringen der Beklagten im Berufungsverfahren nichts, weil hierin ein unzu-
lässiges Nachschieben von Gründen liege. Ein Nachschieben von Gründen sei
bei gebundenen Verwaltungsakten wie dem Widerruf zwar grundsätzlich zuläs-
sig. Die nachträglich vorgebrachten Gründe müssten indes schon bei Erlass
des streitigen Verwaltungsakts vorgelegen haben, dürften diesen nicht in sei-
nem Wesen verändern und den Betroffenen nicht in seiner Rechtsverteidigung
beeinträchtigen. Diese Grenzen seien hier überschritten, weil der Verwaltungs-
akt trotz gleichbleibenden Tenors auf einen anderen Sachverhalt gestützt wer-
de. Das Gericht sei auch nicht verpflichtet, die Sache spruchreif zu machen,
weil die Heranziehung anderer als in dem angefochtenen Bescheid genannter
Normen und Tatsachen dem Gericht dann verwehrt sei, wenn dies - wie hier -
zu einer Wesensveränderung des angefochtenen Bescheides führte.
Zur Begründung ihrer durch den Senat zugelassenen Revision macht die Be-
klagte geltend, das Berufungsgericht habe den Regelungsbereich von § 73c
AsylVfG i.V.m. § 77 AsylVfG fehlerhaft bestimmt und so von einer umfassenden
Prüfung aller Widerrufsgründe abgesehen; zudem habe es unter Verstoß gegen
§ 86 Abs. 1 VwGO das Fehlen von Widerrufsgründen festgestellt.
Der Kläger verteidigt unter Bezugnahme auf sein bisheriges Vorbringen das
Berufungsurteil.
Der Vertreter des Bundesinteresses bei dem Bundesverwaltungsgericht hat
sich nicht geäußert.
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II
Die zulässige Revision, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten
ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann (§ 101 Abs. 2 VwGO i.V.m.
§ 141 Satz 1 und § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO), ist begründet. Die Rechtsauffas-
sung des Berufungsgerichts, es seien für die Rechtmäßigkeit des Widerrufs der
Feststellung von Abschiebungshindernissen mögliche Änderungen der dem
Kläger individuell drohenden Gefahren nicht zu prüfen, weil die Beklagte den
Widerrufsbescheid allein auf eine allgemeine Veränderung der Verfolgungslage
gestützt habe und die Berücksichtigung einer veränderten individuellen Gefähr-
dungsprognose zu einer Wesensveränderung des angegriffenen Bescheides
führe, ist mit § 73 c Abs. 2 AsylVfG unvereinbar und verletzt damit Bundesrecht
(§ 137 Abs. 1 VwGO). Das Berufungsgericht hat hinreichende tatsächliche
Feststellungen zu der Frage, ob die von der Beklagten im Berufungsverfahren
geltend gemachten Veränderungen der individuellen Gefährdungsprognose
einen Widerruf der Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder 7
AufenthG tragen, nicht getroffen, so dass der Senat die Frage, ob sich die Beru-
fungsentscheidung aus anderen Gründen als richtig erweist (§ 144 Abs. 4
VwGO), nicht abschließend beantworten kann und der Rechtsstreit zur ander-
weitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen ist (§ 144 Abs. 3
Satz 1 Nr. 2 VwGO).
1. Für die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Widerrufsbescheides ist auf die
Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor
dem Tatsachengericht abzustellen. Das Berufungsgericht hat daher seiner Prü-
fung der Rechtmäßigkeit des hier ausgesprochenen Widerrufs eines Abschie-
bungsverbotes im rechtlichen Ansatz zutreffend § 73c AsylVfG (eingefügt durch
das Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU vom 28. August 2013,
BGBl. I S. 3474) zu Grunde gelegt und zutreffend ausgeführt, dass insoweit
eine Änderung des Streitgegenstandes nicht eingetreten ist. In dieser Fassung
hat auch der Senat das Gesetz zu Grunde zu legen; das Gesetz zur Einstufung
weiterer Staaten als sichere Herkunftsstaaten und zur Erleichterung des Ar-
beitsmarktzugangs für Asylbewerber und geduldete Ausländer (vom 31. Okto-
ber 2014, BGBl. I S. 1649) und das Gesetz zur Verbesserung der Rechtsstel-
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lung von asylsuchenden und geduldeten Ausländern (vom 23. Dezember 2014,
BGBl. I S. 2439) haben keine sachliche Änderung der entscheidungserhebli-
chen Normen bewirkt.
2. Ohne Verstoß gegen revisibles Recht hat das Berufungsgericht allerdings
entschieden, dass der Widerruf des nach § 53 Abs. 1 Satz 1 AuslG 1990 aus-
gesprochenen Abschiebungshindernisses nicht bereits in formeller Hinsicht zu
beanstanden ist. Insbesondere findet die Ausschlussfrist des § 49 Abs. 2 Satz 1
i.V.m. § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG auf den Widerruf der Asylberechtigung oder
der Flüchtlingseigenschaft keine Anwendung (BVerwG, Urteil vom 5. Juni 2012
- 10 C 4.11 - BVerwGE 143, 183 Rn. 17); dies gilt gleichermaßen auch für den
Widerruf von Abschiebungsverboten nach § 73c Abs. 2 AsylVfG. Auch diese
Entscheidung knüpft allein an den Wegfall der Voraussetzungen eines zuvor
festgestellten Abschiebungshindernisses und damit an die objektive Sach- und
Rechtslage an.
3. Das Berufungsgericht hat zu Unrecht entschieden, dass es an dem für den
Widerruf nach § 73c Abs. 2 AsylVfG erforderlichen und von der Beklagten zu
erbringenden Nachweis fehle, dass sich die Sachlage mit Blick auf die ur-
sprünglich angenommene Gefährdung des Klägers wegen seiner schiitischen
Religionszugehörigkeit und seiner Tätigkeit für die früheren Machthaber so ver-
ändert habe, dass die Voraussetzungen für das festgestellte Abschiebungshin-
dernis entfallen seien, und hierbei dem entsprechenden Vorbringen der Beklag-
ten im Berufungsverfahren nicht näher nachzugehen sei, weil hierin ein unzu-
lässiges Nachschieben von Gründen liege.
3.1 Gegenstand auch des Berufungsverfahrens war vorrangig die Rechtmäßig-
keit des Widerrufsbescheides der Beklagten vom 3. April 2008 und in diesem
Zusammenhang die Frage, ob die Voraussetzungen für die Gewährung natio-
nalen Abschiebungsschutzes (§ 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 oder 2 AufenthG), der
insoweit einen einheitlichen, nicht weiter teilbaren Schutz mit mehreren An-
spruchsgrundlagen bietet (BVerwG, Urteil vom 29. September 2011 - 10 C
23.10 - Buchholz 402.242 § 60 Abs. 2 ff. AufenthG Nr. 45), nicht mehr vorlie-
gen. Für den Widerruf der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung (§ 73 Abs. 1
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Satz 1 AsylVfG) ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ent-
schieden, dass der Widerrufsbescheid umfassend auf seine Rechtmäßigkeit zu
prüfen ist und das Gericht auch vom Kläger nicht geltend gemachte Anfech-
tungsgründe sowie von der Behörde nicht angeführte Widerrufsgründe einzu-
beziehen hat (BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 - 10 C 17.12 - BVerwGE
146, 31 Rn. 9). Denn die Aufhebung eines solchen, nicht im Ermessen der Be-
hörde stehenden, Verwaltungsaktes setzt nach § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO un-
ter anderem seine objektive Rechtswidrigkeit voraus; daran fehlt es auch dann,
wenn er aus einem im Bescheid oder im Verfahren nicht angesprochenen
Grund rechtmäßig ist. Liegt der im Widerrufsbescheid allein angeführte Wider-
rufsgrund nicht vor, so ist eine Klage erst dann begründet, wenn der Bescheid
auch unter anderen rechtlichen Gesichtspunkten nicht haltbar ist und er den
Adressaten in seinen Rechten verletzt, insbesondere also wenn auch andere in
Betracht kommende Widerrufsgründe ausscheiden. Dies entspricht der im Asyl-
verfahren geltenden Konzentrations-und Beschleunigungsmaxime, nach der
alle in einem Asylprozess typischerweise relevanten Fragen in einem Prozess
abschließend geklärt werden sollen (s.a. BVerwG, Urteil vom 8. September
2011 - 10 C 14.10 - BVerwGE 140, 319 Rn. 10; Beschluss vom 10. Oktober
2011 - 10 B 24.11 - juris Rn. 4).
3.2 Diese Grundsätze gelten gleichermaßen auch für den Widerruf der Feststel-
lung von Abschiebungsverboten nach § 73c Abs. 2 AsylVfG. Nach § 73c Abs. 2
AsylVfG ist eine solche Feststellung zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen
nicht mehr vorliegen. Ein Ermessen ist dem Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge insoweit nicht eingeräumt. Es handelt sich um eine rechtlich gebun-
dene Entscheidung. Dies erkennt im rechtlichen Ansatz auch das Berufungsge-
richt. Die von ihm angenommene Beschränkung für ein "Nachschieben von
Gründen", das auch bei gebundenen Verwaltungsakt grundsätzlich zulässig sei,
auf solche nachträglich vorgebrachten Gründe, die schon bei Erlass des streiti-
gen Verwaltungsakts vorgelegen hätten, und auf Fälle, in denen die nachge-
schobenen Gründe den Verwaltungsakt nicht in seinem Wesen veränderten
und der Betroffene auch nicht in seiner Rechtsverteidigung beeinträchtigt wer-
de, greift jedenfalls nicht für den Widerruf von Schutzentscheidungen nach dem
Asylverfahrensgesetz. Aus der ausdrücklichen gesetzlichen Regelung, dass in
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Streitigkeiten nach diesem Gesetz das Gericht stets auf dieser Sach- und
Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung abzustellen hat
(§ 77 Abs. 1 AsylVfG), ergibt sich, dass nicht nur solche Tatsachen einen Wi-
derrufsbescheid als rechtmäßig tragen können, die schon bei dessen Erlass
vorgelegen haben, sondern gerade auch weitere Tatsachen zu berücksichtigen
sind. Dies gilt gleichermaßen für die Verpflichtungs- wie für die Anfechtungskla-
ge. Damit ist grundsätzlich auch das Auswechseln des einem Bescheid zu
Grunde liegenden Sachverhaltes jedenfalls dann möglich, wenn - wie hier - die
Entscheidungsformel unverändert bleibt (zur Umdeutung des Widerrufs einer
Asylanerkennung in eine Rücknahme bei Täuschung über die Staatsangehörig-
keit s.a. BVerwG, Beschluss vom 29. April 2013 - 10 B 40.12 - InfAuslR 2013,
314). Dadurch wird die Rechtsverteidigung des Betroffenen nicht beeinträchtigt.
Denn dem Betroffenen ist zur Vermeidung einer Überraschungsentscheidung
rechtliches Gehör zu solchen Tatsachen zu gewähren, die nicht schon in dem
angefochtenen Bescheid zur Stützung des Widerrufs herangezogen worden
sind und mit deren Verwertung der Betroffene nicht zu rechnen hatte. Das auch
aus der im Asylverfahren geltenden Konzentrations- und Beschleunigungsma-
xime folgende Gebot einer umfassenden Prüfung eines Widerrufsbescheides
auf seine Rechtmäßigkeit erfasst daher nicht nur die Berücksichtigung unter-
schiedlicher Widerrufstatbestände, sondern innerhalb des Widerrufstatbestan-
des nach § 73c Abs. 2 AsylVfG auch die Frage, ob die Voraussetzungen für die
Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG
nicht mehr vorliegen, weil sich die schutzbegründenden Umstände erheblich
und dauerhaft verändert haben. Eine Beschränkung der gerichtlichen Überprü-
fung auf die im Widerrufsbescheid benannten oder diesen zumindest wesens-
gleichen Gründe, wie sie das Berufungsgericht vorgenommen hat, ist hiermit
unvereinbar.
3.3 Das Berufungsgericht hat mithin die Frage, ob der angegriffene Widerrufs-
bescheid deswegen auf § 73c Abs. 2 AsylVfG gestützt werden kann, weil sich in
Bezug auf die ursprünglich angenommene Gefährdung des Klägers wegen sei-
ner schiitischen Religionszugehörigkeit, seiner Tätigkeit für die früheren Macht-
haber sowie seiner "kommunistischen Vergangenheit" (objektiv) solche Verän-
derungen ergeben haben, dass die Voraussetzungen für das festgestellte Ab-
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schiebungshindernis entfallen sind, nicht im Einklang mit revisiblen Recht be-
antwortet. Von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig hat das Berufungsge-
richt insoweit auch davon abgesehen, durch weitere Sachverhaltsaufklärung
(§ 86 Abs. 1 VwGO) die Sache spruchreif zu machen und insoweit die zur Prü-
fung der Frage, ob ein Wegfall der Verfolgungslage gegeben ist, erforderlichen
Tatsachenfeststellungen zu treffen. Deshalb kann der Senat die Frage, ob die
Berufungsentscheidung aus anderen Gründen richtig ist (§ 144 Abs. 4 VwGO)
nicht beantworten und auch nicht zu Lasten des Klägers in der Sache selbst
entscheiden. Vielmehr ist die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverwei-
sen, um diesem die Gelegenheit zu geben, die für § 73 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG
maßgeblichen Tatsachen aufzuklären.
4. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Prof. Dr. Berlit
Prof. Dr. Dörig
Prof. Dr. Kraft
Fricke
Dr. Rudolph
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