Urteil des BVerwG vom 14.08.2013

BVerwG: verkündung, rüge, verfahrensmangel, abtretungsvertrag, effektivität, emrk, entscheidungsformel, kunst, gebärdensprache, zustellung

BVerwG 8 B 36.13
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 8 B 36.13
VG Potsdam - 06.12.2012 - AZ: VG 1 K 52/09
In der Verwaltungsstreitsache hat der 8. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 14. August 2013
durch den Vizepräsidenten des Bundesverwaltungsgerichts
Prof. Dr. Dr. h.c. Rennert,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Deiseroth und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Rudolph
beschlossen:
Die Beschwerde der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision in dem aufgrund
der mündlichen Verhandlung vom 22. November 2012 ergangenen Urteil des
Verwaltungsgerichts Potsdam wird zurückgewiesen.
Die Kläger zu 1 bis 3 einerseits - diese als Gesamtschuldner -, die Klägerin zu 4
anderseits tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens je zur Hälfte, jedoch mit
Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 200 000 €
festgesetzt.
Gründe
1 Die Kläger begehren die Rückübertragung der früher im Grundbuch von N., Band ..., Blatt ...,
eingetragenen Grundstücke mit einer Gesamtfläche von 7 290 m². Der Beklagte lehnte die
Rückübertragung mit der Begründung ab, dass eine Berechtigung nach § 2 Abs. 1 VermG
mangels Eigentums nicht vorliege. Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen und die
Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen.
2 Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision ist unbegründet.
3 1. Die Rechtssache hat nicht die grundsätzliche Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), die ihr
die Beschwerde beimisst.
4 Grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO hat eine Rechtssache nur,
wenn sie eine für die Entscheidung erhebliche Rechtsfrage aufwirft, die im Interesse der Einheit
oder Fortbildung des Rechts revisionsgerichtlicher Klärung bedarf. Diese Voraussetzungen
liegen hier nicht vor.
5 Die Kläger halten den Rechtsstreit mit Blick auf die Frage für grundsätzlich bedeutsam, ob die
Entstehung eines Anwartschaftsrechts dann ausgeschlossen ist, wenn der Erwerber durch
Flucht an der Zahlung der Gebühr für die Grundbucheintragung gehindert war, weil er keine
Kenntnis von der Zahlungsaufforderung erhalten hatte. Das Verwaltungsgericht hat in dem
angefochtenen Urteil ausgeführt, dass, selbst wenn ein Anwartschaftsrecht entstanden sein
sollte, der geltend gemachte Anspruch nicht bestünde. Diese Ausführungen haben die Kläger
nicht mit Zulassungsgründen angegriffen; sollte sich die nachstehend behandelte Frage auf
diese Alternativbegründung beziehen - was unklar bleibt -, so hätten die Kläger sie jedenfalls
nicht mit Erfolg mit Zulassungsgründen angegriffen. Ist ein Urteil aber nebeneinander auf
mehrere selbstständig tragende Begründungen gestützt, scheidet eine Zulassung wegen
grundsätzlicher Bedeutung mangels Klärungsbedürftigkeit der aufgeworfenen Frage aus, wenn
nicht hinsichtlich jeder Begründung ein Zulassungsgrund geltend gemacht wird und vorliegt.
6 Soweit die Kläger ferner die Frage für grundsätzlich klärungsbedürftig erachten, „ob eine aus
dem Baulandgesetz erfolgte Inanspruchnahme des Grundbesitzes die Rechte der Erwerber
vereiteln konnte und dadurch ein zielgerichteter Eingriff erfolgt ist und schädigend auf den
Rechtsinhaber eingewirkt worden ist mit der Folge, dass eine vermögensrechtliche Schädigung
dadurch eingetreten ist,“ wird ihr Vorbringen den Darlegungsanforderungen an die
Klärungsbedürftigkeit nicht gerecht. Der bloße Hinweis, die Frage sei bislang noch nicht
höchstrichterlich entschieden worden, reicht hierfür nicht aus. Die Darlegung der grundsätzlichen
Bedeutung einer Rechtssache setzt voraus, dass eine bestimmte, höchstrichterlich noch nicht
hinreichend geklärte und für die Revisionsinstanz entscheidungserhebliche Frage
herausgearbeitet wird; außerdem muss angegeben werden, worin die allgemeine, über den
Einzelfall hinausgehende Bedeutung bestehen soll.
7 2. Ferner rechtfertigt die von den Klägern erhobene Divergenzrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO)
nicht die Zulassung der Revision. Eine zulassungsbegründende Revision liegt vor, wenn das
Verwaltungsgericht mit einem sein Urteil tragenden Rechtssatz von einem eine Entscheidung
des Bundesverwaltungsgerichts (oder des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des
Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts) tragenden Rechtssatz abgewichen ist. Der
Zulassungsgrund der Divergenz ist nur dann hinreichend bezeichnet, wenn die Beschwerde ein
inhaltlich bestimmten, die angefochtene Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz
benennt, mit dem die Vorinstanz einem in der Rechtsprechung u.a. des
Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten ebensolchen Rechtssatz in Anwendung derselben
Rechtsvorschrift widersprochen hat (stRspr, vgl. Beschlüsse vom 21. Juni 1995 - BVerwG 8 B
61.95 - Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 18 und vom 30. November 2011 - BVerwG 8 B
48.11 - ZOV 2012, 61). Die Gegenüberstellung der voneinander abweichenden Rechtssätze ist
zur ordnungsgemäßen Erhebung der Divergenzrüge unverzichtbar.
8 Diesen Anforderungen genügt das Vorbringen der Kläger nicht. Sie behaupten zwar, dass das
angefochtene Urteil von dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. Januar 2001
(BVerwG 7 C 10.00 - BVerwGE 112, 335 = Buchholz 428 § 2 VermG Nr. 53) abweicht. Sie legen
aber schon nicht dar, inwiefern das Urteil auf der behaupteten Abweichung beruht. Die
Beschwerdebegründung beschränkt sich darauf, eine fehlerhafte Rechtsanwendung zu rügen,
die den Zulassungsgrund der Divergenz nicht zu begründen vermag.
9 3. Das angefochtene Urteil beruht schließlich auch nicht auf den behaupteten
Verfahrensmängeln (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO).
10 a) Insbesondere wird mit der Beschwerde nicht dargelegt (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO), dass
das Verwaltungsgericht, wie die Kläger meinen, gegen die Amtsermittlungspflicht (§ 86 Abs. 1
VwGO) verstoßen hat. Eine solche Aufklärungsrüge setzt die Darlegung voraus, welche
Tatsachen auf der Grundlage der materiellrechtlichen Auffassung der Vorinstanz
aufklärungsbedürftig waren, welche für erforderlich und geeignet gehaltenen
Aufklärungsmaßnahmen hierfür in Betracht kamen, welche tatsächlichen Feststellungen dabei
voraussichtlich getroffen worden wären und inwiefern diese unter Zugrundelegung der
materiellrechtlichen Auffassung der Vorinstanz zu einer für den Beschwerdeführer günstigeren
Entscheidung hätte führen können. Weiterhin muss entweder dargelegt werden, dass bereits im
Verfahren vor dem Tatsachengericht auf die Vornahme der Sachverhaltsaufklärung, deren
Unterbleiben gerügt wird, hingewirkt worden ist oder aufgrund welcher Anhaltspunkte sich dem
Gericht die bezeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken hätten aufdrängen
müssen (stRspr, vgl. Beschluss vom 7. Oktober 2011 - BVerwG 8 B 35.11 - juris). Dem genügt
die Beschwerdebegründung nicht.
11 Soweit die Kläger ausführen, dass der Abtretungsvertrag mit der Klägerin zu 3 nicht wirksam
geworden und deshalb die Klage der Kläger zu 1 bis 3 zulässig sei, fehlt es darüber hinaus auch
an der Entscheidungserheblichkeit eines etwaigen Verfahrensmangels, da das
Verwaltungsgericht es offen gelassen hat, ob die Klage zulässig ist.
12 b) Die Rüge der überlangen Verfahrensdauer ist als solche nicht geeignet, die Zulassung der
Revision zu rechtfertigen. Zwar ergibt sich das Erfordernis eines verwaltungsgerichtlichen
Rechtsschutzes innerhalb angemessener Zeit im nationalen Recht aus dem in Art. 19 Abs. 4 GG
verankerten Prinzip der Effektivität des Rechtsschutzes. Die Beschwerde legt jedoch nicht dar,
dass das Urteil auf einer Missachtung dieses Gebots beruhen könnte. Ein allein in der Dauer des
Verfahrens begründeter Verfahrensmangel könnte durch die Aufhebung des angefochtenen
Urteils nicht geheilt werden; vielmehr würde sich das Verfahren bis zu einer rechtskräftigen
Entscheidung weiter verlängern. In Fällen der vorliegenden Art könnte ein Verstoß gegen Art. 19
Abs. 4 GG bzw. Art. 6 EMRK allenfalls durch eine Entschädigungszahlung ausgeglichen
werden. Es bedarf daher keiner Entscheidung, ob die Verfahrensdauer unter Berücksichtigung
der Umstände des Einzelfalls noch als angemessen anzusehen ist (Beschluss vom 23. März
2005 - BVerwG 8 B 3.05 - Buchholz 428 § 2 VermG Nr. 80).
13 c) Soweit die Kläger sinngemäß rügen, das am 6. Dezember 2012 verkündete Urteil sei im
Sinne des § 138 Nr. 6 VwGO nicht mit Gründen versehen, weil es ihnen erst am 13. Mai 2013
zugestellt worden sei, rechtfertigt auch dies nicht die Zulassung der Revision. Das
Verwaltungsgericht hat das Urteil zwar unter Verstoß gegen § 117 Abs. 4 Satz 2 VwGO nicht
alsbald nach der Niederlegung der Entscheidungsformel vollständig abgefasst, unterschrieben
und der Geschäftsstelle übergeben. Ein Verstoß gegen diese Vorschrift führt jedoch allein noch
nicht dazu, dass das Urteil als nicht mit Gründen versehen zu gelten hat. Dies ist vielmehr erst
dann der Fall, wenn aufgrund der verspäteten Absetzung des Urteils nicht mehr gewährleistet ist,
dass die schriftlich niedergelegten Gründe das Ergebnis der mündlichen Verhandlung und der
auf ihr beruhenden Überzeugungsbildung des Gerichts wiedergeben. Eine äußerste Grenze ist
erreicht, wenn ein bei der Verkündung noch nicht vollständig abgesetztes Urteil nicht binnen fünf
Monaten nach der Verkündung vollständig abgefasst, unterschrieben und der Geschäftsstelle
übergeben worden ist (Beschlüsse vom 9. August 2004 - BVerwG 7 B 20.04 - juris und vom 25.
August 2003 - BVerwG 6 B 45.03 - Buchholz 310 § 130 VwGO Nr. 16). Diese Frist ist hier gerade
noch eingehalten, denn das Verwaltungsgericht hat das vollständig abgefasste Urteil
ausweislich des darauf angebrachten Eingangsvermerks der Geschäftsstelle am 6. Mai 2013
übergeben. Hierauf, nicht aber auf die Ausfertigung durch die Geschäftsstelle oder dessen
Zustellung an die Beteiligten, kommt es an.
14 d) Im Übrigen erschöpft sich die Beschwerde in der Art einer Berufungsbegründung in
Angriffen gegen die Entscheidung der Vorinstanz, ohne einen der in § 132 Abs. 2 VwGO
genannten Zulassungsgründe zu benennen. Selbst wenn man dem Vorbringen (Seite 2 der
Beschwerdebegründung) entnehmen wollte, dass die Kläger auch die Rüge der Verletzung
rechtlichen Gehörs wegen des Erlasses einer Überraschungsentscheidung erheben wollen,
begründet dies nicht die Zulassung der Revision. Eine Überraschungsentscheidung im
Rechtssinne ist nur gegeben, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder
tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht und damit dem
Rechtsstreit eine Wende gegeben hat, mit der alle oder einzelne Beteiligte nach dem bisherigen
Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchten (Beschluss vom 28. Februar 2001 - BVerwG
8 B 13.01). Daran fehlt es hier. Das Verwaltungsgericht hat ausweislich des Protokolls über die
mündliche Verhandlung vom 22. November 2012 seine Rechtsauffassung dargelegt und nicht
den Eindruck erweckt, dass es der Klage stattgeben wolle.
15 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Die
Streitwertfestsetzung ergibt sich aus den §§ 47, 52 Abs. 1 GKG.
Prof. Dr. Dr. h.c. Rennert
Dr. Deiseroth
Dr. Rudolph