Urteil des BVerfG vom 10.10.2013

BVerfG: venire contra factum proprium, eintritt des versicherungsfalls, rechtliches gehör, verfassungsbeschwerde, widerrufsrecht, versicherungsnehmer, verwirkung, versicherungsschutz, prämie

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 1848/13 -
Bundesadler
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn C…,
- Bevollmächtigter:
Rechtsanwalt Roland Wasmund,
Haselnussweg 21, 50767 Köln -
gegen
a)
den Beschluss des Amtsgerichts Köln vom 3. Juni 2013 - 118 C
132/13 -,
b)
das Urteil des Amtsgerichts Köln vom 14. Mai 2013 - 118 C 132/13 -
hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richter Gaier,
Schluckebier,
Paulus
am 10. Oktober 2013 einstimmig beschlossen:
1. Das Urteil des Amtsgerichts Köln vom 14. Mai 2013 - 118 C 132/13 - verletzt den
Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes. Das
Urteil wird aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht Köln zurückverwiesen. Damit
wird der Beschluss des Amtsgerichts Köln vom 3. Juni 2013 - 118 C 132/13 -
gegenstandslos.
2. Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen
zu erstatten.
3. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit für das
Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 8.000 € (in Worten: achttausend Euro)
festgesetzt.
Gründe:
I.
1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft ein Verfahren aus dem Versicherungsvertragsrecht.
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1. a) Der Beschwerdeführer schloss im Jahr 2011 bei der Beklagten des Ausgangsverfahrens,
vermittelt durch den Repräsentanten R., einen Rentenversicherungsvertrag ab. Die beklagte
Versicherungsgesellschaft zog in der Folgezeit von Juli 2011 bis Juni 2012 vertragsgemäß
50 €/mtl., mithin insgesamt 600 €, als Prämie vom Konto des Beschwerdeführers ein. Mit
Schreiben vom 22. Mai 2012 beantragte der Beschwerdeführer bei der Beklagten, den Vertrag
bis zum 1. November 2012 auszusetzen, ihn danach jedoch fortzusetzen. Durch weiteres
Schreiben vom 25. September 2012 erklärte der Beschwerdeführer den Widerruf des
Versicherungsvertrages und begehrte vergeblich von der Beklagten die Rückzahlung der
geleisteten Versicherungsbeiträge. Die Beklagte betrachtete den Widerruf als Kündigung des
Vertrages und errechnete einen dem Beschwerdeführer zustehenden Rückkaufswert in Höhe
von 61,13 €. Zwischen den Parteien blieb streitig, ob der Beschwerdeführer durch den
Repräsentanten R. die nach § 8 Abs. 2 VVG für den Beginn der Widerrufsfrist erforderlichen
Unterlagen erhalten hatte.
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b) Der Beschwerdeführer erhob deshalb Klage auf Auszahlung der von ihm geleisteten
Versicherungsbeiträge, welche das Amtsgericht im vereinfachten Verfahren gemäß § 495a ZPO
abwies. Zur Begründung führte es aus, es könne dahinstehen, ob der Beschwerdeführer die
nach § 8 Abs. 2 VVG erforderlichen Unterlagen erhalten habe und damit die Widerrufsfrist in Lauf
gesetzt worden sei. Jedenfalls habe der Beschwerdeführer den Vertrag durch sein Schreiben
vom 22. Mai 2012, in dem er um eine Aussetzung des Vertrages bis zum 1. November 2012 und
anschließende Fortsetzung des Vertrages gebeten habe, im Sinne von § 8 Abs. 3 Satz 2 VVG
bestätigt.
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c) Die Anhörungsrüge des Beschwerdeführers wies das Amtsgericht zurück.
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2. Mit der Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen das Urteil und den
seine Anhörungsrüge zurückweisenden Beschluss des Amtsgerichts. Er rügt einen Verstoß
gegen das Gebot effektiven Rechtsschutzes aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit dem
Rechtsstaatsprinzip, gegen das Willkürverbot des Art. 3 Abs. 1 GG sowie die Verletzung seines
Rechtsstaatsprinzip, gegen das Willkürverbot des Art. 3 Abs. 1 GG sowie die Verletzung seines
Anspruchs auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG.
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3. Zu der Verfassungsbeschwerde hat die Beklagte des Ausgangsverfahrens Stellung
genommen und die angegriffenen Entscheidungen verteidigt. Sie vertritt die Auffassung, § 8 Abs.
3 Satz 2 VVG sei auch Ausdruck des venire contra factum proprium und insoweit vom Sinngehalt
durchaus auf den Sachverhalt anwendbar. Das Justizministerium des Landes Nordrhein-
Westfalen hatte Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Akte des Ausgangsverfahrens liegt der
Kammer vor.
II.
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Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt.
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1. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts des
Beschwerdeführers aus Art. 3 Abs. 1 GG angezeigt. Die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz
1 BVerfGG für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor. Die für die Beurteilung
maßgeblichen Fragen sind durch das Bundesverfassungsgericht bereits geklärt (vgl. BVerfGE
80, 48 <51>; 81, 132 <137>). Die Verfassungsbeschwerde ist zudem offensichtlich begründet.
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2. Ein Richterspruch verstößt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
dann gegen den allgemeinen Gleichheitssatz in seiner Ausprägung als Verbot objektiver Willkür
(Art. 3 Abs. 1 GG), wenn er unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar ist und sich daher
der Schluss aufdrängt, dass er auf sachfremden Erwägungen beruht. Das ist anhand objektiver
Kriterien festzustellen. Schuldhaftes Handeln des Richters ist nicht erforderlich. Fehlerhafte
Rechtsanwendung allein macht eine Gerichtsentscheidung nicht objektiv willkürlich.
Schlechterdings unhaltbar ist eine fachgerichtliche Entscheidung vielmehr erst dann, wenn eine
offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt, der Inhalt einer Norm in krasser Weise
missverstanden oder sonst in nicht mehr nachvollziehbarer Weise angewendet wird (vgl.
BVerfGE 89, 1 <13 f.>; 96, 189 <203>).
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Nach diesem Maßstab steht die Abweisung der Klage im angegriffenen Urteil des Amtsgerichts
mit Art. 3 Abs. 1 GG nicht im Einklang; die entsprechende Anwendung des § 8 Abs. 3 Satz 2
VVG durch das Amtsgericht ist unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt vertretbar.
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a) Gemäß § 8 Abs. 3 Satz 2 VVG erlischt das Widerrufsrecht des Versicherungsnehmers, wenn
der Vertrag von beiden Seiten auf ausdrücklichen Wunsch des Versicherungsnehmers
vollständig erfüllt ist, bevor der Versicherungsnehmer sein Widerrufsrecht ausgeübt hat. Keine
dieser Voraussetzungen ist bei dem zwischen den Parteien des Ausgangsverfahrens
geschlossenen Rentenversicherungsvertrag gegeben. Die vollständige Erfüllung des Vertrages
durch beide Vertragsparteien setzt mindestens voraus, dass der Versicherungsnehmer die
Prämie vollständig gezahlt hat und durch den Versicherer kein Versicherungsschutz mehr zu
gewähren ist (vgl. Prölss, in: Prölss/Martin, VVG, 28. Aufl. 2010, § 8 Rn. 44; Rixecker, in:
Römer/Langheid, VVG, 3. Aufl. 2012, § 8 Rn. 16; Schimikowski, in:
Rüffer/Halbach/Schimikowski, VVG, 2. Aufl. 2011, § 8 Rn. 28; Knops, in: Bruck/Möller, VVG, 9.
Aufl. 2008, § 8 Rn. 57). An beidem fehlt es: Der Rentenversicherungsvertrag des
Beschwerdeführers lief über den September 2012 - den Zeitpunkt des Widerrufs - hinaus. Der
Beschwerdeführer hatte somit weitere Prämien zu entrichten und die Beklagte weiter
Versicherungsschutz bis zum Eintritt des Versicherungsfalls zu gewähren.
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b) Das Amtsgericht konnte es deshalb nicht dahinstehen lassen, ob dem Beschwerdeführer die
nach § 8 Abs. 2 VVG für den Beginn der Widerrufsfrist erforderlichen Unterlagen zugegangen
waren. Der Beschwerdeführer hatte die entsprechende Behauptung der Beklagten wirksam
bestritten. Solange es an diesem gemäß § 8 Abs. 2 Satz 2 VVG von der Beklagten zu führenden
Beweis fehlt, besteht grundsätzlich ein „ewiges Widerrufsrecht“ des Beschwerdeführers als
Versicherungsnehmer (vgl. Prölss, in: Prölss/Martin, VVG, 28. Aufl. 2010, § 8 Rn. 7 ff.; Rixecker,
in: Römer/Langheid, VVG, 3. Aufl. 2012, § 8 Rn. 5; Schimikowski, in:
Rüffer/Halbach/Schimikowski, VVG, 2. Aufl. 2011, § 8 Rn. 12; Knops, in: Bruck/Möller, VVG, 9.
Aufl. 2008, § 8 Rn. 43, 45). Eine zeitliche Höchstgrenze ist in § 8 Abs. 2 VVG - anders als noch in
der Vorgängerregelung des §?5 a Abs.? 2 Satz?4 VVG a.F. - nicht vorgesehen. Auch die
Voraussetzungen einer Verwirkung des Widerrufsrechts lagen hier ersichtlich nicht vor (vgl. dazu
Knops, in: Bruck/Möller, VVG, 9. Aufl. 2008, § 8 Rn. 45; Schimikowski, in: Rüffer/
Halbach/Schimikowski, VVG, 2. Aufl. 2011, § 8 Rn. 12). Angesichts der kurzen verstrichenen
Vertragslaufzeit von nur einem Jahr fehlte es bereits am erforderlichen Zeitmoment für eine
Verwirkung des Widerrufrechts, so dass es auf das Schreiben des Beschwerdeführers vom 22.
Mai 2012, in welchem das Amtsgericht eine Bestätigung des Vertrages im Sinne von § 8 Abs. 3
Satz 2 VVG erblickt hat, als mögliches Umstandsmoment einer Verwirkung nicht mehr
ankommen konnte.
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c) Aus den vorstehenden Gründen erweist sich die entsprechende Anwendung des § 8 Abs. 3
Satz 2 VVG durch das Amtsgericht als schlechterdings unvertretbar. Sie ist unter keinem
rechtlichen Gesichtspunkt tragfähig. Es drängt sich der Eindruck einer an sachfremden
Erwägungen orientierten Entscheidung des Amtsgerichts auf, um auf diesem Weg eine
Beweisaufnahme über die streitige Behauptung der Beklagten zu vermeiden, dem
Beschwerdeführer sei die nach § 8 Abs. 2 VVG für den Beginn des Laufs der Widerrufsfrist
erforderlichen Unterlagen ausgehändigt worden, und die Sache ohne Verhandlungstermin im
schriftlichen Verfahren nach § 495a ZPO entscheiden zu können.
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3. Danach kann offenbleiben, ob bezüglich der vom Beschwerdeführer als verletzt gerügten
Rechte aus Art. 103 Abs. 1 GG (Überraschungsentscheidung) und aus Art. 2 Abs. 1 in
Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Gebot effektiven Rechtsschutzes) die
Annahmevoraussetzungen vorliegen.
III.
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1. Das Urteil beruht auf dieser objektiv unhaltbaren Begründung. Es ist gemäß § 93c Abs. 2 in
Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben und die Sache an das Amtsgericht Köln
zurückzuverweisen. Der Beschluss über die Anhörungsrüge wird damit gegenstandslos.
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2. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG; die
Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 37 Abs. 2 Satz 2 RVG in Verbindung mit § 14
Abs. 1 RVG und den Grundsätzen für die Festsetzung des Gegenstandswerts im
verfassungsgerichtlichen Verfahren (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).
Gaier
Schluckebier
Paulus