Urteil des BVerwG vom 27.06.2013

BVerwG: aktenwidrige feststellung, genehmigungsverfahren, ausnahme, befreiung, meinung, übereinstimmung, beurteilungsspielraum, wissenschaft, überprüfung, windenergieanlage

BVerwG 4 C 1.12
Rechtsquellen:
BlmSchG § 6 Abs. 1 Nr. 2
BauGB § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5
BNatSchG § 44 Abs. 1 Nr. 1
Stichworte:
Windenergieanlage; Außenbereich; immissionsschutzrechtliche Genehmigung;
Bauvorbescheid; bauplanrechtliche Zulässigkeit; Belange des Naturschutzes;
Tatbestandwirkung; Auslegung; Rechtsirrtum; (keine) Bindung im Revisionsverfahren;
artenschutzrechtliches Tötungs- und Verletzungsverbot; naturschutzfachliche
Einschätzungsprärogative; Sachkunde; ehrenamtliche Mitarbeiter.
Leitsatz:
Ist über die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit eines privilegierten Außenbereichsvorhabens zu
entscheiden, hat die zuständige Behörde gemäß § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 BauGB auch die
naturschutzrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens zu prüfen. Artenschutzrechtliche Verbote
stellen sich zugleich als ein nach § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 BauGB beachtlicher Belang des
Naturschutzes dar.
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 4 C 1.12
VG Magdeburg - 22.06.2009 - AZ: VG 1 A 20/08 MD
OVG des Landes Sachsen-Anhalt - 19.01.2012 - AZ: OVG 2 L 124/09
In der Verwaltungsstreitsache hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 27. Juni 2013
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Rubel,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Gatz,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Bumke und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Petz und Dr. Decker
für Recht erkannt:
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts des Landes
Sachsen-Anhalt vom 19. Januar 2012 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Revisionsverfahrens einschließlich der
außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu 2. Die außergerichtlichen Kosten der
Beigeladenen zu 1 sind nicht erstattungsfähig.
Gründe
I
1 Die Klägerin begehrt die Erteilung einer immissionsschutzrechtlichen Genehmigung für zwei
Windenergieanlagen im Außenbereich. Sie verfügt über einen positiven Bauvorbescheid, der ihr
auf ihre Klage hin erteilt worden war. Ihren Antrag auf Erteilung einer
immissionsschutzrechtlichen Genehmigung lehnte der Beklagte aus Gründen des
Naturschutzrechts ab. Die hiergegen erhobene Klage der Klägerin blieb in erster Instanz
erfolglos. Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Das
Vorhaben sei aus naturschutzrechtlichen Gründen nicht genehmigungsfähig. Die
naturschutzrechtlichen Fragen seien im Vorbescheid nicht mit Bindungswirkung zugunsten der
Klägerin entschieden worden. Aufgrund der Feststellung der planungsrechtlichen Zulässigkeit
könne dem Vorhaben zwar nicht mehr entgegengehalten werden, ihm stünden Belange des
Naturschutzes im Sinne von § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 BauGB entgegen. Das bedeute aber nicht,
dass im immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahren die Vereinbarkeit des Vorhabens
mit naturschutzrechtlichen Vorschriften nicht mehr zu prüfen wäre. Nach der Rechtsprechung
des Bundesverwaltungsgerichts hätten die bauplanungsrechtlichen und die
naturschutzrechtlichen Zulassungsvoraussetzungen für Vorhaben im Außenbereich einen
jeweils eigenständigen Charakter und seien unabhängig voneinander zu prüfen. Der Betrieb der
Windenergieanlagen verstoße in Bezug auf die Vogelart „Rotmilan“ gegen das
artenschutzrechtliche Tötungs- und Verletzungsverbot. Dem Beklagten komme insoweit ein
naturschutzfachlicher Beurteilungsspielraum zu. Die Einschätzung, dass der Rotmilan durch das
Vorhaben einem signifikant erhöhten Tötungsrisiko ausgesetzt sei, sei naturschutzfachlich
vertretbar.
2 Hiergegen wendet sich die Klägerin mit der vom Oberverwaltungsgericht zugelassenen
Revision.
II
3 Die Revision der Klägerin ist unbegründet. Das Berufungsurteil steht zwar nicht in jeder
Hinsicht in Einklang mit Bundesrecht. Es erweist sich aber im Ergebnis als richtig (§ 144 Abs. 4
VwGO). Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die begehrte immissionsschutzrechtliche
Genehmigung. Es liegt ein Versagungsgrund i.S.d. § 6 Abs. 1 Nr. 2 BImSchG vor. Dem
Vorhaben stehen Belange des Naturschutzes i.S.d. § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 BauGB entgegen,
denn es verstößt gegen das artenschutzrechtliche Tötungs- und Verletzungsverbot gemäß § 44
Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG. Über die artenschutzrechtliche Zulässigkeit ist nicht bereits aufgrund des
bestandskräftigen Bauvorbescheids mit Bindungswirkung zugunsten der Klägerin entschieden
worden. Bei der danach im Genehmigungsverfahren gebotenen artenschutzrechtlichen Prüfung
verfügt die Behörde über eine naturschutzfachliche Einschätzungsprärogative.
4 1. Die Auffassung des Oberverwaltungsgerichts, für eine naturschutzrechtliche Prüfung der
artenschutzrechtlichen Verbote sei trotz der verbindlich festgestellten bauplanungsrechtlichen
Zulässigkeit des Vorhabens, bei der auch das Entgegenstehen von Belangen des Naturschutzes
i.S.d. § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 BauGB geprüft worden sei, noch Raum, steht nicht in Einklang mit
Bundesrecht.
5 Ist über die Frage, ob einem privilegierten Außenbereichsvorhaben Belange des
Naturschutzes i.S.d. § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 BauGB entgegenstehen, bereits im Rahmen eines
bauplanungsrechtlichen Bauvorbescheids abschließend entschieden worden, steht einer
erneuten - naturschutzrechtlichen - Entscheidung über das Entgegenstehen
artenschutzrechtlicher Verbote die Tatbestandswirkung des Bauvorbescheids entgegen. Das
Oberverwaltungsgericht hat zwar zutreffend erkannt, dass artenschutzrechtliche Verbote
zwingendes Recht darstellen, von dem nur abgewichen werden darf, wenn die Voraussetzungen
für eine Ausnahme (§ 45 Abs. 7 BNatSchG) oder Befreiung (§ 67 BNatSchG) vorliegen. Die
Annahme, aus diesem Grund sei zwischen planungsrechtlicher und naturschutzrechtlicher
Zulässigkeit eines Vorhabens zu trennen, beruht aber auf einer Verkennung des § 35 Abs. 3
Satz 1 Nr. 5 BauGB. Auf das Urteil des Senats vom 13. Dezember 2001 - BVerwG 4 C 3.01 -
(Buchholz 406.11 § 35 BauGB Nr. 350) kann sich das Oberverwaltungsgericht nicht stützen. Die
Entscheidung des Senats ist auf die Besonderheiten der naturschutzrechtlichen Abwägung im
Rahmen der sog. Eingriffsregelung zugeschnitten und betrifft zudem die nicht mehr geltende
rahmenrechtliche Rechtslage (§ 8a Abs. 2 Satz 2 BNatSchG a.F.). Einen allgemeinen
Rechtssatz des Inhalts, dass die bauplanungsrechtlichen und die naturschutzrechtlichen
Zulässigkeitsvoraussetzungen generell unabhängig voneinander zu prüfen sind, hat der Senat
nicht aufgestellt.
6 Artenschutzrechtliche Verbote i.S.d. § 44 BNatSchG sind nach dem Prüfprogramm des § 6
Abs. 1 Nr. 2 BImSchG „zugleich“ Belange des Naturschutzes i.S.d. § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5
BauGB, die einem privilegierten Außenbereichsvorhaben bauplanungsrechtlich nicht
entgegenstehen dürfen. Das Naturschutzrecht konkretisiert die öffentlichen Belange i.S.d. § 35
Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 BauGB. Ist über die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit eines Vorhabens
nach § 35 Abs. 1 BauGB zu entscheiden, hat die zuständige Behörde daher auch die
naturschutzrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens zu prüfen (Urteil vom 20. Mai 2010 - BVerwG
4 C 7.09 - BVerwGE 137, 74 Rn. 35). Können artenschutzrechtliche Verbote naturschutzrechtlich
nicht überwunden werden, stehen sie einem gemäß § 35 Abs. 1 BauGB privilegierten Vorhaben
als öffentliche Belange i.S.d. § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 BauGB zwingend entgegen. Das Vorhaben
ist dann bauplanungsrechtlich unzulässig. Es decken sich also die bauplanungsrechtlichen
Anforderungen des § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 BauGB, soweit sie „naturschutzbezogen“ sind, mit
den Anforderungen des Naturschutzrechts. Artenschutzrechtliche Verbote, von denen weder
eine Ausnahme noch eine Befreiung erteilt werden kann, stehen einem
immissionsschutzrechtlich genehmigungsbedürftigen Außenbereichsvorhaben deshalb stets
zwingend entgegen, und zwar sowohl als verbindliche Vorschriften des Naturschutzrechts als
auch als Belange des Naturschutzes i.S.d. § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 BauGB. Für eine
„nachvollziehende“ Abwägung (zum Begriff z.B. Urteil vom 19. Juli 2001 - BVerwG 4 C 4.00 -
BVerwGE 115, 17 <24 f.>) ist kein Raum. Voraussetzung der nachvollziehenden Abwägung ist,
dass die Entscheidung Wertungen zugänglich ist, die gewichtet und abgewogen werden
können. Das ist bei zwingenden gesetzlichen Verboten nicht der Fall.
7 2. Die Berufungsentscheidung stellt sich aber aus anderen Gründen als richtig dar (§ 144 Abs.
4 VwGO). Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die begehrte immissionsschutzrechtliche
Genehmigung. Im Ergebnis zu Recht ist das Oberverwaltungsgericht davon ausgegangen, dass
der Beklagte im Genehmigungsverfahren die Vereinbarkeit des Vorhabens mit dem
Artenschutzrecht prüfen durfte. Zwar verfügt die Klägerin über einen positiven Bauvorbescheid,
der in dem Umfang, in dem er dem Vorhaben die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit
bescheinigt, Tatbestandswirkung entfaltet. Der positive Bauvorbescheid, der der Klägerin auf
ihre Klage hin erteilt worden ist, enthält jedoch keine Aussage zur Vereinbarkeit des Vorhabens
mit dem Artenschutzrecht.
8 An die Auslegung des Oberverwaltungsgerichts, der Bauvorbescheid stelle die
planungsrechtliche Zulässigkeit des klägerischen Vorhabens „insgesamt“ fest, ist der Senat
entgegen § 137 Abs. 2 VwGO nicht gebunden. Im Revisionsverfahren ist eine vom
Tatsachengericht vorgenommene Auslegung einer materiellrechtlich erheblichen Erklärung zwar
nur in beschränktem Umfang einer Nachprüfung zugänglich (Urteil vom 4. April 2012 - BVerwG 4
C 8.09 u.a. - BVerwGE 142, 234 Rn. 46). Lässt die Auslegung einen Rechtsirrtum oder einen
Verstoß gegen allgemeine Erfahrungssätze, Denkgesetze oder Auslegungsregeln erkennen, tritt
eine Bindung aber nicht ein (Urteil vom 5. November 2009 - BVerwG 4 C 3.09 - BVerwGE 135,
209 Rn. 18). So liegt der Fall hier. Die Auslegung des Oberverwaltungsgerichts, dass mit dem
positiven Bauvorbescheid über die planungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens „insgesamt“
entschieden worden sei, wird von der bundesrechtswidrigen Auffassung getragen,
artenschutzrechtliche Verbote seien nicht nur im Rahmen der planungsrechtlichen Prüfung als
öffentliche Belange i.S.d. § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 BauGB einzustellen, sondern unabhängig
davon Gegenstand einer eigenständigen naturschutzfachlichen Zulässigkeitsprüfung. Inmitten
steht damit nicht lediglich die Feststellung des konkreten Inhalts einer behördlichen Erklärung
durch das Tatsachengericht, die für das Revisionsgericht grundsätzlich bindend ist. Das
Oberverwaltungsgericht hat sich durch den unzutreffenden bundesrechtlichen Maßstab vielmehr
bei der Auslegung den Blick verstellt. Das Auslegungsergebnis des Tatsachengerichts ist
deshalb für das Revisionsgericht nicht bindend.
9 Danach ist der Senat selbst zur Auslegung des Bauvorbescheids berechtigt. Die Auslegung
ergibt, dass der Bauvorbescheid keine Aussage zur artenschutzrechtlichen Zulässigkeit des
Vorhabens gemäß § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 BauGB enthält. Bereits der Umstand, dass im
Vorbescheidsverfahren ausweislich der Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts
artenschutzrechtliche Fragen noch gar nicht geprüft worden sind, weil die zuständige Behörde
den Vorbescheidsantrag wegen - aus ihrer Sicht - entgegenstehender anderer Belange als
denen des Naturschutzes abgelehnt hat (UA S. 14), legt es nahe, dass die Behörde nicht über
die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens insgesamt, sondern nur über bestimmte
(einzelne) Fragen entschieden hat. Der Bescheid enthält zudem die Einschränkung, dass er „für
die im Antrag formulierten Fragestellungen“ erteilt werde. Das deckt sich wiederum mit dem
Tenor des verwaltungsgerichtlichen Urteils vom 3. Juli 2005, mit dem die Behörde verpflichtet
wurde, der Klägerin einen Bauvorbescheid „gemäß ihrem Antrag“ zu erteilen. Dieser Umstand
macht ebenfalls deutlich, dass mit dem Bauvorbescheid lediglich über die zum damaligen
Zeitpunkt strittigen bauplanungsrechtlichen Fragen entschieden worden ist. Ferner hat das
Verwaltungsgericht zur Begründung der Annahme, dass dem Vorhaben weitere öffentliche
Belange im Sinne von § 35 Abs. 3 Satz 1 nicht entgegenstünden, zu § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5
BauGB lediglich ausgeführt, dass der Landschaftsschutz nicht in nennenswerter Weise
beeinträchtigt werde. Dementsprechend hat die damals zuständige Behörde den Vorbescheid
ausdrücklich mit „Auflagen“ verbunden, die naturschutzrechtliche Vorgaben enthalten. Die
Auflagen entsprechen im Übrigen den „Hinweisen“, die bereits im ersten, ursprünglich
ablehnenden Bescheid enthalten waren, der Gegenstand der erfolgreichen Verpflichtungsklage
war. Bei der Entscheidung über den Vorbescheidsantrag lagen auch keine prüffähigen
Unterlagen zu artenschutzrechtlichen Fragen vor. Gegenteiliges behauptet auch die Klägerin
nicht. Sie greift zwar die Feststellung des Oberverwaltungsgerichts, Artenschutz sei im
Vorbescheidsverfahren nicht geprüft worden, mit der Verfahrensrüge als aktenwidrige
Feststellung an. Der Vortrag, das Protokoll der Ämterberatung am 4. April 2001 nach Anlage K1
belege, dass naturschutzrechtliche Fragen aus Anlass des Vorbescheids behandelt worden
seien, genügt jedoch hierfür nicht. Aus der Teilnahme eines Vertreters der Naturschutzbehörde
an einer Ämterbesprechung im Rahmen des Vorbescheidsverfahrens lässt sich nicht ableiten,
dass die naturschutzrechtlichen Fragen auch abschließend geprüft worden sind.
10 3. Da mit dem positiven Bauvorbescheid nicht über die Vereinbarkeit des Vorhabens mit dem
Naturschutzrecht entschieden worden ist, musste der Beklagte im immissionsschutzrechtlichen
Genehmigungsverfahren prüfen, ob der Genehmigung als Versagungsgrund i.S.d. § 6 Abs. 1 Nr.
2 BImSchG das artenschutzrechtliche Tötungs- und Störungsverbot gemäß § 44 Abs. 1 Nr. 1
BNatSchG entgegensteht.
11 3.1 In Übereinstimmung mit Bundesrecht geht das Oberverwaltungsgericht davon aus, dass
der Tatbestand des artenschutzrechtlichen Tötungs- und Verletzungsverbots gemäß § 44 Abs. 1
Nr. 1 BNatSchG nur dann erfüllt ist, wenn sich durch das Vorhaben das Kollisionsrisiko für die
geschützten Tiere signifikant erhöht (Urteil vom 12. März 2008 - BVerwG 9 A 3.06 - BVerwGE
130, 299 Rn. 219). Das ist hier der Fall. Das Oberverwaltungsgericht hat ausführlich dargelegt,
dass aus den ausgewerteten Erkenntnismitteln - naturschutzfachlich vertretbar - abgeleitet
werden könne, dass für den Rotmilan von einem signifikant erhöhten Tötungsrisiko durch den
Betrieb von Windenergieanlagen grundsätzlich dann ausgegangen werden könne, wenn der
Abstand der Windenergieanlage weniger als 1 000 m betrage (UA S. 22). Soweit die Klägerin
auf die für Rotmilane untypische Größe eines Horstes verweist, ist die Feststellung des
Oberverwaltungsgerichts zugrunde zu legen, dass die Beobachtungen der Klägerin keine
taugliche Grundlage böten, um das Vorkommen des Rotmilans in diesem Gebiet zuverlässig
erfassen zu können. Unter diesen Umständen hätte die Klägerin einen förmlichen Beweisantrag
stellen müssen; eine Beweisanregung genügt nicht. Die Rüge zur fehlenden Ermittlung von
Maßnahmen zur Minderung des Kollisionsrisikos scheitert schon daran, dass die Klägerin nicht
aufzeigt, welche Maßnahmen das Oberverwaltungsgericht hätte in Betracht ziehen müssen.
12 Die weitere Verfahrensrüge der Klägerin, das Oberverwaltungsgericht habe in unzulässiger
Weise Behauptungen eines „Hobbyornithologen“ zugrunde gelegt und nicht beachtet, dass es
zwingend einer unabhängigen fachlichen Überprüfung bedurft habe, ist unbegründet. Nach den
Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts sind die Erfassungen aus der Brutsaison 2011, mit
denen der Beklagte das Vorkommen des Rotmilans in der näheren Umgebung der
vorgesehenen Windenergieanlagenstandorte untermauert hat, von einem ehrenamtlichen
Mitarbeiter durchgeführt worden, der seit 1986 für das Museum für Vogelkunde in Halberstadt
(Heineanum) und - seinen Angaben zufolge - seit 1977 für die Arbeitsgemeinschaft Ornithologie
der Stadt Quedlinburg tätig ist. Dass sich der Beklagte bei der Erfassung und Kartierung des
artenrechtlichen Bestands der Vogelart „Rotmilan“ auf Angaben eines solchen ehrenamtlich
tätigen Mitarbeiters gestützt hat, ist nicht zu beanstanden. Das Oberverwaltungsgericht, das den
ehrenamtlichen Mitarbeiter in der mündlichen Verhandlung gehört hat, musste den Vortrag der
Klägerin nicht zum Anlass für weitere Maßnahmen der Sachverhaltsaufklärung nehmen. Das
Tatsachengericht darf grundsätzlich nach seinem tatrichterlichen Ermessen entscheiden, ob es
zusätzliche Sachverständigengutachten einholt (stRspr; vgl. Beschluss vom 13. März 1992 -
BVerwG 4 B 39.92 - NVwZ 1993, 268). Ein Verfahrensmangel liegt nur dann vor, wenn sich die
Einholung eines weiteren Gutachtens wegen fehlender Eignung der vorliegenden Gutachten
hätte aufdrängen müssen. Gutachten und fachliche Stellungnahmen sind nur dann ungeeignet,
wenn sie grobe, offen erkennbare Mängel oder unlösbare Widersprüche aufweisen, wenn sie
von unzutreffenden sachlichen Voraussetzungen ausgehen oder Anlass zu Zweifeln an der
Sachkunde oder der Unparteilichkeit des Gutachters besteht. Diese Maßstäbe hat das
Oberverwaltungsgericht beachtet. Von einer Missachtung wissenschaftlicher Mindeststandards
kann keine Rede sein. Die Aufgabe der naturschutzfachlichen Erfassung und Kartierung von
Arten kann auch von ehrenamtlichen Mitarbeitern geleistet werden, sofern sie sich als
sachkundig erweisen. Bestandserfassungen bedürfen nicht zwingend der Heranziehung eines
als Sachverständigen ausgebildeten und anerkannten Gutachters. Auch eine langjährige
Befassung im Rahmen ehrenamtlicher naturschutzfachlicher Tätigkeit kann die notwendige
Sachkunde vermitteln, um Beobachtungen vor Ort vornehmen und über den Befund berichten zu
können. Das zeigt auch die Praxis der Naturschutzverbände und -vereinigungen, die regelmäßig
mit ehrenamtlichen Mitarbeitern zusammenarbeiten und die mit ihrem Sachverstand in ähnlicher
Weise wie Naturschutzbehörden die Belange des Naturschutzes und der Landschaftspflege in
das Verfahren einbringen und als Verwaltungshelfer angesehen werden (vgl. nur Urteile vom 12.
Dezember 1996 - BVerwG 4 C 19.95 - BVerwGE 102, 358 <361> und vom 14. Juli 2011 -
BVerwG 9 A 12.10 - BVerwGE 140, 149 Rn. 19). Die Klägerin zeigt auch nicht auf, dass im
konkreten Fall Anlass bestand, an der durch jahrzehntelange Befassung geschulten Sachkunde
des ehrenamtlichen Mitarbeiters zu zweifeln. Einer solchen Darlegung hätte es auch deshalb
bedurft, weil das Oberverwaltungsgericht den Mitarbeiter in der mündlichen Verhandlung gehört
und sich damit einen Eindruck von seiner fachlichen Versiertheit bei der Vogelbeobachtung
verschafft hat.
13 Weitere als Verfahrensrügen erhobene Einwände der Klägerin zielen darauf, den vom
Oberverwaltungsgericht für die Beurteilung der Frage, ob ein signifikant erhöhtes Tötungsrisiko
besteht, für maßgeblich gehaltenen Abstand der Windenergieanlagen durch andere Faktoren zu
ersetzen. Auch diese Einwände bleiben ohne Erfolg.
14 3.2 In Übereinstimmung mit Bundesrecht hat das Oberverwaltungsgericht dem Beklagten bei
der Prüfung, ob der artenschutzrechtliche Tötungs- und Verletzungstatbestand erfüllt ist, einen
naturschutzfachlichen Beurteilungsspielraum eingeräumt. Die in der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts entwickelten Grundsätze zur naturschutzfachlichen
Einschätzungsprärogative der Planfeststellungsbehörde im Planfeststellungsverfahren (vgl.
Urteile vom 9. Juli 2008 - BVerwG 9 A 14.07 - BVerwGE 131, 274 Rn. 65, 91, vom 12. August
2009 - BVerwG 9 A 64.07 - BVerwGE 134, 308 Rn. 38, vom 14. April 2010 - BVerwG 9 A 5.08 -
BVerwGE 136, 291 Rn. 113 und vom 14. Juli 2011 a.a.O. Rn. 99) gelten auch in
Genehmigungsverfahren. Dabei bezieht sich die behördliche Einschätzungsprärogative sowohl
auf die Erfassung des Bestands der geschützten Arten als auch auf die Bewertung der Gefahren,
denen die Exemplare der geschützten Arten bei Realisierung des zur Genehmigung stehenden
Vorhabens ausgesetzt sein würden.
15 Grund für die Zuerkennung einer naturschutzfachlichen Einschätzungsprärogative ist der
Umstand, dass es im Bereich des Naturschutzes regelmäßig um ökologische Bewertungen und
Einschätzungen geht, für die normkonkretisierende Maßstäbe fehlen. Die Rechtsanwendung ist
daher auf die Erkenntnisse der ökologischen Wissenschaft und Praxis angewiesen, die sich
aber nicht als eindeutiger Erkenntnisgeber erweist. Bei zahlreichen Fragestellungen steht -
jeweils vertretbar - naturschutzfachliche Einschätzung gegen naturschutzfachliche
Einschätzung, ohne dass sich eine gesicherte Erkenntnislage und anerkannte Standards
herauskristallisiert hätten. Sind verschiedene Methoden wissenschaftlich vertretbar, bleibt die
Wahl der Methode der Behörde überlassen. Eine naturschutzfachliche Meinung ist einer
anderen Einschätzung nicht bereits deshalb überlegen oder ihr vorzugswürdig, weil sie
umfangreichere oder aufwändigere Ermittlungen oder „strengere“ Anforderungen für richtig hält.
Das ist erst dann der Fall, wenn sich diese Auffassung als allgemein anerkannter Stand der
Wissenschaft durchgesetzt hat und die gegenteilige Meinung als nicht (mehr) vertretbar
angesehen wird (Urteil vom 9. Juli 2008 a.a.O. Rn. 66). Die naturschutzfachlichen
Einschätzungsprärogative folgt nicht aus einer bestimmten Verfahrensart oder
Entscheidungsform, sondern aus der Erkenntnis, dass das Artenschutzrecht außerrechtliche
Fragestellungen aufwirft, zu denen es jedenfalls nach dem derzeitigen Erkenntnisstand keine
eindeutigen Antworten gibt.
16 Die Überprüfung behördlicher Einschätzungsprärogativen ist wirksamer gerichtlicher
Rechtsschutz, nämlich bezogen auf die Einhaltung der rechtlichen Grenzen des behördlichen
Einschätzungsspielraums, und genügt damit den verfassungsrechtlichen Erfordernissen (Urteil
vom 9. Juli 2008 a.a.O. Rn. 67). Die Einräumung einer naturschutzfachlichen
Einschätzungsprärogative führt zwar zu einer Rücknahme gerichtlicher Kontrolldichte. Das
Gericht bleibt aber verpflichtet zu prüfen, ob im Gesamtergebnis die artenschutzrechtlichen
Untersuchungen sowohl in ihrem methodischen Vorgehen als auch in ihrer Ermittlungstiefe
ausreichten, um die Behörde in die Lage zu versetzen, die Voraussetzungen der
artenschutzrechtlichen Verbotstatbestände sachgerecht zu überprüfen.
17 3.3 Fehler bei der Anwendung der artenschutzrechtlichen Maßstäbe sind nicht zu erkennen.
Insbesondere ist es bundesrechtlich nicht zu beanstanden, dass das Oberverwaltungsgericht
dem Beklagten mit der Begründung, es lägen keine gesicherten Erkenntnisse darüber vor, dass
Rotmilane (verhaltensbedingt) im Straßenverkehr in vergleichbarer Zahl getötet würden wie
durch Windenergieanlagen (UA S. 25), bestätigt, dass er sich bei der Bewertung der Gefahren im
Rahmen seiner Einschätzungsprärogative bewegt. Die Auffassung des Oberverwaltungsgerichts
greift die Klägerin zwar an, erhebt aber lediglich allgemein gehaltene Einwände und zeigt nicht
auf, dass die Quelle, auf die sich das Oberverwaltungsgericht zur Begründung gestützt und die
Erhebungen über einen Zeitraum von 1991 bis 2006 zur Grundlage hat, methodischen
Bedenken ausgesetzt sein könnte.
18 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 und § 162 Abs. 3 VwGO. Es entspricht der
Billigkeit, dem Kläger nur die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu 2 aufzuerlegen,
weil nur diese Anträge gestellt hat und damit ein Kostenrisiko eingegangen ist (vgl. § 154 Abs. 3
VwGO).
Prof. Dr. Rubel
Dr. Gatz
Dr. Bumke
Petz
Dr. Decker