Urteil des BVerfG vom 08.08.2007

dringender tatverdacht, untersuchungshaft, verfassungsbeschwerde, koch

- Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Matthias B. Koch,
in Sozietät Behrendt, Koch, Rosse,
Obernstraße 76, 28195 Bremen -
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BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 1609/07 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn W...,
gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Celle vom 27. Juni 2007 - 1 Ws
259/07 -
und
Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die
Richter
Broß,
Mellinghoff
und Landau
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung
vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473 ) am 8. August 2007 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe:
Soweit der Beschwerdeführer rügt, dass weder ein dringender Tatverdacht noch
eine Fluchtgefahr vorliege, ist darauf hinzuweisen, dass die tatsächliche Würdigung
d e s Sachverhalts durch die Fachgerichte vom Bundesverfassungsgericht
grundsätzlich nicht auf ihre Richtigkeit nachgeprüft wird (vgl. BVerfGE 15, 245 <247>;
18, 85 <92>; 20, 144 <150> ). Verfassungsverstöße - Verkennen von Bedeutung und
Tragweite des Freiheitsgrundrechts (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) oder gar Willkür (Art. 3
Abs. 1 GG) - lassen die Feststellungen des Oberlandesgerichts zu diesen Punkten
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nicht erkennen.
Die Rüge der Verletzung des in Haftsachen geltenden Beschleunigungsgebots ist
nicht hinreichend substantiiert. Bei der Geltendmachung der Verletzung des
Beschleunigungsgebots hat der Beschwerdeführer im Einzelnen die nach dem
jeweiligen Verfahrensstand gebotene Maßnahme und die damit mutmaßlich zu
erzielende Beschleunigung des Verfahrens darzulegen, sofern sich dies nicht aus
den sonstigen Umständen des Falles erschließt. Hier fehlt es an einer hinreichenden
inhaltlichen
Auseinandersetzung
mit
der Begründung des angegriffenen
Beschlusses. So fehlt es etwa an der konkreten Darlegung, dass das Verfahren bei
einem früheren Ergreifen gerichtsorganisatorischer Maßnahmen hätte beschleunigt
werden können. Weder werden der Zeitpunkt, zu dem das Präsidium bereits hätte
tätig werden müssen, auch nur ansatzweise umrissen, noch die zu ergreifenden
Maßnahmen und die hieraus herzuleitenden Beschleunigungseffekte.
Im Hinblick auf den Fortgang des Verfahrens ist allerdings darauf hinzuweisen, dass
die Gerichte in einem besonderen Maße zu prüfen haben werden, ob die vom
Präsidium des Landgerichts Hannover beschlossenen Maßnahmen zu einer
nachhaltigen Entlastung der zuständigen Strafkammer dergestalt führen, dass sie in
nächster Zeit in der Lage ist, das Verfahren angemessen zu fördern. Die mit der
Verfassungsbeschwerde vorgetragene Bestimmung von Fortsetzungsterminen in
dem Zeitraum von Juli bis November 2007 lässt dies noch nicht erkennen. Über einen
Zeitraum von fünf Monaten hinweg werden dort lediglich zehn Termine festgelegt.
Dies ist im Hinblick auf die nunmehr schon 17 Monate andauernde
Untersuchungshaft nicht zu rechtfertigen, zumal sich nach der ständigen
Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts
das
Gewicht
des
Freiheitsanspruchs mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft gegenüber dem
Strafverfolgungsinteresse des Staates verstärkt (vgl. BVerfGE 19, 342 <347 f.>; 36,
264 <270>; 53, 152 <158 f.> ; vgl. zudem EGMR, Urteil vom 5. Juli 2001 - 38321/97 -,
EuGRZ 2001, S. 391 <395 Rn. 47>). Die Anforderungen an eine zügige Bearbeitung
steigen somit mit der Länge der Untersuchungshaft an.
Sofern das Landgericht daher an seiner Terminsplanung ohne triftige Gründe - die
Belastung mit anderen Haftsachen über einen langen Zeitraum ist angesichts der
wertsetzenden Bedeutung des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG selbst dann kein wichtiger, den
weiteren Haftvollzug rechtfertigender Grund, wenn sie auf einem Geschäftsanfall
beruht, der sich trotz Ausschöpfung aller gerichtsorganisatorischer Mittel und
Möglichkeiten nicht mehr innerhalb angemessener Frist bewältigen lässt (vgl.
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BVerfGE 36, 264 <273 f.> ) - festhält, kann die Fortdauer der Untersuchungshaft nicht
mehr aufrechterhalten werden. Es ist anerkannt, dass auch erst noch bevorstehende,
aber schon jetzt eindeutig absehbare Verfahrensverzögerungen nicht anders zu
behandeln sind als bereits eingetretene (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des
Zweiten Senats vom 29. November 2005 - 2 BvR 1737/05 -, StV 2006, S. 87 <90>;
vgl. auch OLG Düsseldorf, Beschluss vom 21. September 1987 - 3 Ws 437/87 -, StV
1988, S. 390 f.; HansOLG Hamburg, Beschluss vom 5. Juli 1984 - 2 Ws 325/84 -, StV
1985, S. 66; OLG Saarbrücken, Beschluss vom 30. September 1974 - Ws 307/74 -,
NJW 1975, S. 941 f.; LG Hamburg, Beschluss vom 4. September 1984 - (98) 12/84
KLs -, StV 1985, S. 20 <21>; LG Frankfurt am Main, Beschluss vom 24. April 1989
– 5/27 Qs 34/88 – 90 Js 31063/86 – 933 Ls 266 -, StV 1989, S. 486 <487>).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Broß
Mellinghoff
Landau