Urteil des BVerfG vom 30.03.2012

ausschluss der öffentlichkeit, verfassungsbeschwerde, strafverfahren, erlass

- Bevollmächtigte: Rechtsanwälte Redeker, Sellner, Dahs,
Mozartstraße 4-10, 53115 Bonn
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 711/12 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
der T. …,
gegen a) den Beschluss des Landgerichts Hamburg vom 9. März 2012 - 606 KLs
25/11 - 3190 Js 27/11 -,
b) den Beschluss des Landgerichts Hamburg vom 24. Februar 2012 - 606
KLs 25/11 - 3190 Js 27/11 -,
hier:
Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richter Eichberger,
Schluckebier,
Masing
gemäß § 32 Abs. 1 in Verbindung mit § 93d Abs. 2 BVerfGG in der Fassung der
Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473 ) am 30. März 2012
einstimmig beschlossen:
Die Beschlüsse des Landgerichts Hamburg vom 9. März 2012 - 606 KLs 25/11 - 3190
Js 27/11 - und vom 24. Februar 2012 - 606 KLs 25/11 - 3190 Js 27/11 - werden
einstweilen in ihrer Wirksamkeit ausgesetzt.
Die Freie und Hansestadt Hamburg hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen
Auslagen im Verfahren über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu
erstatten.
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Gründe:
I.
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen zwei Beschlüsse der Großen
Strafkammer 6 des Landgerichts Hamburg vom 24. Februar 2012 und vom 9. März
2012,
durch die der Antrag der Beschwerdeführerin auf Zulassung von
Fernsehaufnahmen anlässlich eines Strafverfahrens an den Verhandlungstagen
außerhalb der Sitzungen, im Sitzungssaal und im Eingangsbereich, um die
Prozessbeteiligten abzulichten, abgelehnt wurde. Die Beschwerdeführerin rügt die
Verletzung ihres Grundrechts auf Rundfunkfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG und
der Rechtsschutzgewähr gemäß Art. 19 Abs. 4 in Verbindung mit Art. 5 Abs. 1 Satz 2
GG beziehungsweise des allgemeinen Justizgewähranspruchs gemäß Art. 20 Abs. 3
in Verbindung mit Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG.
1. In dem zugrundeliegenden Strafverfahren ist ein 30-jähriger Mann angeklagt, der
am 19. August 2011 mit einer Waffe und einer selbst gebauten Handgranate eine
israelische Studentin, die er über einen Arbeitskollegen kennengelernt hatte, aus
ihrem Studentenwohnheim entführte und sie in seine zu einer Art Gefängnis
umgebaute Wohnung verbrachte. Die Wohnung war mit Stacheldraht vor den
Fenstern und gesicherten Türen versehen. In einer Ecke stand eine schallisolierte
Telefonzelle. Dem Opfer gelang es, aus einem Fenster der Wohnung zu fliehen. Dem
Angeklagten werden versuchte Geiselnahme, Freiheitsberaubung und Verstöße
g e g e n das Waffen- und Kriegswaffenkontrollgesetz vorgeworfen. Seine
Schuldfähigkeit ist zweifelhaft, und in dem Strafverfahren wird über eine etwaige
Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63
StGB zu befinden sein. Laut Presseberichten hat er die Tat am zweiten
Verhandlungstag gestanden.
Die Beschwerdeführerin ist freie TV-Journalistin und betreibt als Inhaberin die Firma
T. …, die auch audiovisuelle Gerichtsberichterstattung anbietet. Sie berichtet über
das streitgegenständliche Strafverfahren und beabsichtigt, an den letzten beiden
Verhandlungstagen Fernsehaufnahmen aller Verfahrensbeteiligter, insbesondere des
Angeklagten und seiner Verteidigerin, anzufertigen und stellte bei Gericht einen
entsprechenden Antrag.
2. Mit angegriffenem Beschluss vom 24. Februar 2012 lehnte der Vorsitzende der
Großen Strafkammer 6 den Antrag ab. Er begründete dies damit, dass das
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Persönlichkeitsrecht des Angeklagten das Informationsinteresse der Öffentlichkeit
überwiege. Zu berücksichtigen seien die Unschuldsvermutung und die Tatsache,
dass für das Verfahren Feststellungen zur Schuldfähigkeit des Angeklagten
bestimmend seien, und dass über eine etwaige Unterbringung des Angeklagten in
einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB zu befinden sei, was das
eingeholte psychiatrische Gutachten nahelege. Bei dieser Prozesslage komme
gemäß § 171a GVG sogar der vollständige Ausschluss der Öffentlichkeit bis zur
Urteilsverkündung in Betracht. Das Verfahren sei auch nicht von zeitgeschichtlicher
Bedeutung, auch nicht für den regionalen Bereich Hamburgs. Den kranken
Angeklagten auch noch durch Bildberichterstattung - selbst in anonymisierter Form -
in die Öffentlichkeit zu bringen, befriedige bei der hier gegebenen Sachlage kein
nachvollziehbares, berechtigtes Informationsinteresse.
3. Den „Widerspruch“ der Beschwerdeführerin wies der Stellvertreter des
Vorsitzenden mit angegriffenem Beschluss vom 9. März 2012 im Wesentlichen unter
Bezugnahme auf den angefochtenen Beschluss zurück.
Die Öffentlichkeit wurde bislang nicht gemäß § 171a GVG ausgeschlossen.
4. Die Beschwerdeführerin rügt unter anderem die Verletzung ihres Grundrechts
auf Rundfunkfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG. Die Folgenabwägung
rechtfertige den Erlass der einstweiligen Anordnung.
II.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und im
Wesentlichen begründet.
1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen
Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr
schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen
wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe,
die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes vorgetragen
werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben. Der Antrag auf Eilrechtsschutz hat
jedoch keinen Erfolg, wenn eine Verfassungsbeschwerde von vornherein unzulässig
oder offensichtlich unbegründet wäre (vgl. BVerfGE 71, 158 <161>; 111, 147 <152 f.>;
stRspr). Bei offenem Ausgang muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die
eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die
Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die
entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der
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Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 71, 158
<161>; 96, 120 <128 f.>; stRspr).
2. Die Verfassungsbeschwerde ist weder von vornherein unzulässig noch
offensichtlich unbegründet. Anordnungen des Vorsitzenden nach § 176 GVG, mit
denen die Anfertigung von Bild- und Fernsehaufnahmen vom Geschehen im
Sitzungssaal am Rande der Hauptverhandlung untersagt oder Beschränkungen
unterworfen wird, stellen Eingriffe in den Schutzbereich der Rundfunkfreiheit aus
Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG dar (vgl. BVerfGE 91, 125 <134 f.>; 119, 309 <320 f.> ). Beim
Erlass solcher Anordnungen hat der Vorsitzende der Bedeutung der Rundfunkfreiheit
Rechnung zu tragen und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten (vgl.
BVerfGE 91, 125 <138 f.>; 119, 309 <321> ). Bei Anlegung dieses Maßstabes ist die
Verfassungsbeschwerde jedenfalls nicht offensichtlich unbegründet.
3. Die danach gebotene Folgenabwägung fällt zugunsten der Beschwerdeführerin
aus.
a) Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich aber die
Verfassungsbeschwerde als begründet, so könnte eine Fernsehbildberichterstattung
über das Strafverfahren nicht stattfinden.
Bei der Gewichtung der Nachteile ist in Bezug auf die Rundfunkfreiheit nicht nur die
Schwere der Tat, sondern auch die öffentliche Aufmerksamkeit zu berücksichtigen,
die
das
Strafverfahren
etwa
aufgrund besonderer
Umstände
und
Rahmenbedingungen gewonnen hat. Die öffentliche Aufmerksamkeit wird umso
stärker sein, je mehr sich die Straftat durch ihre besondere Begehungsweise oder die
Schwere ihrer Folgen von der gewöhnlichen Kriminalität abhebt (vgl. BVerfGE 35,
202 <230 f.>; 119, 309 <321 f.> ).
Die besonderen Umstände der hier in Rede stehenden Straftat - Entführung des
Opfers mit Waffengewalt sowie die vorgesehene Einkerkerung in einer zu einer Art
Gefängnis umgebauten Wohnung - begründen ein gewichtiges Informationsinteresse
der Öffentlichkeit an dem in Rede stehenden Strafverfahren.
Das Informationsinteresse der Öffentlichkeit ist aber regelmäßig nicht allein auf
diesen und die ihm zur Last gelegten Taten, sondern auch auf diejenigen Personen
gerichtet, die in dem der besonderen Aufmerksamkeit unterliegenden Fall als
Mitglieder des Spruchkörpers, als Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft oder als
zur Mitwirkung an der Verhandlung berufener Rechtsanwalt an der Rechtsfindung
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mitwirken (vgl. BVerfGE 119, 309 <322>).
Mit den angegriffenen Maßnahmen wird die Berichterstattung über das
Gerichtsverfahren in fernsehtypischer Weise durch aktuelle Film- und Tonaufnahmen
aus dem Gerichtssaal in Anwesenheit der Verfahrensbeteiligten am Rande der
mündlichen Verhandlung praktisch vollständig untersagt. Ohne solche Bewegtbilder
lässt sich unter den Bedingungen des Fernsehens in diesem Medium nur sehr
begrenzt über ein Ereignis überhaupt noch berichten. Ausgeschlossen wäre
hierdurch nicht nur eine näher individualisierende Ablichtung des Angeklagten,
sondern eine Aufnahme seiner Person überhaupt sowie auch eine bildliche
Dokumentation
des Erscheinens und der Anwesenheit aller anderen
Verfahrensbeteiligten im Sitzungssaal.
Hierin liegt ein schwerer Nachteil im Sinne des § 32 Abs. 1 BVerfGG.
b) Erginge die einstweilige Anordnung dagegen, erwiese sich die
Verfassungsbeschwerde aber später als unbegründet, wären Filmaufnahmen
vom Angeklagten im Umkreis des Strafverfahrens gefertigt und verbreitet worden, auf
die weder die Beschwerdeführerin noch die Öffentlichkeit Anspruch hatten. Der hierin
liegende Nachteil kann allerdings erhebliches Gewicht haben.
In Gerichtsverfahren gewinnt der Persönlichkeitsschutz der Verfahrensbeteiligten
eine über den allgemein in der Rechtsordnung anerkannten Schutzbedarf
hinausgehende Bedeutung. Dies gilt mit besonderer Intensität für den Schutz der
Angeklagten im Strafverfahren, die sich unfreiwillig der Verhandlung und damit der
Öffentlichkeit stellen müssen (vgl. BVerfGE 103, 44 <68>; 119, 309 <322 ff.> ; BVerfG,
Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 27. November 2008 - 1 BvQ 46/08 -
N J W 2009, S. 350 <351>). Einem Informationsinteresse der Öffentlichkeit an der
Person des Täters, welches sich auf die Schwere der Tat und ihre besonderen
Umstände stützt, kann entgegenstehen, dass der Angeklagte, für den die aus dem
Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) abgeleitete Unschuldsvermutung streitet, im
Falle einer Fernsehberichterstattung, die sein - insbesondere nicht anonymisiertes -
Bildnis
zeigt,
Gefahr
läuft,
eine
erhebliche Beeinträchtigung seines
Persönlichkeitsrechts zu erleiden, die im Einzelfall trotz späteren Freispruches
schwerwiegende und nachhaltige Folgen haben kann (vgl. BVerfG, Beschluss der 1.
Kammer des Ersten Senats vom 27. November 2008 - 1 BvQ 46/08 -, NJW 2009, S.
350 <352>). Dies gilt insbesondere, wenn sich im Laufe des Verfahrens herausstellt,
dass der Angeklagte schuldunfähig und in einem psychiatrischen Krankenhaus
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unterzubringen ist.
Die nach der Begründung der angegriffenen Entscheidung zu erwartenden
Nachteile für den geordneten Ablauf der Sitzung sowie für das Persönlichkeitsrecht
des Angeklagten wiegen indes vorliegend dennoch nicht so schwer, als dass sie eine
absolute Beschränkung der Bildberichterstattung rechtfertigten.
Zum einen kann das Argument der Unschuldsvermutung an Gewicht verlieren, wenn
der Angeklagte - wie hier - seine Tat gestanden hat (vgl. BVerfG, Beschluss der 1.
Kammer des Ersten Senats vom 20. Dezember 2012 - 1 BvR 3048/11 -, juris). Zum
anderen bestehen hier, soweit aus der Begründung der angegriffenen Entscheidung
ersichtlich, keine Anhaltspunkte dafür, dass Bildaufnahmen von dem Angeklagten
spezifische Auswirkungen auf seinen psychischen Zustand haben. Die von dem
Landgericht herangezogene Ratio des § 171a GVG besteht darin, dass Erörterungen
in der Hauptverhandlung in Strafsachen über die Unterbringung des Angeklagten in
einem psychiatrischen Krankenhaus regelmäßig Sachverhalte höchstpersönlicher
Art betreffen, die die Intimsphäre berühren und von Einfluss sein können auf die
Erfolgsaussichten der Unterbringung und die spätere Resozialisierung (Kissel/Mayer,
GVG, 6. Aufl. 2010, § 171a Rn. 1). Die hier von der Antragstellerin beabsichtigten
Bildaufnahmen sollen und können aber nur außerhalb der Hauptverhandlung
aufgenommen werden, § 169 GVG, und betreffen auch nicht die Intimsphäre des
Angeklagten. Ungeachtet der zurecht hervorgehobenen gewichtigen Schutzbelange
eines Angeklagten, der möglicherweise schuldunfähig ist, lässt die Begründung der
angegriffenen Entscheidung nicht erkennen, dass vorliegend auch solche
Ablichtungen außerhalb der Hauptverhandlung in der von der Antragstellerin
gewünschten Weise mittels einer Poollösung für den Angeklagten mit
schwerwiegenden Nachteilen verbunden wären.
4. Die angegriffenen Beschlüsse sind einstweilen in ihrer Wirksamkeit auszusetzen.
Der Vorsitzende der zuständigen Strafkammer wird zu entscheiden haben, ob zum
Schutz des Angeklagten für den weiteren Fortgang des Strafverfahrens erneut eine
Anordnung gemäß § 176 GVG geboten ist, mit der die Bildberichterstattung untersagt
oder eingeschränkt wird. Er wird hierbei nach Maßgabe einer Abwägung zwischen
den betroffenen Grundrechten zu berücksichtigen haben, dass ein Verbot nur dann in
Betracht kommt, wenn dem Schutz der kollidierenden Belange nicht auch durch eine
beschränkende Anordnung, etwa indem nur eine anonymisierte Bildaufnahme des
Angeklagten gestattet wird, Rechnung getragen werden kann (vgl. zu den hierfür
maßgeblichen Kriterien BVerfGE 119, 309 <325 ff.>; BVerfG, Beschluss der 1.
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Kammer des Ersten Senats vom 3. April 2009 - 1 BvR 654/09 -, NJW 2009, S. 2117).
5. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 3 BVerfGG.
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Schluckebier
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