Urteil des BVerwG vom 29.01.2013

BVerwG: bebauungsplan, genehmigungsverfahren, gebäude, kritik, ermessen, verfahrensmangel, grundstück, kunst, gebärdensprache, belichtung

BVerwG 4 BN 18.12
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 4 BN 18.12
OVG Berlin-Brandenburg - 22.09.2011 - AZ: OVG 2 A 8.11
In der Normenkontrollsache hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 29. Januar 2013
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Rubel
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Gatz und Dr. Decker
beschlossen:
Die Beschwerden des Antragsgegners und der Beigeladenen gegen die
Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-
Brandenburg vom 22. September 2011 werden zurückgewiesen.
Der Antragsgegner und die Beigeladene tragen die Kosten des
Beschwerdeverfahrens zu je 1/2. Ihre eigenen außergerichtlichen Kosten tragen sie
jeweils selbst.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 30 000 €
festgesetzt.
Gründe
1 Die Beschwerden haben keinen Erfolg. Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht in
einer den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO genügenden Weise dargelegt oder
liegen jedenfalls nicht vor.
2 1. Das Oberverwaltungsgericht hat in der angefochtenen Entscheidung den Bebauungsplan I-
15b des Antragsgegners wegen verschiedener Mängel im Abwägungsvorgang und eines zu
einem fehlerhaften Abwägungsergebnis führenden Mangels insgesamt für unwirksam erklärt.
Ausweislich der Entscheidungsgründe soll dabei jeder aufgezeigte Mangel selbstständig zur
Gesamtunwirksamkeit des Bebauungsplans führen. Ist die vorinstanzliche Entscheidung auf
mehrere selbstständig tragende Begründungen gestützt, so kann die Revision nur zugelassen
werden, wenn hinsichtlich jeder dieser Begründungen ein Revisionszulassungsgrund dargelegt
wird und vorliegt (stRspr; vgl. nur Beschlüsse vom 9. Dezember 1994 - BVerwG 11 PKH 28.94 -
Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 1 VwGO Nr. 4 und vom 8. August 1973 - BVerwG 4 B 13.73 -
Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 115). Denn ist nur bezüglich einer Begründung ein
Zulassungsgrund gegeben, dann kann diese Begründung hinweggedacht werden, ohne dass
sich der Ausgang des Verfahrens ändert (Beschluss vom 9. September 2009 - BVerwG 4 BN
4.09 - ZfBR 2010, 67 ). Angesichts des auf mehrere, selbstständig tragende
Begründungsstränge gestützten Urteils setzt der Erfolg der vorliegenden Beschwerden mithin
voraus, dass jeder dieser Begründungsteile für sich die Zulassung der Revision rechtfertigt. Das
ist nicht der Fall. Jedenfalls in Bezug auf die Annahme des Oberverwaltungsgerichts, der
verfahrensgegenständliche Bebauungsplan leide an einem Ermittlungs- und Bewertungsdefizit
in Bezug auf die Wahrung gesunder Wohn- und Arbeitsverhältnisse wegen der Nichteinhaltung
der bauordnungsrechtlichen Abstandsflächenregelungen an der Grenze zu dem
Nachbargrundstück V-straße ... (Seite 37, 38 des Urteilsabdrucks) und sei deshalb
abwägungsfehlerhaft, sind Zulassungsgründe nicht gegeben.
3 a) Die Revision ist insofern nicht nach § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO zuzulassen. Die
Beschwerdeführer legen nicht dar, dass das angefochtene Urteil von Entscheidungen des
Bundesverwaltungsgerichts abweicht.
4 Zur Darlegung des Zulassungsgrundes der Divergenz ist gemäß § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO
erforderlich, dass die Beschwerde einen inhaltlich bestimmten, die angefochtene Entscheidung
tragenden abstrakten Rechtssatz benennt, mit dem die Vorinstanz einem in der Rechtsprechung
des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des
Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts tragenden Rechtssatz in Anwendung derselben
Rechtsvorschrift widersprochen hat (Beschlüsse vom 19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 -
Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 26 und vom 13. Juli 1999 - BVerwG 8 B 166.99 - Buchholz
310 § 132 Abs. 2 Ziff. 2 VwGO Nr. 9). Diesen Anforderungen genügt das Beschwerdevorbringen
nicht.
5 (1) Soweit die Beigeladene eine Divergenz zum Beschluss des Senats vom 26. Juni 1992 -
BVerwG 4 B 11.92 - (Buchholz 407.4 § 17 FStrG Nr. 89) behauptet, benennt sie schon keinen
abstrakten Rechtssatz, mit welchem das Oberverwaltungsgericht von der vorgenannten
Entscheidung abgewichen sein soll. Zudem hat das Oberverwaltungsgericht auf den Seiten 14
bis 15 des Urteilsabdrucks die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu den
Anforderungen, die gemäß § 2 Abs. 3, § 1 Abs. 7 BauGB an den Abwägungsvorgang zu stellen
sind, (zutreffend) referiert (so schon Urteil vom 12. Dezember 1969 - BVerwG 4 C 105.66 -
BVerwGE 34, 301 <309>, das von dem Beschluss vom 26. Juni 1992 a.a.O. unter juris Rn. 23
ausdrücklich in Bezug genommen wird). Es konkretisiert zudem auf Seite 29 des Urteilsabdrucks
diese Grundsätze in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts
in Bezug auf die Anforderungen an die Ermittlung abwägungserheblicher Belange dahingehend,
dass zum notwendigen Abwägungsmaterial nur solche Betroffenheiten gehören, die mehr als
geringfügig, in ihrem Eintritt hinreichend wahrscheinlich und für den Plangeber bei der
Entscheidung über den Bebauungsplan als abwägungsbeachtlich erkennbar sind. Mögliche
Interessen bzw. Betroffenheiten, die von dem Betroffenen im Zuge der Öffentlichkeitsbeteiligung
nicht vorgetragen worden sind, sind nur dann abwägungsbeachtlich, wenn sie sich der
planenden Gemeinde aufdrängen mussten (vgl. Beschluss vom 9. November 1979 - BVerwG 4
N 1.78 u.a. - BVerwGE 59, 87 <102 ff.>). Unter Anwendung dieser Grundsätze kommt das
Oberverwaltungsgericht zu dem Ergebnis, für den Plangeber habe Anlass zur Prüfung und
Bewertung der Auswirkungen der intendierten Planung auf das Anwesen V-straße ... bestanden
und zwar über die bloße Bestandsnutzung hinaus auch im Hinblick auf eine nach Westen
ausgerichtete Wohn- oder Arbeitsstättennutzung. Der daran geübten Kritik der Beigeladenen ist
entgegenzuhalten, dass eine Divergenz im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO nicht vorliegt,
wenn die Vorinstanz einen Rechtssatz des Bundesverwaltungsgerichts im Einzelfall
rechtsfehlerhaft anwendet oder daraus nicht die rechtlichen Folgerungen zieht, die etwa für die
Sachverhalts- und Beweiswürdigung geboten sind (stRspr; vgl. nur Beschluss vom 19. August
1997 a.a.O.).
6 (2) Eine Divergenz des angefochtenen Urteils zu den Beschlüssen des Senats vom 14. Juli
1994 - BVerwG 4 NB 25.94 - (Buchholz 406.11 § 1 BauGB Nr. 75 S. 11 f.) und vom 6. März 1989
- BVerwG 4 NB 8.89 - (Buchholz 406.11 § 30 BBauG/BauGB Nr. 27 ) legt die
Beigeladene ebenfalls nicht dar. Sie weist nicht nach, dass das Oberverwaltungsgericht einen
der höchstrichterlichen Rechtsprechung widersprechenden Rechtssatz des Inhalts aufgestellt
hat, ein Bebauungsplan, der zu Nutzungskonflikten führe, müsse diese abschließend
bewältigen.
7 b) Des Weiteren ist auch der insofern geltend gemachte Verfahrensfehler (§ 132 Abs. 2 Nr. 3
VwGO) der Annahme aktenwidriger Tatsachen nicht dargelegt.
8 Die Rüge des aktenwidrig festgestellten Sachverhalts bedingt die schlüssig vorgetragene
Behauptung, zwischen den in der angegriffenen Entscheidung getroffenen tatsächlichen
Annahmen und dem insoweit unumstrittenen Akteninhalt sei ein Widerspruch gegeben. Nach
der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts muss dieser Widerspruch offensichtlich
sein, so dass es einer weiteren Beweiserhebung zur Klärung des richtigen Sachverhalts nicht
bedarf; der Widerspruch muss also „zweifelsfrei“ sein (vgl. z.B. Urteil vom 2. Februar 1984 -
BVerwG 6 C 134.81 - BVerwGE 68, 338; Beschlüsse vom 19. November 1997 - BVerwG 4 B
182.97 - Buchholz 406.11 § 153 BauGB Nr. 1 und vom 16. März 1999 - BVerwG 9
B 73.99 - Buchholz 310 § 108 Abs. 2 VwGO Nr. 7 ). Diesen Voraussetzungen
genügt das Vorbringen der Beigeladenen schon deshalb nicht, weil sie die fragliche Passage im
angefochtenen Urteil (Seite 33 des Urteilsabdrucks) unzutreffend wiedergibt. Das
Oberverwaltungsgericht hat dem Plangeber nicht, wie in der Beschwerdebegründung behauptet,
unterstellt, er sei davon ausgegangen, „dass eine bauliche Umstrukturierung des Gebäudes [V-
straße ...] mit der Folge einer Anordnung von Aufenthaltsräumen an der Westseite
denkmalrechtlich ausgeschlossen ist“. Nach der Darstellung der Vorinstanz hat der Plangeber
vielmehr den Schluss gezogen, „die von ihm vorausgesetzte bauliche Situation - insbesondere,
dass an der Westseite des Anbaus mit Ausnahme des obersten Geschosses keine zur
Belichtung von Aufenthaltsräumen erforderlichen Fenster vorhanden seien - sei
denkmalrechtlich auf Dauer gesichert (vgl. S. 225 der Planbegründung; ferner S. 5 f. der
zusammenfassenden Erklärung nach § 10 Abs. 4 BauGB)“. Außerdem zeigt die Beigeladene
nicht auf, dass das Oberverwaltungsgericht den Wortlaut der Planbegründung (auf Seite 225)
unzutreffend wiedergegeben hat. Stattdessen wirft sie dem Oberverwaltungsgericht vor, die
Planbegründung in einen falschen Kontext gestellt zu haben. Mit einer Kritik an der
tatrichterlichen Beweiswürdigung und Überzeugungsbildung wird ein Verfahrensmangel indes
nicht dargelegt.
9 c) Schließlich kommt der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zu (§ 132 Abs. 2
Nr. 1 VwGO).
10 Grundsätzlich bedeutsam im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ist eine Rechtssache dann,
wenn in dem angestrebten Revisionsverfahren die Klärung einer bisher höchstrichterlich
ungeklärten, in ihrer Bedeutung über den der Beschwerde zugrunde liegenden Einzelfall
hinausgehenden, klärungsbedürftigen und entscheidungserheblichen Rechtsfrage des
revisiblen Rechts (§ 137 Abs. 1 VwGO) zu erwarten ist. In der Beschwerdebegründung muss
dargelegt (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO), d.h. näher ausgeführt werden, dass und inwieweit eine
bestimmte Rechtsfrage des Bundesrechts im allgemeinen Interesse klärungsbedürftig und
warum ihre Klärung in dem beabsichtigten Revisionsverfahren zu erwarten ist (stRspr; so bereits
Beschluss vom 2. Oktober 1961 - BVerwG 8 B 78.61 - BVerwGE 13, 90 <91>; siehe auch
Beschluss vom 1. Februar 2011 - BVerwG 7 B 45.10 - juris Rn. 15). Daran fehlt es hier.
11 Die Beigeladene und das beklagte Land halten in Bezug auf den vom
Oberverwaltungsgericht festgestellten Abwägungsfehler wegen Nichteinhaltung der
bauordnungsrechtlichen Abstandsflächenregelungen an der Grenze zu dem Nachbargrundstück
V-straße ... folgende Fragen für grundsätzlich klärungsbedürftig:
„Muß der Plangeber bei der Zusammenstellung des Abwägungsmaterials alle ‚nicht gänzlich
fernliegenden’ Gestaltungsvarianten, die der Bebauungsplan ermöglicht, abschließend ermitteln
und bewerten?
Gilt das auch dann, wenn diese nach dem planerischen Ermessen des Plangebers in der
konkreten Entscheidungssituation keinen Einfluß auf das Ergebnis der Abwägung mehr haben?“
und
„Ist es zulässig, dass der Plangeber die im Wege der Abwägung mögliche Verkürzung der
bauordnungsrechtlichen Abstandsflächen im Hinblick auf eine in einem nachfolgenden
bauordnungs- und/oder denkmalschutzrechtlichen Genehmigungsverfahren zu erwartende
Problemlösung zulässt?“.
12 Diese Fragen würden sich in einem nachfolgenden Revisionsverfahren nicht stellen. Das gilt
für die ersten beiden Fragen schon deshalb, weil die Gestaltungsvarianten, die für das Gebäude
auf dem Nachbargrundstück V-straße ... denkbar sein mögen, nicht durch den angefochtenen
Bebauungsplan ermöglicht werden. Das Grundstück V-straße ... liegt außerhalb des
Plangebiets. Die letzte Frage ist nicht entscheidungserheblich, weil die Vorinstanz nicht
festgestellt hat, dass eine Lösung der durch die Abstandsflächenverkürzung aufgeworfenen
Verschattungs-, Verdunkelungs- und Einmauerungsproblematik in einem bauordnungs-
und/oder denkmalschutzrechtlichen Genehmigungsverfahren für das Gebäude V-straße ... zu
erwarten ist.
13 2. Liegen damit aber bereits hinsichtlich des vom Oberverwaltungsgericht festgestellten
Ermittlungs- und Bewertungsdefizits in Bezug auf die Wahrung gesunder Wohn- und
Arbeitsverhältnisse wegen der Nichteinhaltung der bauordnungsrechtlichen
Abstandsflächenregelungen an der Grenze zu dem Nachbargrundstück V-straße ... keine
Zulassungsgründe vor, kann offen bleiben, ob die in Bezug auf die weiteren vom
Oberverwaltungsgericht festgestellten Mängel im Abwägungsvorgang bzw. -ergebnis
angeführten Gründe der Beschwerden den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO
genügen und vorliegen.
14 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Die Festsetzung des
Streitwerts folgt aus § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG.
Prof. Dr. Rubel
Dr. Gatz
Dr. Decker