Urteil des BVerfG vom 23.01.2014

BVerfG: verfassungskonforme auslegung, verfassungsbeschwerde, unterbringung, sicherungsverwahrung, gefahr, gewalt, verfügung, vollzug, verbraucherschutz, fortdauer

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 923/12 -
Bundesadler
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn M…,
- Bevollmächtigter:
Rechtsanwalt Hans-Christoph Schwarz,
Industriestraße 12, 95466 Weidenberg -
gegen
a)
den Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 28. März 2012
- 15 W 480/12 Th -,
b)
den Beschluss des Landgerichts Regensburg vom 27. Januar 2012 -
7 AR 29/11 ThUG -
hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richterin Lübbe-Wolff,
den Richter Landau
und die Richterin Kessal-Wulf
am 23. Januar 2014 einstimmig beschlossen:
1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 28. März 2012 - 15 W 480/12 Th -
und der Beschluss des Landgerichts Regensburg vom 27. Januar 2012 - 7 AR 29/11 ThUG
- verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in
Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes.
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg wird aufgehoben. Die Sache wird zur
erneuten Entscheidung über die Kosten und die notwendigen Auslagen des
Beschwerdeführers an das Oberlandesgericht Nürnberg zurückverwiesen.
2. Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
3. Der Wert der anwaltlichen Tätigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf
40.000,00 € (in Worten: vierzigtausend Euro) festgesetzt.
Gründe:
1
Der Beschwerdeführer wendet sich gegen seine Unterbringung nach dem
Therapieunterbringungsgesetz (ThUG).
I.
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1. Das Landgericht Aschaffenburg verurteilte den mehrfach wegen vorsätzlicher Sexualdelikte
vorbestraften Beschwerdeführer im Jahr 1992 unter anderem wegen sexueller Nötigung in drei
Fällen, davon in zwei Fällen in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung, zu einer
Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und ordnete die Sicherungsverwahrung an, die ab dem 28.
Mai 1996 - zuletzt in der Justizvollzugsanstalt Straubing - vollzogen wurde. Mit Beschluss der
auswärtigen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Regensburg mit Sitz in Straubing vom
27. Oktober 2011 wurde die Unterbringung des Beschwerdeführers in der
Sicherungsverwahrung über die Zehnjahresfrist hinaus für erledigt erklärt. Die hiergegen
gerichtete sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft verwarf das Oberlandesgericht
Nürnberg mit Beschluss vom 15. Dezember 2011.
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Im Verfahren nach dem Therapieunterbringungsgesetz ordnete das Landgericht Regensburg mit
Beschluss vom 10. November 2011 die vorläufige Unterbringung des Beschwerdeführers nach
§ 14 Abs. 1 ThUG an. Die hiergegen gerichtete Beschwerde wies das Oberlandesgericht
Nürnberg mit Beschluss vom 21. Dezember 2011 zurück.
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Mit Beschluss vom 27. Januar 2012 erfolgte durch das Landgericht Regensburg die
Unterbringungsanordnung in der Hauptsache bis zum 14. Juni 2013. Das Oberlandesgericht
Nürnberg wies die Beschwerde des Beschwerdeführers mit Beschluss vom 28. März 2012
zurück. Zur Begründung nahm das Oberlandesgericht im Wesentlichen Bezug auf die
zutreffenden Ausführungen des Landgerichts, das seinerseits in Anlehnung an die
Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Nürnberg hinsichtlich des erforderlichen
Gefährlichkeitsmaßstabes ausgeführt hatte, dass der strenge Maßstab, der bei einer
Weiterführung einer über zehn Jahre hinausgehenden Sicherungsverwahrung anzulegen sei
und eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten verlange, nicht auf den
Tatbestand des § 1 ThUG zu übertragen sei.
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2. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer eine
Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG. Inhaltlich wendet er
sich gegen das von den Fachgerichten festgestellte Vorliegen einer psychischen Störung, die
unter Berücksichtigung der Vorgaben aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe e EMRK nicht gegeben
sei. Darüber hinaus habe mit der Führungsaufsicht ein milderes Mittel zur Verfügung gestanden,
so dass die Therapieunterbringung nicht erforderlich gewesen sei. Schließlich genüge der
Vollzug der Unterbringung nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen.
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3. Das Verfahren wurde dem Bayerischen Staatsministerium der Justiz und für
Verbraucherschutz mit der Gelegenheit zur Stellungnahme zugestellt. Das Ministerium hat von
einer Stellungnahme abgesehen.
II.
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1. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die
Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung nach § 93c Abs. 1 Satz 1 in
Verbindung mit § 93a Abs. 2 BVerfGG sind erfüllt. Das Bundesverfassungsgericht hat die für die
Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen -
insbesondere die Frage der Anforderungen an eine verfassungskonforme Auslegung von § 1
Abs. 1 Nr. 1 ThUG (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 11. Juli 2013 - 2 BvR
2302/11 u.a. -, juris, Rn. 69 ff.) - bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG), und die
Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts des
Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG angezeigt
(§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich
begründet (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
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a) Der Zulässigkeit steht nicht entgegen, dass die Beschlüsse nicht mehr die Grundlage für eine
aktuelle Unterbringung bilden. Der Beschwerdeführer hat ein fortbestehendes schutzwürdiges
Interesse an einer nachträglichen verfassungsrechtlichen Überprüfung, weil die
Therapieunterbringung aufgrund der angegriffenen Beschlüsse in der Zeit vom 27. Januar 2012
bis zum 14. Juni 2013 einen tiefgreifenden Eingriff in sein Freiheitsgrundrecht darstellte (vgl.
dazu BVerfGE 9, 89 <92 ff.>; 32, 87 <92>; 53, 152 <157 f.>; 104, 220 <234>; BVerfG, Beschluss
der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 31. Oktober 2005 - 2 BvR 2233/04 -, juris, Rn. 20 ff.).
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b) Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. In den angegriffenen Beschlüssen über die
Anordnung der Therapieunterbringung ist ein unzutreffender Maßstab zugrunde gelegt und der
Beschwerdeführer dadurch in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung
mit Art. 20 Abs. 3 GG verletzt.
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Mit Beschluss vom 11. Juli 2013 hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass § 1 Abs. 1
des Therapieunterbringungsgesetzes in der Fassung des Gesetzes zur Neuordnung des Rechts
der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen vom 22. Dezember 2010 (BGBl I
S. 2300) mit dem Grundgesetz mit der Maßgabe vereinbar ist, dass die Unterbringung oder
deren Fortdauer nur angeordnet werden darf, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt-
oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des
Untergebrachten abzuleiten ist (BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 11. Juli 2013 - 2
BvR 2302/11 u.a. -, juris, Rn. 69 ff.).
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Die mit der Verfassungsbeschwerde angefochtenen fachgerichtlichen Beschlüsse sind mit
diesen Vorgaben für die Anwendung des Therapieunterbringungsgesetzes nicht zu vereinbaren.
Sowohl das Landgericht als auch das Oberlandesgericht übertragen den strengen
Verhältnismäßigkeitsmaßstab der hochgradigen Gefahr schwerster Gewalt- oder
Sexualstraftaten, wie ihn das Bundesverfassungsgericht für die Vertrauensschutzbelange
betreffende Sicherungsverwahrung verlangt (vgl. BVerfGE 128, 326 <399>) und wie er in
gleicher Weise für die Therapieunterbringung Geltung beansprucht (vgl. BVerfG, Beschluss des
Zweiten Senats vom 11. Juli 2013 - 2 BvR 2302/11 u.a. -, juris, Rn. 69 ff.), nicht auf den
Tatbestand des § 1 Abs. 1 ThUG. Daher genügen die Beschlüsse den Anforderungen an eine
verfassungskonforme Auslegung und Anwendung des § 1 Abs. 1 ThUG nicht und verletzen den
Beschwerdeführer in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit
Art. 20 Abs. 3 GG.
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Dabei kommt es für die Feststellung der Grundrechtsverletzung allein auf die objektive
Verfassungswidrigkeit der angefochtenen fachgerichtlichen Entscheidungen im Zeitpunkt der
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts an; unerheblich ist hingegen, ob die
Grundrechtsverletzung den Fachgerichten vorwerfbar ist (vgl. BVerfGE 128, 326 <407 f.>).
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c) Da die Verfassungsbeschwerde schon wegen der Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in
Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG begründet ist, bedarf es keiner Entscheidung, ob darüber
hinaus weitere Grundrechte verletzt sind.
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2. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 28. März 2012 ist daher aufzuheben.
Die Sache ist zur Entscheidung über die Kosten und die notwendigen Auslagen des
Beschwerdeführers (vgl. BVerfGE 128, 326 <407>) an das Oberlandesgericht Nürnberg
zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).
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3. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen folgt aus § 34a Abs. 2
BVerfGG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung
mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).
Lübbe-Wolff
Landau
Kessal-Wulf