Urteil des BVerwG vom 27.08.2013

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BVerwG 4 B 39.13
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 4 B 39.13
VG Chemnitz - 28.10.2010 - AZ: VG 3 K 1360/08
Sächsisches OVG - 05.04.2013 - AZ: OVG 1 A 247/12
In der Verwaltungsstreitsache hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 27. August 2013
durch die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Gatz, Petz und Dr. Decker
beschlossen:
Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil
des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 5. April 2013 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 7 500 €
festgesetzt.
Gründe
1 Die auf § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg. Die Rechtssache
hat nicht die grundsätzliche Bedeutung, die ihr der Beklagte beimisst.
2 Das Oberverwaltungsgericht hat die bauaufsichtliche Zustimmung nach § 77 SächsBO nebst
Befreiung nach § 34 Abs. 2 i.V.m. § 31 Abs. 2 BauGB für die Änderung der Nutzung eines
ehemaligen Wohnheims für Justizbedienstete in ein Freigängerhaus für Strafgefangene aus
zwei Gründen aufgehoben. Zum einen verletze die Befreiung den Gebietserhaltungsanspruch
der Klägerin aus § 34 Abs. 2 BauGB, weil Justizvollzugsanstalten in faktischen allgemeinen
Wohngebieten unzulässig seien (UA Rn. 28 ff.). Zum anderen seien Justizvollzugsanstalten mit -
wie hier - 60 Strafgefangenen mit der allgemeinen Zweckbestimmung eines allgemeinen
Wohngebiets nicht vereinbar und berührten deshalb die Grundzüge der Planung (UA Rn. 41 ff.).
Ist die vorinstanzliche Entscheidung auf mehrere selbständig tragende Begründungen gestützt,
so kann die Revision nur zugelassen werden, wenn hinsichtlich jeder dieser Begründungen ein
Revisionszulassungsgrund aufgezeigt wird und vorliegt (vgl. Beschluss vom 9. Dezember 1994 -
BVerwG 11 PKH 28.94 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 1 VwGO Nr. 4; stRspr). Wenn nur
bezüglich einer Begründung ein Zulassungsgrund gegeben ist, kann diese Begründung nämlich
hinweggedacht werden, ohne dass sich der Ausgang des Verfahrens ändert. Vorliegend
scheitert die Beschwerde schon daran, dass der Beklagte zur ersten Begründung keinen Grund
für die Zulassung der Grundsatzrevision aufzeigt.
3 In der Rechtsprechung des Senats ist geklärt, dass - erstens - bei einer fehlerhaften Befreiung
von einer nachbarschützenden Festsetzung eines Bebauungsplans ein nachbarlicher
Abwehranspruch gegeben ist, also bei nachbarschützenden Festsetzungen jeder Fehler bei der
Anwendung des § 31 Abs. 2 BauGB zur Aufhebung der Baugenehmigung führen muss (Urteil
vom 19. September 1986 - BVerwG 4 C 8.84 - Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 71 und
Beschluss vom 8. Juli 1998 - BVerwG 4 B 64.98 - Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 153),
dass - zweitens - Festsetzungen zur Art der baulichen Nutzung unabhängig davon
nachbarschützend sind, ob der Nachbar durch die gebietswidrige Nutzung unzumutbar oder
auch nur tatsächlich spür- und nachweisbar beeinträchtigt wird (Urteile vom 16. September 1993
- BVerwG 4 C 28.91 - BVerwGE 94, 151 <161> und vom 23. August 1996 - BVerwG 4 C 13.94 -
BVerwGE 101, 364 <374 f.>; Beschluss vom 18. Dezember 2007 - BVerwG 4 B 55.07 - Buchholz
406.12 § 1 BauNVO Nr. 32 Rn. 5), und dass sich - drittens - aus der Gleichstellung geplanter und
faktischer Baugebiete im Sinne der Baunutzungsverordnung hinsichtlich der Art der baulichen
Nutzung durch § 34 Abs. 2 BauGB ergibt, dass ein identischer Nachbarschutz schon vom
Bundesgesetzgeber festgelegt worden ist (Urteil vom 16. September 1993 a.a.O. S. 156 und
Beschluss vom 22. Dezember 2011 - BVerwG 4 B 32.11 - BRS 78 Nr. 171).
4 In der Rechtsprechung des Senats ist ferner geklärt, dass der Abwehranspruch grundsätzlich
bereits durch die Zulassung eines mit der Gebietsfestsetzung unvereinbaren Vorhabens
ausgelöst wird, weil hierdurch das nachbarliche Austauschverhältnis gestört und eine
Verfremdung des Gebiets eingeleitet wird (Urteil vom 16. September 1993 a.a.O.). Die von dem
Beklagten aufgeworfene Frage, ob das auch gilt, wenn das Vorhaben ein Solitär ist, das keine
Gefahr einer schleichenden Umwandlung des Baugebiets in sich trägt, oder ob in einem solchen
Fall der Abwehranspruch einen spürbaren oder störenden Eingriff in den nachbarlichen
Interessenausgleich voraussetzt (Beschwerdebegründung S. 2), führt nicht zur Zulassung der
Revision, weil sie von einer unzutreffenden Prämisse ausgeht. Nach Auffassung des Beklagten
besteht die Gefahr des Beginns der Verfremdung eines Baugebiets und entsteht der
Gebietserhaltungsanspruch nur dann, wenn das Vorhaben gleichgelagerte Bauwünsche anderer
Nutzungsinteressenten erzeugen kann (Beschwerdebegründung S. 4 f.). Das trifft nicht zu. Der
Gebietserhaltungsanspruch ist nicht davon abhängig, dass die Zulassung weiterer Vorhaben
derselben Art droht. Es genügt die abstrakte Gefahr, dass ein gebietsfremdes Vorhaben weitere
gebietsfremde Vorhaben gleich welcher Art nach sich zieht.
5 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO und die Streitwertfestsetzung auf § 47
Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.
Dr. Gatz
Petz
Dr. Decker