Urteil des BVerfG vom 23.10.2013

verfassungsbeschwerde, glaubhaftmachung, vorführung, grundrecht

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BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 1541/13 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn E...
gegen a) den Beschluss des Oberlandesgerichts Rostock vom 17. Juni 2013 -
Vollz (Ws) 3/13 -,
b) den Beschluss des Oberlandesgerichts Rostock vom 27. März 2013 -
Vollz (Ws) 3/13 -,
c) den Beschluss des Landgerichts Rostock vom 31. Januar 2013 - 13
StVK 876/12 (273) -
hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richterin Lübbe-Wolff,
den Richter Landau
und die Richterin Kessal-Wulf
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung
vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473 ) am 23. Oktober 2013 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe:
Unabhängig von Bedenken gegen die Gründe der angegriffenen Beschlüsse des
Oberlandesgerichts ist die Verfassungsbeschwerde, der keine grundsätzliche
Bedeutung zukommt, nicht zur Entscheidung anzunehmen. Dem Beschwerdeführer
entsteht durch die Nichtannahme kein schwerer Nachteil im Sinne des § 93a Abs. 2
BVerfGG, weil absehbar ist, dass er auch im Fall einer stattgebenden Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichts mit seinem Rechtsschutzanliegen letztlich im
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fachgerichtlichen Verfahren keinen Erfolg haben könnte (vgl. BVerfGE 90, 22 <25 f.>
).
1. a) Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG garantiert den effektiven Zugang zum Gericht. Das
Grundrecht gewährt einen Anspruch auf eine möglichst wirksame gerichtliche
Kontrolle in allen von der jeweiligen Prozessordnung zur Verfügung gestellten
Instanzen (vgl. BVerfGE 41, 23 <26>; 49, 329 <341>; 77, 275 <284> ). Im Hinblick auf
die Gewährleistung des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG dürfen die Anforderungen an die
Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei der Auslegung
u n d Anwendung der maßgeblichen Vorschriften nicht überspannt werden (vgl.
BVerfGE 40, 88 <91>; 67, 208 <212 f.>; 69, 381 <385>; 110, 339 <342> ; stRspr).
Jedenfalls in den Fällen, in denen der Wiedereinsetzungsgrund in einem der Justiz
zuzurechnenden Fehler liegt, fordert der Grundsatz fairer Verhandlungsführung eine
Belehrung des Betroffenen über die Möglichkeit der Wiedereinsetzung; erst diese
Belehrung setzt die Wiedereinsetzungsfrist in Lauf (vgl. BVerfGK 8, 303 <304 ff.>;
BVerfG, Beschlüsse der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 27. September 2005 - 2
BvR 172/04, 2 BvR 834/04 und 2 BvR 907/04 - , NJW 2005, S. 3629 f., und vom 21.
März 2005 - 2 BvR 975/03 -, NStZ-RR 2005, S. 238 <239>; Beschlüsse der 3.
Kammer des Zweiten Senats vom 11. November 2001 - 2 BvR 1471/01 -, Rpfleger
2002, S. 279, vom 29. Februar 2012 - 2 BvR 2911/10 -, juris, und vom 10. Oktober
2012 - 2 BvR 1095/12 -, juris).
b) aa) Ob der Beschluss vom 27. März 2013, mit dem das Oberlandesgericht den
ersten
Wiedereinsetzungsantrag des Beschwerdeführers abgelehnt und
infolgedessen die Rechtsbeschwerde wegen Verfristung als unzulässig verworfen
hat, diesen Maßstäben genügt, erscheint zweifelhaft.
Insbesondere mit der Anforderung, der Beschwerdeführer hätte darlegen müssen,
dass er schon mit seinem an die Justizvollzugsanstalt gerichteten Vorführersuchen
auf die Formbedürftigkeit der beabsichtigten Rechtsbeschwerde und die
einzuhaltende Rechtsmittelfrist hingewiesen und ob und was er gegebenenfalls
nachfolgend unternommen habe, um vor dem drohenden Fristablauf doch noch eine
Vorführung zu erreichen, dürften die Anforderungen an die Glaubhaftmachung der zur
Begründung eines Wiedereinsetzungsantrages angeführten Tatsachen überspannt
sein. Die Formbedürftigkeit und Fristgebundenheit einer Rechtsbeschwerde ist in
jeder Justizvollzugsanstalt bekannt.
Unabhängig
von
der
Frage,
ob
der Wiedereinsetzungsantrag des
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Beschwerdeführers aus anderen vom Gericht genannten Gründen für unzulässig
erachtet werden konnte, hat das Gericht zudem jedenfalls unberücksichtigt gelassen,
dass es Aufgabe der Rechtspflegerin gewesen wäre, den Beschwerdeführer auf die
Anforderungen an einen zulässigen Wiedereinsetzungsantrag hinzuweisen. Das
Formerfordernis des § 118 Abs. 3 StVollzG soll zwar einerseits der Entlastung der
Gerichte dienen. Daneben soll es aber auch zugunsten des regelmäßig unkundigen
Rechtsmittelführers dazu beitragen, dass sein Rechtsmittel nicht von vornherein an
Formfehlern oder anderen Mängeln scheitert (vgl. BVerfGK 8, 303 <305>; BVerfG,
Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 10. Oktober 2010 - 2 BvR 1095/12
-, juris; zu § 345 Abs. 2 StPO siehe BVerfGE 64, 135 <153> ; BVerfG, Beschluss der
3. Kammer des Zweiten Senats vom 11. November 2001 - 2 BvR 1471/01 -, Rpfleger
2002, S. 279; BGHSt 25, 272 <273>). Die danach bestehende Beratungsaufgabe des
Rechtspflegers erstreckt sich auch auf die Anforderungen an die Zulässigkeit eines
Antrages des Gefangenen auf Wiedereinsetzung in die Rechtsbeschwerdefrist. Das
gilt insbesondere, wenn geltend gemacht wird, dass die Frist trotz rechtzeitigen
Vorführungsantrages deshalb nicht eingehalten werden konnte, weil die Anstalt die
Vorführung
nicht rechtzeitig veranlasst oder der Rechtspfleger einen
Protokollierungstermin nicht rechtzeitig eingeräumt hat. Dass sich hieraus für den
vorliegenden Fall die Notwendigkeit ergeben könnte, den Beschwerdeführer
zumindest darüber zu belehren, dass und wie er Wiedereinsetzung in die Frist für
einen Wiedereinsetzungsantrag erlangen kann, hat das Oberlandesgericht nicht
erwogen.
bb) Fraglich ist auch, ob das Oberlandesgericht in seinem Beschluss vom 17. Juni
2013 mit der Auslegung des Antrags des Beschwerdeführers als Anhörungsrüge dem
verfassungsrechtlichen Gebot zweckentsprechender Auslegung von Anträgen (vgl.
BVerfGE 122, 190 <198> ; BVerfGK 7, 403 <408>; 18, 152 <157>) entsprochen hat,
dem bei der Auslegung von Anträgen nicht anwaltlich vertretener Gefangener
angesichts deren besonderer Schwierigkeiten im Umgang mit den Kompliziertheiten
der Rechtsordnung (vgl. BVerfGK 10, 509 <516>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer
des Zweiten Senats vom 19. Dezember 2012 - 2 BvR 166/11 -, NStZ-RR 2013, S.
120) besondere Bedeutung zukommt. Der Beschwerdeführer selbst hat zwar von
einer „Nachholung des rechtlichen Gehörs der Rechtsbeschwerde“ als Ziel seines
Wiedereinsetzungsantrages gesprochen. Für die Erhebung einer Anhörungsrüge
nach den vom Oberlandesgericht angeführten Vorschriften der §§ 120 Abs. 1
StVollzG, 33a StPO war allerdings, da dieser Rechtsbehelf nicht fristgebunden ist, ein
Wiedereinsetzungsantrag offenkundig überflüssig. Dem Beschwerdeführer ging es
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ersichtlich darum, mittels des Wiedereinsetzungsantrages seine Rechtsbeschwerde
doch noch einer - in der ersten Verfahrensrunde wegen nicht gewährter
Wiedereinsetzung an der Versäumung der Rechtsbeschwerdefrist gescheiterten -
Prüfung in der Sache zuzuführen.
Im Zusammenhang mit der weiteren Annahme, einen Wiedereinsetzungsantrag
könne der Beschwerdeführer nicht mehr stellen, weil er Gründe für die behauptete
Unmöglichkeit näherer Glaubhaftmachung seines fehlenden Verschuldens bereits mit
seinem (ersten) Wiedereinsetzungsgesuch hätte vortragen müssen, hat das
Oberlandesgericht nicht geprüft, ob die Frist für einen Antrag auf Wiedereinsetzung in
eine etwa versäumte Frist für den ersten Wiedereinsetzungsantrag beziehungsweise
für dessen ausreichende Begründung nach den obigen Maßstäben (s. unter 1.a))
überhaupt zu laufen begonnen hatte.
2. Ob die Beschlüsse des Oberlandesgerichts danach das Grundrecht des
Beschwerdeführers aus Art. 19 Abs. 4 GG verletzen, kann dahinstehen. Die Annahme
der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung ist nicht angezeigt, weil absehbar ist,
dass der Beschwerdeführer sein Rechtsschutzziel im fachgerichtlichen Verfahren
letztlich nicht erreichen kann (vgl. BVerfGE 90, 22 <25 f.>). Es liegt auf der Hand,
dass der von ihm unter Gewaltanwendung gegen einen Vollzugsbediensteten
unternommene
Fluchtversuch
seine Ablösung von der Arbeit in einer
Vertrauensstellung wie der von ihm innegehabten nicht nur rechtfertigte, sondern aus
Sicherheitsgründen notwendig machte.
3. Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG
abgesehen.
Lübbe-Wolff
Landau
Kessal-Wulf