Urteil des BVerwG vom 23.05.2013

BVerwG: student, aufenthalt, ausnahme, überzeugung, schüler, eigenschaft, eugh, schulbesuch, mindestdauer, tschechien

BVerwG 3 B 60.12
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 3 B 60.12
VG Berlin - 20.10.2010 - AZ: VG 11 K 473.09
OVG Berlin-Brandenburg - 16.05.2012 - AZ: OVG 1 B 65.11
In der Verwaltungsstreitsache hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 23. Mai 2013
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Kley und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Liebler und Buchheister
beschlossen:
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil
des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 16. Mai 2012 wird
zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 5 000 €
festgesetzt.
Gründe
1 Der Kläger wendet sich gegen einen Bescheid des Beklagten, mit dem ihm das Recht
aberkannt wurde, von seiner tschechischen Fahrerlaubnis der Klasse B im Inland Gebrauch zu
machen. Der am 24. August 2006 ausgestellte tschechische Führerschein weist einen Wohnsitz
des Klägers in Deutschland aus. Das Verwaltungsgericht hat der Klage stattgegeben, weil es an
vom Ausstellerstaat herrührenden unbestreitbaren Informationen für einen Verstoß gegen das
Wohnsitzerfordernis fehle. Auf die Berufung des Beklagten hat das Oberverwaltungsgericht die
Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Ergebe sich - wie hier -
aus dem Führerscheindokument, dass sein Inhaber bei dessen Ausstellung keinen ordentlichen
Wohnsitz im Ausstellerstaat gehabt habe, dürfe der Wohnsitz- oder Aufnahmemitgliedstaat
überprüfen, ob die Behauptung des Betroffenen zutreffe, sich zur maßgeblichen Zeit für
mindestens sechs Monate im Ausstellerstaat als Student oder Schüler aufgehalten zu haben.
Die Berechtigung aus dem EU-Führerschein dürfe dem Inhaber jedoch - nicht anders als sonst -
nur abgesprochen werden, wenn sich aus unbestreitbaren Informationen des Ausstellerstaates
ergebe, dass der Betroffene sich auf diese Ausnahme vom Wohnsitzprinzip nicht berufen könne.
Diese Voraussetzung sei hier erfüllt, weil die unbestreitbaren Informationen aus dem
Ausstellerstaat, nämlich die Stellungnahme des Bezirksamts Ústi und die Mitteilung der
Ausländerpolizei über Aufenthaltszeiten, dahin zu würdigen seien, dass ein Aufenthalt des
Klägers als Student über die erforderliche Mindestdauer von sechs Monaten in der
Tschechischen Republik nicht erfüllt gewesen sei und die Vorlage der Bescheinigung über
einen Englisch-Sprachkurs allein nicht ausgereicht habe, um dort die Erfüllung der
Aufenthaltsvoraussetzungen nach Unionsrecht nachzuweisen. Tatsächlich lägen damit schon
die aufenthaltsrechtlichen Voraussetzungen der Ausnahme nach § 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Halbs.
2 der Fahrerlaubnisverordnung alter Fassung - FeV a.F. -, die sich mit der
Mindesterteilungsvoraussetzung in Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 91/439/EWG deckten,
nicht vor.
2 Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil bleibt
ohne Erfolg. Die Rechtssache hat weder die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung im
Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, noch rechtfertigt die geltend gemachte Abweichung von der
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs die Zulassung der Revision nach § 132 Abs. 2
Nr. 2 VwGO. Schließlich sind auch die gerügten Verfahrensmängel im Sinne des § 132 Abs. 2
Nr. 3 VwGO nicht erkennbar.
3 1. Der Kläger hält für grundsätzlich klärungsbedürftig,
„welche inhaltlichen Mindestanforderungen an ein Studium oder an einen Schulbesuch erfüllt
sein müssen, um Student oder Schüler im Sinne des § 7 Abs. 2 FeV zu sein, bzw. um als
Student im Sinne des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 91/439/EWG oder Art. 7 Abs. 1 lit. e der
Richtlinie 2006/126/EG zu gelten.“
4 Die Frage führt schon deswegen nicht zum Erfolg des Rechtsbehelfs, weil sie in einem
Revisionsverfahren nicht zu beantworten wäre. Maßgeblich für die Abweisung der Klage durch
das Oberverwaltungsgericht war nicht, dass die vom Kläger geltend gemachte Ausbildung nicht
die inhaltlichen Mindestanforderungen der genannten Vorschriften an ein Studium oder
Schulbesuch erfüllte, sondern dass es die Stellungnahme des Bezirksamts Ústi und die Meldung
der Ausländerpolizei über Aufenthaltszeiten des Klägers dahin gewürdigt hat, dass ein
Studiumaufenthalt über die erforderliche Mindestdauer von sechs Monaten in der Tschechischen
Republik nicht erfüllt war.
5 Auch die in diesem Zusammenhang formulierte Frage, ob die vorgelegte
Studienbescheinigung ausreichend sei, um eine Ausnahme vom Anerkennungsgrundsatz des §
28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Halbs. 2 FeV a.F. anzunehmen, führt nicht weiter. Abgesehen davon, dass
es insoweit um die Beurteilung von Tatsachen in einem Einzelfall geht, verkennt der Kläger
wiederum, dass das Oberverwaltungsgericht nicht die vorgelegte Studienbescheinigung als
solche, sondern die genannten Informationen des Ausstellerstaates gewürdigt hat.
6 2. Ebenso wenig kommt eine Zulassung der Revision wegen der gerügten Abweichung von
der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in Betracht. Dabei kann dahingestellt
bleiben, ob Entscheidungen jenes Gerichts überhaupt divergenzfähig im Sinne des § 132 Abs. 2
Nr. 2 VwGO sind (dagegen die bisherige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts:
Beschlüsse vom 23. Januar 2001 - BVerwG 6 B 35.00 - juris Rn. 10 f. und vom 17. Juli 2008 -
BVerwG 9 B 15.08 - NVwZ 2008, 1115; a.A.: Kopp/Schenke, VwGO, 18. Auflage 2012, § 132 Rn.
14); denn die vermeintliche Divergenz, bei deren Vorliegen jedenfalls eine Zulassung wegen
grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache angezeigt wäre, ist nicht erkennbar.
7 Der Kläger sieht die Abweichung darin, dass der Europäische Gerichtshof in der Sache
Grasser (EuGH, Urteil vom 19. Mai 2011 - Rs. C-184/10 - Slg. 2011 I-4057) als Ausnahme vom
Wohnsitzerfordernis den Nachweis der Eigenschaft als Student während eines
Mindestzeitraums von sechs Monaten im Hoheitsgebiet des ausstellenden Mitgliedstaates
anerkannt habe, während das Oberverwaltungsgericht einen dauerhaften Aufenthalt für diese
Zeit fordere. Damit verkenne das Oberverwaltungsgericht, dass es allein darauf ankomme, ob
der Fahrerlaubnisinhaber während seines Aufenthalts in dem Ausstellermitgliedstaat
„korporationsrechtlich Mitglied“ einer Hochschule oder Schule gewesen sei.
8 Der vom Kläger behauptete Widerspruch zwischen den Ausführungen des Europäischen
Gerichtshofs und des Berufungsgerichts ist nicht feststellbar.
9 Der Europäische Gerichtshof hat sich in dem vom Kläger herangezogenen Urteil vom 19. Mai
2011 darauf beschränkt, den Wortlaut des Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 91/439/EWG
wiederzugeben, ohne auf die Notwendigkeit eines Aufenthalts des Studenten im
Ausstellermitgliedstaat einzugehen (EuGH, Urteil vom 19. Mai 2011 a.a.O. Rn. 26 und 29). Er
hatte keine Veranlassung zu dieser Frage Stellung zu nehmen, weil es auf ihre Beantwortung
nicht ankam; denn Frau Grasser war weder Studentin noch hatte sie Entsprechendes geltend
gemacht. Schon deswegen fehlt es an dem vom Kläger behaupteten Widerspruch tragender
Rechtssätze zu der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts. Aber auch unabhängig davon
bedarf die Beantwortung der Frage nicht der Zulassung der Revision; denn die in der Richtlinie
geforderte Eigenschaft als Student während eines Mindestzeitraums von sechs Monaten im
Hoheitsgebiet des ausstellenden Mitgliedstaats setzt - wie auch in § 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2
Halbs. 2 FeV a.F. geregelt - selbstverständlich und ohne dass es ausdrücklicher Erwähnung
bedurfte einen mit dem Studium oder dem Schulbesuch verbundenen Aufenthalt im
Ausstellermitgliedstaat voraus. Ansonsten bestünde keinerlei innere Rechtfertigung für die
Erteilung der Fahrerlaubnis durch den wohnsitzfremden Mitgliedstaat; denn auf das Erfordernis
eines ordentlichen Wohnsitzes im Ausstellermitgliedstaat wird bei Studenten im Hinblick darauf
verzichtet, dass der Besuch einer Universität oder Schule nach Art. 9 Abs. 2 Satz 3 der Richtlinie
keine Verlegung des ordentlichen Wohnsitzes zur Folge hat, Studenten aber dennoch die
Möglichkeit gegeben werden soll, die Fahrerlaubnis an ihrem ausbildungsbedingten
Aufenthaltsort zu erwerben. Dies ist offenkundig und lässt sich dem Sinn und Zweck der
Richtlinienbestimmungen zweifelsfrei entnehmen, so dass die Einholung einer
Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs nach Art. 267 AEUV in einem
Revisionsverfahren nicht erforderlich wäre (EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982 - Rs. C-283/81,
Cilfit - Slg. 1982 I-3415 Rn. 12 ff.); demzufolge ist auch keine Zulassung der Revision nach § 132
Abs. 2 Nr. 1 VwGO geboten.
10 Soweit der Kläger in diesem Zusammenhang sinngemäß rügt, dass das
Oberverwaltungsgericht ihm entgegen dem vom Europäischen Gerichtshof hervorgehobenen
Anerkennungsgrundsatz die Beweislast dafür aufgebürdet habe, dass ihm wegen seines
Studiums oder Schulbesuchs der Führerschein in Abweichung vom Wohnsitzprinzip habe
ausgestellt werden dürfen, geht sein Vorbringen daran vorbei, dass das Oberverwaltungsgericht
keine Beweislastentscheidung getroffen, sondern anhand der von ihm herangezogenen
Informationen aus Tschechien die Überzeugung gewonnen hat, dass die Voraussetzungen für
die Erteilung einer Fahrerlaubnis an einen Studenten im Sinne von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der
Richtlinie 91/439/EWG nicht vorlagen.
11 3. Auch die geltend gemachten Verfahrensmängel sind nicht erkennbar.
12 Ausgehend davon, dass für das Oberverwaltungsgericht nicht die Eigenschaft als Schüler
oder Student allein, sondern auch der damit verbundene Aufenthalt im Ausstellermitgliedstaat
maßgeblich war und das Gericht aufgrund der Informationen des Ausstellermitgliedstaates die
Überzeugung gewonnen hatte, dass es an diesem Aufenthalt mangelte, kam es nicht mehr
darauf an, ob und in welcher Zeit und mit welchem Studienziel der Kläger als Student
eingeschrieben war. Seine auf die Ermittlung dieser Umstände gerichtete Verfahrensrüge ist
daher unbegründet; denn der Umfang der Sachaufklärungspflicht nach § 86 Abs. 1 VwGO
bestimmt sich nach der dem Urteil zugrundeliegenden materiell-rechtlichen Auffassung des
Gerichts.
13 Auch die weiteren Einwände, die der Kläger im Zusammenhang mit den herangezogenen
oder heranzuziehenden Erkenntnissen aus Tschechien erhebt, können nicht zum Erfolg der
Beschwerde führen. Insoweit wendet er sich überwiegend in der Art einer Berufungsbegründung
gegen die den Tatsacheninstanzen vorbehaltene Bewertung dieser Informationen, ohne einen
Verfahrensmangel zu bezeichnen, der die Zulassung der Revision rechtfertigen könnte. Soweit
er sich auch an dieser Stelle auf einen Aufklärungsmangel beruft, weil das
Oberverwaltungsgericht nicht beachtet habe, dass ein „vollumfänglicher Beweis“ für das
Nichtvorliegen der Voraussetzungen für die Erteilung des Führerscheins erforderlich sei, geht
sein Vorbringen erneut daran vorbei, dass das Gericht eine entsprechende Überzeugung
gewonnen und keine Beweislastentscheidung getroffen hat.
14 Die abschließende Rüge des Klägers, die Stellungnahme des Stadtamts Lovosice belege,
dass die Erteilungsvoraussetzungen für den Führerschein vorgelegen hätten, betrifft ebenfalls
die den Tatsachengerichten vorbehaltene Feststellung und Würdigung des Sachverhalts; einen
Verfahrensmangel im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zeigt der Kläger auch hier nicht auf.
15 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO; die Streitwertfestsetzung beruht auf §
47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 i.V.m. § 52 Abs. 2 GKG.
Kley
Liebler
Buchheister