Urteil des BVerfG vom 17.03.2014

BVerfG: jugendamt, fremdunterbringung, haushalt, entziehung, psychiatrische behandlung, psychiatrische untersuchung, trennung, übertragung, verfassungsbeschwerde, gefahr

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 2695/13 -
Bundesadler
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn S…,
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwältin Anne Pia Schößler,
Zillertalstraße 51, 13187 Berlin -
gegen
a)
den Beschluss des Kammergerichts vom 16. August 2013 - 18 UF
112/13 -,
b)
den Beschluss des Amtsgerichts Pankow/Weißensee vom 23. April
2013 - 25 F 4010/12 -
hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Vizepräsidenten Kirchhof,
den Richter Eichberger
und die Richterin Britz
am 17. März 2014 einstimmig beschlossen:
1. Die Beschlüsse des Amtsgerichts Pankow/Weißensee vom 23. April 2013 - 25 F 4010/12 -
und des Kammergerichts vom 16. August 2013 - 18 UF 112/13 - verletzen den
Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 6 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes.
Die Beschlüsse werden aufgehoben.
2. Das Land Berlin hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen im
Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.
3. Der Gegenstandswert der anwaltlichen Tätigkeit wird für das
Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 25.000 € (in Worten: fünfundzwanzigtausend Euro)
festgesetzt.
Gründe:
1
Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die Entziehung des Aufenthaltsbestimmungsrechts,
der Gesundheitssorge und des Rechts zur Beantragung von Hilfen zur Erziehung für seinen
2004 geborenen Sohn. Bis heute lebt er mit diesem Kind in einem gemeinsamen Haushalt. Die
Kindesmutter starb als das Kind anderthalb Jahre alt war.
I.
2
1. a) Nach der Einschulung im August 2010 entwickelte das Kind sehr gewalttätige
Wutausbrüche, bei denen es mehrere Erwachsene verletzte. Die Beschulung wurde aufgrund
anhaltender Schwierigkeiten zunächst reduziert und Anfang 2011 eingestellt.
3
Ab Oktober 2010 fand eine ambulante Psychotherapie statt, dort wurden eine emotionale
Störung des Kindesalters, eine Störung des Sozialverhaltens und eine Selbstwertproblematik
diagnostiziert. Seit Ende 2010 ist das Kind außerdem in psychiatrischer Behandlung, dort wurde
eine phobische Störung mit Wutanfällen diagnostiziert, das Kind erhält Psychopharmaka.
4
Im Juni und Juli 2011 wurde das Kind in einer Kinder- und Jugendpsychiatrischen Klinik
teilstationär behandelt, dort diagnostizierte man eine emotionale Störung mit Trennungsangst im
Kindesalter und eine Anpassungsstörung mit gemischter Störung von Gefühlen und
Sozialverhalten. Die Ärzte beobachteten eine auffällige Irritierbarkeit durch Veränderungen im
häuslichen oder tagesklinischen Umfeld, die zu impulsiven Durchbrüchen und Weglaufen führte.
Dem Beschwerdeführer falle es schwer, dem Kind Strukturen und Regeln, Halt und Orientierung
zu vermitteln. Nach Abschluss der Behandlung empfahl die Klinik den Wechsel in ein
Schulprojekt sowie eine weitere ambulante Psychotherapie und die Fortsetzung der
Familienhilfe; auch eine gemeinsame Unterbringung von Vater und Sohn in einem
Familienprojekt sei denkbar.
5
Im Anschluss an die tagesklinische Behandlung wechselte das Kind ab August 2011 in ein
teilstationäres, pädagogisch-psychologisch betreutes Schulprojekt. Die Einrichtung beendete die
Hilfe im März 2012, weil sich die Situation nicht verbesserte und das Kind sich selbst und andere
gefährdete. Die Einrichtung berichtete, dem Kind gehe es schlecht. Der Beschwerdeführer löse
Verlassensängste aus, verunsichere das Kind und böte keine klare Orientierung. Das Kind
dominiere den Beschwerdeführer und fühle sich als dessen Verbündeter im Kampf gegen eine
diffuse Bedrohung. Es erlebe sich durch seine Wutausbrüche, die es auch gezielt einsetze, als
mächtig; Dauer und Intensität der Ausbrüche nähmen zu. Der Beschwerdeführer sei
außerstande, seine Beziehung zum Kind zu bearbeiten oder die kindlichen Bedürfnisse
empathisch zu empfinden; er neige dazu, die Verantwortung für die Erziehung abzugeben.
6
b) Nach dem Scheitern des Schulprojektes wurde im April 2012 auf Veranlassung des
Jugendamts das beschwerdegegenständliche Hauptsacheverfahren zur Entziehung von
Teilbereichen des Sorgerechts vor dem Amtsgericht eingeleitet.
7
Ab Mai 2012 fand eine Einzelbeschulung von einer Schulstunde täglich statt, bei der das Kind
unkonzentriert, wenig motiviert und trotzig erlebt wurde.
8
Das Amtsgericht holte ein psychologisches Sachverständigengutachten ein, das im Oktober
2012 vorgelegt wurde. Die Sachverständige empfahl eine stationäre Hilfe für das Kind. Wegen
der engen Bindung des Kindes an den Beschwerdeführer solle das Kind vorzugsweise
gemeinsam mit dem Vater in einer Eltern-Kind-Einrichtung aufgenommen werden. Sollte der
Beschwerdeführer eine solche Hilfe nicht annehmen, solle eine „stationäre Pflege“ allein für das
Kind erfolgen.
9
In einer mündlichen Verhandlung im November 2012 erklärte der Beschwerdeführer, er bemühe
sich um eine teilstationäre (tagesklinische) Behandlung des Kindes in einer Klinik für
Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters. Das Jugendamt
stellte in Aussicht, bei Vorliegen einer positiven Prognose der Tagesklinik könne eine
„Clearingstelle“ Vater und Kind für maximal drei Monate aufnehmen, danach komme ein
Wechsel von Vater und Sohn in ein Familienwohnprojekt in Betracht.
10
Der Beschwerdeführer begab sich im Januar 2013 mit dem Sohn wie vereinbart in
psychologische/psychiatrische Behandlung, die aber bereits nach drei Wochen wegen
Verhaltenseskalationen des Kindes mit Fremd- und Eigengefährdung sowie massiver
Sachbeschädigung abgebrochen wurde. Die Ärzte empfahlen eine Unterbringung in einer
stationären Eltern-Kind-Einrichtung oder eine Unterbringung des Kindes „unter geschlossenen
Bedingungen im Jugendhilfebereich“, wobei eine gemeinsame Unterbringung von
Beschwerdeführer und Kind befürwortet wurde.
11
Das Jugendamt und der Beschwerdeführer suchten nach einer geeigneten Einrichtung. Mitte
März 2013 stellte sich heraus, dass bis Anfang 2014 keine Plätze für eine gemeinsame
Unterbringung des Beschwerdeführers mit dem Kind zur Verfügung standen. Ende März 2013
teilte das Jugendamt mit, auch eine Aufnahme des Kindes allein in einer Jugendhilfeeinrichtung
sei aufgrund der Verhaltensweisen des Kindes und seines Auftretens derzeit „nicht vorstellbar“.
Es gebe keine geschlossenen Jugendhilfeeinrichtungen für Kinder unter 10 Jahren. Ein Verbleib
im Haushalt des Beschwerdeführers sei aber auch nicht möglich, weil es kein Angebot für eine
Beschulung gebe und eine Gefährdung bestehe. Eine „intensive psychologisch/psychiatrische
Untersuchung zu den Ursachen“ des kindlichen Verhaltens inklusive der Einflussnahme durch
den Beschwerdeführer beziehungsweise eine umgehende „stationäre Diagnostik in einer
geschlossenen psychiatrischen Kinderklinik“ sei erforderlich; ansonsten könne es kein
adäquates stationäres Jungendhilfeangebot für das Kind geben. Sollte der Beschwerdeführer
damit nicht einverstanden sein, müsse das Sorgerecht insoweit entzogen werden.
12
Der Beschwerdeführer stellte währenddessen seinen Sohn ab Februar 2013 einem weiteren
Kinder- und Jugendpsychiater vor. Er legte außerdem eine Stellungnahme der langjährigen
Kinder- und Jugendpsychiaterin und Psychotherapeutin des Kindes vor, die von einer isolierten
Unterbringung des Kindes abriet, weil eine Trennung das Kind psychisch sehr stark belasten
würde.
13
Das Amtsgericht forderte den Beschwerdeführer auf, zu erklären, ob er die Genehmigung einer
geschlossenen Unterbringung des Kindes nach § 1631b BGB beantragen wolle. Dies lehnte der
Beschwerdeführer am 11. April 2013 ab.
14
Mit angegriffenem Beschluss vom 23. April 2013 entzog das Amtsgericht Pankow/Weißensee
dem Beschwerdeführer daraufhin das Recht zur Aufenthaltsbestimmung, Gesundheitssorge und
Beantragung von Erziehungshilfen und übertrug es auf das Jugendamt Mitte von Berlin als
Pfleger. Das Kindeswohl sei bei einem Verbleib im Haushalt des Beschwerdeführers gefährdet,
eine kindeswohlentsprechende Entwicklung sei dort nicht gewährleistet. Die Voraussetzungen
des § 1666 BGB lägen, wie das Amtsgericht näher darlegt, nach dem ausführlichen und
überzeugenden Sachverständigengutachten vor. Die Situation des Kindes könne nur noch
außerhalb des bestehenden Familiensystems verbessert werden, erforderlich sei eine stationäre
Unterbringung allein des Kindes in einer stark strukturierten und begrenzenden Maßnahme,
voraussichtlich unter geschlossenen Bedingungen. Zwar sei der Beschwerdeführer kooperativ
und derzeit stehe noch keine geeignete Einrichtung zur Verfügung. Allerdings sei das Verhalten
des Beschwerdeführers in der Vergangenheit oft schwankend gewesen, er habe seine
Zustimmung zu einer Unterbringung häufig zurückgezogen und starke Vorbehalte gegen eine
Trennung des Kindes von ihm geäußert. Durch den Sorgerechtsentzug solle eine zuverlässige
und zeitnahe Umsetzung von Hilfen ermöglicht werden, sobald eine Einrichtung gefunden sei.
15
Das Jugendamt beließ das Kind anschließend im Haushalt des Beschwerdeführers.
16
c) Im Beschwerdeverfahren legte der Beschwerdeführer eine fachärztliche Stellungnahme des
Kinderarztes, Kinder- und Jugendpsychiaters und Psychologen vor, der das Kind seit einigen
Wochen behandelte, seine Diagnosen abgeschlossen hatte und keine Indikation für einen
stationären Klinikaufenthalt sah. Im Juli 2013 teilte der Beschwerdeführer dem Kammergericht
mit, das Jugendamt habe bisher darauf verzichtet, eine Unterbringung einzuleiten; es habe das
Kind lediglich dem Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst vorgestellt.
17
Das Kammergericht bestätigte die teilweise Entziehung des Sorgerechts mit angegriffenem
Beschluss vom 16. August 2013. Es nimmt Bezug auf die nach seiner Einschätzung zutreffenden
Ausführungen der angefochtenen Entscheidung und ergänzt diese. Durch die Entziehung des
Sorgerechts werde erreicht, dass Maßnahmen zur Besserung der Lage des Kindes konsequent
verfolgt werden könnten. Inzwischen lasse die Herausnahme größere Vorteile erwarten als ein
Verbleib im väterlichen Haushalt, auch wenn dies für das Kind und den Vater schwierig werde.
Nachdem eine gemeinsame Unterbringung von Vater und Kind derzeit augenscheinlich nicht
erreicht werden könne, müsse eine Lösung gefunden werden, die das Kammergericht vor allem
in einer geschlossenen psychiatrischen Unterbringung sieht. In einer psychiatrischen
Einrichtung könnten durch die ärztliche Betreuung auch psychiatrische Gesichtspunkte
berücksichtigt werden. Die Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung sei jedoch nicht
wegen einer psychiatrischen Erkrankung indiziert, sondern weil eine ausreichend konsequente
Betreuung des Kindes unter Umständen nur in einer solchen Einrichtung verfolgt werden könne.
Hier gehe es nicht um eine schlichte psychiatrische Klinikunterbringung, sondern um einen
Sonderfall. Die Entscheidung im Einzelnen sei dem Sorgeberechtigten zu überlassen. Dass das
Jugendamt bisher darauf verzichte, das Kind in eine geschlossene psychiatrische Abteilung
einzuweisen, ändere nichts daran, dass der Beschwerdeführer mit der Erziehung überfordert sei.
Es sei nicht Ergebnis der Ermittlungen, dass die Unterbringung in einer geschlossenen
Einrichtung durchgesetzt werden müsse, sondern nur, dass dies eine wichtige Option sei. Es sei
Sache des nunmehr bestellten Pflegers, die weitere Unterbringung des Kindes zu regeln.
18
2. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seines
Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG. Er hält die Maßnahme für unverhältnismäßig. Zum
einen sei das Sorgerecht entzogen worden, nachdem der Beschwerdeführer sich geweigert
hatte, die Unterbringung in der geschlossenen Psychiatrie zu beantragen, die das Jugendamt
zur weiteren Diagnose geplant hatte. Es sei aber nicht ersichtlich, weshalb zur weiteren
Diagnose eine geschlossene Unterbringung erforderlich sei - auch das Jugendamt habe sich
später an den Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst gewendet, statt eine stationäre
Unterbringung einzuleiten. Es sei unverhältnismäßig, das Sorgerecht zu entziehen, weil die
Eltern eine nicht gebotene Maßnahme unterließen. Zum anderen hätten zum Zeitpunkt der
Sorgerechtsentziehung keine geeigneten Mittel zur Verfügung gestanden, um die
Kindeswohlgefährdung zu beenden. Bis Anfang 2014 gebe es keine Plätze in einer Eltern-Kind-
Einrichtung, die nach Ansicht aller Fachleute die beste Lösung wäre. Die alleinige
Unterbringung in einer geschlossenen Kinder- und Jugendhilfemaßnahme sei frühestens ab
dem 10. Lebensjahr, mithin ab August 2014 möglich. Eine Unterbringung in der geschlossenen
Psychiatrie sei zur weiteren Diagnose nicht erforderlich. Eine psychiatrische Unterbringung des
Kindes allein sei außerdem mit gewichtigen Nachteilen verbunden, die die Fachgerichte nicht
ausreichend einbezogen hätten. Soweit das Kammergericht von einem „Sonderfall“ der
geschlossenen Unterbringung spreche, böten weder § 1666 BGB noch § 1631b BGB eine
geeignete gesetzliche Grundlage. Soweit das Kammergericht ausführe, die geschlossene
Psychiatrie sei „nur eine Option“, gehe es ohne eigene Ermittlungen über die vom Jugendamt
benannten Betreuungsalternativen hinaus. Gegen den ausdrücklichen Willen des
Beschwerdeführers hätte auch nicht das Jugendamt zum Vormund bestellt werden dürfen, die
Auswahl eines Berufsvormundes wäre insoweit ein milderes Mittel gewesen.
19
Das Jugendamt leitete weiterhin keine Fremdunterbringung, insbesondere keine stationäre
psychiatrische Diagnostik ein. Das Kind, das nach wie vor im väterlichen Haushalt lebt, besucht
seit August 2013 mit Unterstützung von Schulhelfern die Regelschule. Die ambulante
Psychotherapie wird fortgesetzt.
20
3. Dem Senat von Berlin, der Verfahrensbeiständin des Kindes aus dem fachgerichtlichen
Verfahren sowie dem Jugendamt Mitte von Berlin als Ergänzungspfleger des Kindes wurde
Gelegenheit zur Äußerung gegeben. Die Akten des fachgerichtlichen Verfahrens lagen dem
Bundesverfassungsgericht vor.
II.
21
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt.
22
Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Elterngrundrechts des
Beschwerdeführers geboten, § 93a Abs. 2 Buchstabe b) BVerfGG. Zu dieser Entscheidung ist
die Kammer berufen, weil die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für eine
teilweise Entziehung des Sorgerechts durch das Bundesverfassungsgericht bereits geklärt sind
und sich die Verfassungsbeschwerde anhand dieser Maßstäbe als offensichtlich begründet
erweist, § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG.
23
1. Die Entscheidung des Kammergerichts verletzt den Beschwerdeführer in seinem Elternrecht
aus Art. 6 Absatz 2 Satz 1 GG.
24
a) Die Entscheidung betrifft das Elternrecht des Beschwerdeführers. Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG
garantiert den Eltern das Recht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder. Der Schutz des
Elternrechts erstreckt sich auf die wesentlichen Elemente des Sorgerechts (vgl. BVerfGE 84, 168
<180>; 107, 150 <173>). Die angegriffene Entscheidung des Kammergerichts hält die
Entziehung wesentlicher Bestandteile des Sorgerechts durch das Amtsgericht aufrecht und greift
darum mit hoher Intensität in das Elterngrundrecht des Beschwerdeführers ein. Dass das
Jugendamt den Sohn des Beschwerdeführers bisher in dessen Haushalt belassen hat, ändert
daran nichts. Zum einen ist der Beschwerdeführer bereits durch die Entziehung des
Aufenthaltsbestimmungsrechts, der Gesundheitssorge und des Rechts zur Beantragung von
Hilfen zur Erziehung an sich erheblich belastet, weil ihn dies in der Ausübung seines
Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG auch dann merklich einschränkt, wenn das Kind
weiterhin bei ihm lebt. Zum anderen muss der Beschwerdeführer jederzeit mit der tatsächlichen
Herausnahme des Sohnes aus seinem Haushalt rechnen, weil das Jugendamt diese ohne
weitere Mitwirkung des Familiengerichts in Ausübung des ihm übertragenen
Aufenthaltsbestimmungsrechts herbeiführen kann.
25
b) Der Eingriff ist verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt, weil er unverhältnismäßig ist.
26
aa) Allerdings dient die Sorgerechtsentziehung einem verfassungsrechtlich legitimen Zweck,
weil damit eine nachhaltige Gefährdung des Kindes in seinem körperlichen, geistigen und
seelischen Wohl abgewendet werden soll (vgl. BVerfGE 60, 79 <91>). Das Kammergericht ist in
verfassungsrechtlich tragfähiger Weise davon ausgegangen, dass das Kindeswohl im Haushalt
des Beschwerdeführers zum Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung in einem Ausmaß
gefährdet war, das eine Trennung des Kindes von seinen Eltern rechtfertigen kann.
27
bb) Die Entscheidung des Kammergerichts genügt jedoch nicht den weiteren Anforderungen des
Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Dafür müssten sich die Entziehung des Sorgerechts und die
damit bezweckte Fremdunterbringung zur Beseitigung der festgestellten Gefahr eignen und es
dürften keine milderen Mittel erkennbar sein, mit denen der Gefahr genauso wirksam begegnet
werden könnte (vgl. BVerfGK 19, 295 <303>).
28
Diese Anforderungen sind nicht erfüllt. Die teilweise Übertragung des Sorgerechts zielt darauf,
die Fremdunterbringung des Kindes zu ermöglichen. Zwar war eine Fremdunterbringung des
Kindes zum Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung generell geeignet, dessen Lage zu
verbessern (1). Durch die Übertragung des Sorgerechts auf das Jugendamt kann die angestrebte
Fremdunterbringung des Kindes hier jedoch nicht erreicht werden, so dass die Entziehung des
Sorgerechts ungeeignet ist, die Kindeswohlgefahr abzuwenden (2).
29
(1) Keine verfassungsrechtlichen Bedenken bestehen gegen die Annahme des Kammergerichts,
dass eine Fremdunterbringung generell geeignet ist, die dem Kind beim Verbleib im Haushalt
des Beschwerdeführers drohenden Gefahren abzuwenden.
30
An der Eignung der Sorgerechtsentziehung fehlt es allerdings, wenn diese und die dadurch
vorbereitete Trennung des Kindes von den Eltern mit anderweitigen Beeinträchtigungen des
Kindeswohls einhergehen, welche durch die Beseitigung der festgestellten Gefahr nicht
aufgewogen werden (vgl. BVerfGK 19, 295 <303>; BGH, Beschluss vom 26. Oktober 2011 - XII
ZB 247/11 -, juris, Rn. 29). Insoweit ist die Entscheidung des Kammergerichts jedoch
verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Obwohl hier alle Beteiligten in der Einschätzung
übereinstimmten, dass das Kind durch die Trennung vom Beschwerdeführer stark belastet
würde, ist das Kammergericht angesichts der erheblichen Gefährdung des Kindes und der
Hilflosigkeit des Vaters gegenüber seinem Kind im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung
nachvollziehbar davon ausgegangen, dass eine Herausnahme größere Vorteile erwarten lasse
als der Verbleib des Kindes im Haushalt des Beschwerdeführers.
31
(2) Jedoch kann die Übertragung des Sorgerechts auf das Jugendamt erkennbar nicht dazu
beitragen, die angestrebte Fremdunterbringung des Kindes herbeizuführen, sodass die
Entscheidung des Kammergerichts im Ergebnis nicht geeignet war, die Gefahr abzuwenden, die
dem Kind beim Verbleib im väterlichen Haushalt drohte. Das Kammergericht konnte weder
darauf vertrauen, dass das Jugendamt von sich aus die Fremdunterbringung herbeiführen würde
(a). Noch konnte es mit der Möglichkeit gerichtlicher Durchsetzung einer Fremdunterbringung
rechnen (b).
32
(a) Weil abzusehen war, dass das Jugendamt als Ergänzungspfleger in nächster Zeit keine
Fremdunterbringung des Kindes herbeiführen würde, durfte sich das Kammergericht hier nicht
mit der Feststellung zufrieden geben, die weitere Unterbringung des Kindes zu regeln, sei Sache
des nunmehr bestellten Ergänzungspflegers.
33
(aa) Die (teilweise) Entziehung und Übertragung des Sorgerechts ist zur Beseitigung der Gefahr
für ein Kind grundsätzlich nur dann geeignet, wenn der Ergänzungspfleger oder Vormund
mithilfe der übertragenen Teilbereiche des Sorgerechts konkrete Maßnahmen zur Verbesserung
der Situation des Kindes einleiten, das heißt den als gefährlich definierten Zustand beenden
oder wenigstens zu dessen Beendigung beitragen kann (vgl. BGH, Beschluss vom 12. März
1986 - IVb ZB 87/85 -, juris, Rn. 17 ff.; BayObLG, Beschluss vom 8. Dezember 1994 - 1Z BR
147/94 -, juris, Rn. 15 ff.). Hält das Familiengericht eine Fremdunterbringung für geeignet, die
Situation des Kindes zu verbessern, und bestellt es das Jugendamt für Teilbereiche des
Sorgerechts zum Ergänzungspfleger, kann es zwar üblicherweise darauf vertrauen, das
Jugendamt werde zeitnah zu einem entsprechenden Gebrauch des Sorgerechts bereit und in der
Lage sein. Eine genauere Eignungsprüfung ist jedoch dann veranlasst, wenn deutlich erkennbar
ist, dass das Jugendamt derzeit keine Maßnahmen zur Beseitigung der Kindeswohlgefahr
ergreift - sei es, weil keine Handlungsmöglichkeit besteht, sei es, weil das Jugendamt denkbare
Maßnahmen nicht für angezeigt hält (vgl. BayObLG, Beschluss vom 8. Dezember 1994 - 1Z BR
147/94 -, juris, Rn. 16 f.).
34
(bb) Angesichts der konkreten Umstände konnte das Kammergericht hier nicht darauf vertrauen,
dass das Jugendamt mithilfe der ihm übertragenen Teile des Sorgerechts von sich aus zeitnah
eine zur Beseitigung der Kindeswohlgefahr geeignete Fremdunterbringung des Kindes
herbeiführen würde.
35
Ende März 2013 hatte das Jugendamt dem Amtsgericht mitgeteilt, dass eine Aufnahme des
Kindes in einer Jugendhilfeeinrichtung aufgrund seiner Verhaltensweisen und seines Auftretens
derzeit „nicht vorstellbar“ sei. Auch die Familientagesklinik sehe bei dem Kind den dringenden
Bedarf einer stark strukturierten und begrenzenden Maßnahme, die derzeit nur unter
geschlossenen Bedingungen im Jugendhilfebereich vorstellbar erscheine. Es gebe aber keine
geschlossenen Jugendhilfeeinrichtungen für Kinder unter 10 Jahren. Eine gemeinsame
Unterbringung des Beschwerdeführers mit seinem Sohn sei mangels zeitnahen Angebotes nicht
möglich.
36
Auch die Unterbringung des Kindes in einer geschlossenen psychiatrischen Einrichtung durch
das Jugendamt konnte nicht erwartet werden. Das Kammergericht hat die Unterbringung in einer
geschlossenen psychiatrischen Einrichtung als „wichtige Option“ angesehen, weil eine
ausreichend konsequente Betreuung des Kindes unter Umständen nur in einer solchen
Einrichtung verfolgt werden könne. Jedoch konnte das Kammergericht nicht damit rechnen, dass
das Jugendamt als Ergänzungspfleger das Kind mit dem Ziel einer längerfristigen Betreuung in
einer geschlossenen psychiatrischen Einrichtung unterbringen würde. Das Jugendamt hatte eine
solche Unterbringung in den fast vier Monaten, die seit der Übertragung des
Aufenthaltsbestimmungsrechts, der Gesundheitssorge und des Rechts zur Beantragung von
Hilfen zur Erziehung vergangen waren, nicht eingeleitet. Ohnehin hatte das Jugendamt im
amtsgerichtlichen Verfahren lediglich erklärt, es strebe die geschlossene Unterbringung zu
diagnostischen Zwecken an, so dass von vornherein nicht davon auszugehen war, es werde die
Betreuung in einer geschlossenen psychiatrischen Einrichtung als Maßnahme der
Fremdunterbringung an sich verfolgen.
37
(b) Auch die Gerichte konnten das Jugendamt nicht ohne Weiteres zur Einleitung konkreter
Maßnahmen der Fremdunterbringung verpflichten. Ob die Familiengerichte im Rahmen der
ihnen nach § 1837 Abs. 2 BGB obliegenden Aufsicht Möglichkeiten haben, den
Ergänzungspfleger (das heißt hier das Jugendamt) zu verpflichten, in Ausübung des ihm
übertragenen Rechts zur Beantragung öffentlicher Hilfen eine bestimmte Maßnahme der
Jugendhilfe (§§ 27 ff. SGB VIII) - einschließlich der für die Fremdunterbringung des Kindes
relevanten Heimerziehung oder sonstigen betreuten Wohnformen (§ 34 SGB VIII) - zu
beantragen, erscheint ebenso ungewiss wie eine Befugnis der Familiengerichte, das Jugendamt
unmittelbar in seiner Eigenschaft als für die Jugendhilfe zuständige Behörde zur Unterbringung
des Kindes in einer bestimmten Einrichtung nach § 34 SGB VIII zu verpflichten. Auch die
verwaltungsgerichtliche Durchsetzbarkeit einer geeigneten Fremdunterbringung des Kindes
durch das Jugendamt nach § 34 SGB VIII ist hier nicht gesichert. Das Recht zur Beantragung
öffentlicher Hilfen wurde hier auf eben dieses Jugendamt übertragen. Sollten
Meinungsverschiedenheiten zwischen den Behördenteilen, denen das Recht zur Beantragung
öffentlicher Hilfen übertragen wurde, und jenen bestehen, die für deren Gewährung zuständig
sind, wären diese - weil innerhalb des Jugendamts - einer verwaltungsgerichtlichen Klärung
nicht zugänglich. Dass der Beschwerdeführer in einem solchen Fall trotz Übertragung dieses
Teils des Sorgerechts auf das Jugendamt aus seinem fortbestehenden Elterngrundrecht selbst
berechtigt bleibt, den Anspruch auf Hilfen zur Erziehung zu beantragen und gegebenenfalls im
Klagewege durchzusetzen, ist in der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte bisher nicht
geklärt. Es bedarf hier keiner Entscheidung, ob in dieser Rechtslage eine verfassungswidrige
Rechtsschutzlücke zu sehen ist, jedenfalls bietet sie keine verlässlichen Mechanismen zur
Herbeiführung einer Fremdunterbringung des Kindes gegen den Standpunkt des Jugendamts,
die den Beschluss des Kammergerichts rechtfertigen könnten.
38
2. Auch die Entscheidung des Amtsgerichts verletzt den Beschwerdeführer in seinem Elternrecht
aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG.
39
Zwar ist die Annahme des Amtsgerichts, die Kindeswohlgefährdung im väterlichen Haushalt
habe ein Ausmaß angenommen, das eine Trennung des Kindes vom Beschwerdeführer
grundsätzlich rechtfertigen könne, verfassungsrechtlich ebenso wenig zu beanstanden wie die
Einschätzung des Amtsgerichts, dass eine Fremdunterbringung des Kindes generell geeignet
sei, dessen Situation zu verbessern.
40
Der Sorgerechtsentzug war hier jedoch nicht geeignet, die damit bezweckte Fremdunterbringung
zu erreichen. Das Amtsgericht ging selbst davon aus, „dass derzeit noch keine geeignete
Einrichtung zur Verfügung steht“. Durch den Sorgerechtsentzug sollte vielmehr gewährleistet
werden, „dass die für [das Kind] dringend erforderliche Hilfe zeitnah und zuverlässig umgesetzt
werden kann, sobald eine geeignete Einrichtung gefunden worden ist“. Dies genügt den
verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine Entziehung des Sorgerechts nicht.
41
Inwiefern ein solcher Sorgerechtsentzug „auf Vorrat“ dem verfassungsrechtlichen
Verhältnismäßigkeitsgebot überhaupt genügen kann, bedarf keiner abschließenden
Entscheidung. Grundsätzlich dürfte es Jugendamt und Familiengericht allerdings auch ohne
vorrätige Sorgerechtsentziehung möglich sein, in sehr kurzer Zeit gemeinsam eine
Sorgerechtsübertragung herbeizuführen, sobald sich eine Fremdunterbringungsmöglichkeit
realistisch abzeichnet. Jedenfalls ist ein Sorgerechtsentzug auf Vorrat dann nicht zu
rechtfertigen, wenn - wie hier - für das Familiengericht bereits deutlich erkennbar ist, dass die zur
Abwendung einer Kindeswohlgefährdung erforderliche Fremdunterbringung des Kindes in
näherer Zeit kaum möglich sein wird.
42
3. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen folgt aus § 34a Abs. 2
BVerfGG. Die Festsetzung des Gegenstandswertes beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung
mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).
Kirchhof
Eichberger
Britz