Urteil des BVerfG vom 12.11.2015

Erfolgreiche Verfassungsbeschwerden gegen die rückwirkende Festsetzung von Kanalanschlussbeiträgen

- Bevollmächtigte:
Rechtsanwälte Göpfert,
Sielower Straße 36, 03044 Cottbus -
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 2961/14 -
- 1 BvR 3051/14 -
IM NAMEN DES VOLKES
In den Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerden
1.
der Frau M… ,
I. unmittelbar gegen
a) den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg
vom 29. September 2014 - OVG 9 N 40.14 -,
b) das Urteil des Verwaltungsgerichts Cottbus
vom 4. März 2014 - VG 6 K 1076/12 -,
II. mittelbar gegen
a) § 8 Abs. 7 Satz 2 des Kommunalabgabengesetzes für das Land
Brandenburg in der Fassung des Zweiten Gesetzes zur Entlastung
der Kommunen von pflichtigen Aufgaben vom 17. Dezember 2003
(GVBl I S. 294),
b) § 19 Abs. 1 des Kommunalabgabengesetzes für das Land
Brandenburg in der Fassung des Sechsten Gesetzes zur Änderung
des Kommunalabgabengesetzes für das Land Brandenburg
vom 5. Dezember 2013 (GVBl I Nr. 40 S. 1)
- 1 BvR 2961/14 -,
2.
der Frau S… ,
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwälte Mittag,
Schloßkirchplatz 4, 03046 Cottbus -
I. unmittelbar gegen
a) den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts
vom 11. September 2014 - BVerwG 9 B 21.14 -,
b) das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg
vom 13. November 2013 - OVG 9 B 35.12 -,
c) das Urteil des Verwaltungsgerichts Cottbus
vom 8. Juni 2011 - VG 6 K 1033/09 -,
d) den Widerspruchsbescheid der Stadtverwaltung Cottbus
vom 2. März 2010 - II-70/sd-rei -,
e) den Beitragsbescheid der Stadtverwaltung Cottbus
vom 12. Mai 2009 - 644900047 -,
II. mittelbar gegen
a) § 8 Abs. 7 Satz 2 des Kommunalabgabengesetzes für das Land
Brandenburg in der Fassung des Zweiten Gesetzes zur Entlastung
der Kommunen von pflichtigen Aufgaben vom 17. Dezember 2003
(GVBl I S. 294),
b) § 12 Abs. 3a des Kommunalabgabengesetzes für das Land
Brandenburg in der Fassung des Dritten Gesetzes zur Änderung
des Kommunalabgabengesetzes für das Land Brandenburg
vom 2. Oktober 2008 (GVBl I S. 218),
c) § 19 Abs. 1 des Kommunalabgabengesetzes für das Land
Brandenburg in der Fassung des Sechsten Gesetzes zur Änderung
des Kommunalabgabengesetzes für das Land Brandenburg
vom 5. Dezember 2013 (GVBl I Nr. 40 S. 1)
- 1 BvR 3051/14 -
hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richter Gaier,
Schluckebier,
Paulus
am 12. November 2015 einstimmig beschlossen:
1. Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 29.
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September 2014 - OVG 9 N 40.14 - und das Urteil des Verwaltungsgerichts Cottbus
vom 4. März 2014 - VG 6 K 1076/12 - verletzen die Beschwerdeführerin zu 1) in ihrem
Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem
verfassungsrechtlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes (Artikel 20 Absatz 3 des
Grundgesetzes). Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts wird aufgehoben und
die Sache an dieses zurückverwiesen.
2. Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 13. November
2013 - OVG 9 B 35.12 -, das Urteil des Verwaltungsgerichts Cottbus vom 8. Juni 2011
- VG 6 K 1033/09 -, der Widerspruchsbescheid der Stadtverwaltung Cottbus vom
2. März 2010 - II-70/sd-rei - und der Beitragsbescheid der Stadtverwaltung Cottbus
vom 12. Mai 2009 - 644900047 - verletzen die Beschwerdeführerin zu 2) in ihrem
Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem
verfassungsrechtlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes (Artikel 20 Absatz 3 des
Grundgesetzes). Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts wird aufgehoben. Damit
wird der Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts gegenstandslos. Die Sache
wird an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
3. Das Land Brandenburg hat den Beschwerdeführerinnen ihre notwendigen Auslagen
zu erstatten.
4. Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit
für das Verfassungsbeschwerdeverfahren 1 BvR 3051/14 wird auf 10.000 € (in
Worten: zehntausend Euro) festgesetzt.
G r ü n d e :
A.
Die Beschwerdeführerinnen wenden sich mit ihren Verfassungsbeschwerden gegen ihre
Heranziehung zu Kanalanschlussbeiträgen.
I.
1. § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg regelt das Entstehen der sachlichen Beitragspflicht für
leitungsgebundene Einrichtungen oder Anlagen, die der Versorgung oder der
Abwasserbeseitigung dienen. Die Vorschrift lautete in ihrer ursprünglichen Fassung vom
27. Juni 1991 (GVBl I S. 200; im Folgenden: § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg a.F.) wie folgt:
§ 8 Beiträge
( … ) (7) (…) Wird ein Anschlussbeitrag nach Absatz 4 erhoben, so
entsteht die Beitragspflicht, sobald das Grundstück an die Einrichtung oder
Anlage angeschlossen werden kann, frühestens jedoch mit dem
Inkrafttreten der Satzung; die Satzung kann einen späteren Zeitpunkt
bestimmen. (…)
Das Oberverwaltungsgericht für das Land Brandenburg legte diese Vorschrift im Anschluss
an das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 18. Mai
1999 (- 15 A 2880/96 -, NVwZ-RR 2000, S. 535) mit Urteil vom 8. Juni 2000 (- 2 D 29/98.NE -
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, juris, Rn. 43 ff.) so aus, dass mit der Satzung „ausschließlich die erste nach Inkrafttreten
des KAG erlassene jeweilige Anschlussbeitragssatzung (gemeint sei), wobei es nicht auf die
formelle und materielle Gültigkeit dieser Satzung, sondern ausschließlich auf den formalen
Akt des Satzungserlasses“ ankomme. Maßgeblicher Zeitpunkt für das Entstehen der
Beitragspflicht für ein Grundstück, das an die Einrichtung oder Anlage angeschlossen werden
könne, sei der Zeitpunkt des erstmaligen Erlasses einer Satzung mit formellem
Geltungsanspruch. Nur eine zu diesem Zeitpunkt - gegebenenfalls aufgrund rückwirkenden
Inkrafttretens - gültige Satzung könne Rechtsgrundlage der Beitragserhebung sein.
2. Mit Wirkung zum 1. Februar 2004 änderte der brandenburgische Gesetzgeber das
Kommunalabgabengesetz durch das Zweite Gesetz zur Entlastung der Kommunen von
pflichtigen Aufgaben vom 17. Dezember 2003 (GVBl I S. 294) dahingehend, dass die
sachliche Beitragspflicht für eine leitungsgebundene Einrichtung oder Anlage, die der
Versorgung oder der Abwasserbeseitigung dient, frühestens mit dem Inkrafttreten einer
„rechtswirksamen“ Satzung entsteht. § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg erhielt damit folgende
Fassung (im Folgenden § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg n.F.):
§ 8 Beiträge
( … ) (7) (…) Wird ein Anschlussbeitrag nach Absatz 4 erhoben, so
entsteht die Beitragspflicht, sobald das Grundstück an die Einrichtung oder
Anlage angeschlossen werden kann, frühestens jedoch mit dem
Inkrafttreten der rechtswirksamen Satzung; die Satzung kann einen
späteren Zeitpunkt bestimmen. (…)
In der Begründung des Gesetzentwurfs der Landesregierung (LTDrucks 3/6324, S. 25 f.)
wurde hierzu ausgeführt, die Vorschrift sei in ihrer alten Fassung entgegen der Intention des
Gesetzgebers durch die Rechtsprechung im Land dahingehend ausgelegt worden, dass es
auf eine rechtswirksame Satzung nicht ankomme, sondern für die Entstehung der
Beitragspflicht eine Satzung auch dann genüge, wenn sie nach ihrem Inkrafttreten der
Nichtigkeit anheimfalle. Dies habe in der Vergangenheit zu großen Beitragsausfällen bei den
Aufgabenträgern
geführt,
da
Ansprüche
nicht
mehr
innerhalb
der
Festsetzungsverjährungsfrist hätten geltend gemacht werden können. Um künftige
Beitragsausfälle bei den Gemeinden und anderen Aufgabenträgern zu vermeiden, werde mit
der Gesetzesänderung eine Klarstellung vorgenommen, indem die Voraussetzung einer
rechtswirksamen Satzung ausdrücklich festgeschrieben werde.
3. Durch Artikel 1 des Dritten Gesetzes zur Änderung des Kommunalabgabengesetzes für
das Land Brandenburg vom 2. Oktober 2008 (GVBl I S. 218) wurde ergänzend zu den
bestehenden Vorschriften über die Festsetzungsverjährung von Beiträgen § 12 Abs. 3a KAG
Bbg in das brandenburgische Kommunalabgabengesetz eingefügt. Diese Vorschrift lautet:
§ 12 Anwendung der Abgabenordnung
(…) (3a) Bei der Erhebung eines Beitrages für den Anschluss an eine
leitungsgebundene Einrichtung oder Anlage im Bereich der
Wasserversorgung und Abwasserbeseitigung nach § 8 Abs. 7 oder die
Möglichkeit eines solchen Anschlusses endet die Festsetzungsfrist
frühestens mit Ablauf des 31. Dezember 2011. Satz 1 gilt nur, soweit die
Festsetzungsverjährung zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Dritten
Gesetzes zur Änderung des Kommunalabgabengesetzes für das Land
Brandenburg vom 2. Oktober 2008 (GVBl. I S. 218) noch nicht
eingetreten ist. (…)
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Mit der Einfügung des § 12 Abs. 3a KAG Bbg wollte der Gesetzgeber sich selbst und den
Gemeinden und Zweckverbänden Zeit für die Lösung des „Altanschließerproblems“
verschaffen.
4. In Reaktion auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 5. März 2013
(BVerfGE 133, 143) fügte der brandenburgische Gesetzgeber schließlich durch Artikel 1 des
Sechsten Gesetzes zur Änderung des Kommunalabgabengesetzes für das Land
Brandenburg vom 5. Dezember 2013 (GVBl I Nr. 40 S. 1) einen neuen § 19 in das
Kommunalabgabengesetz ein:
§ 19 Zeitliche Obergrenze für den Vorteilsausgleich
(1) Abgaben zum Vorteilsausgleich dürfen mit Ablauf des 15.
Kalenderjahres, das auf den Eintritt der Vorteilslage folgt, nicht mehr
festgesetzt werden. Die §§ 169 Absatz 1 Satz 3 und 171 der
Abgabenordnung gelten in der in § 12 Absatz 1 Nummer 4 Buchstabe b
angeordneten Weise entsprechend. Aufgrund der Sondersituation nach der
Deutschen Einheit ist der Lauf der Frist bis zum 3. Oktober 2000
gehemmt.
(2) Das Land erstattet den Gemeinden die von ihnen nachzuweisenden
Mehrbelastungen, die ihnen ohne Verschulden durch Absatz 1 entstehen.
Ohne Verschulden entstanden sind Mehrbelastungen insbesondere dann
nicht, wenn die Gemeinden sie durch zumutbare eigene Anstrengungen
abwenden können. Zumutbar sind insbesondere alle Maßnahmen zum
Erlass rechtswirksamer Satzungen und darauf beruhender wirksamer
Abgabenbescheide.
(3) Im Falle der Erstattung nach Absatz 2 Satz 1 trägt die Gemeinde
hinsichtlich der zumutbaren Anstrengungen die Darlegungs- und
Beweislast.
Zur Begründung des Gesetzentwurfs führte die Landesregierung aus, die Grundsätze der
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts seien auch bei der Rechtsetzung im Land
Brandenburg zu beachten (vgl. LTDrucks 5/7642, S. 6). § 19 Abs. 1 KAG Bbg solle für alle
Fälle des Vorteilsausgleichs durch Abgaben, die an zurückliegende Tatbestände anknüpften,
im Ergebnis sicherstellen, dass der Vorteilsausgleich nicht unbegrenzt nach Eintritt der
Vorteilslage erfolgen könne. Die Abgabenschuldner sollten aufgrund der gesetzlichen
Regelung Klarheit haben, wann sie mit einer Inanspruchnahme nicht mehr rechnen müssten.
II.
1. Die Beschwerdeführerin im Verfahren 1 BvR 2961/14 (im Folgenden:
Beschwerdeführerin zu 1) ist Eigentümerin eines Grundstücks, das bereits vor dem
3. Oktober 1990 an die Schmutzwasserkanalisation im Gebiet der beklagten Stadt (im
Folgenden: Beklagte) angeschlossen wurde.
Die erste Kanalanschlussbeitragssatzung der Beklagten, die sich in der Folge als
unwirksam erwies, sollte zum 30. Juni 1993 in Kraft treten. Nach den Feststellungen der
Verwaltungsgerichte gelang es der Beklagten erst mit der Kanalanschlussbeitragssatzung
vom 1. Dezember 2008, die zum 1. Januar 2009 in Kraft trat, eine wirksame Satzung zu
erlassen.
Die Beklagte zog die Beschwerdeführerin zu 1) mit Bescheid vom 29. November 2011 für
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das Grundstück zu einem Kanalanschlussbeitrag in Höhe von 2.520,25 € heran. Den
hiergegen eingelegten Widerspruch wies die Beklagte zurück. Das Verwaltungsgericht wies
die Klage der Beschwerdeführerin zu 1) gegen den Bescheid und den Widerspruchsbescheid
ab.
Den Antrag der Beschwerdeführerin zu 1) auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des
Verwaltungsgerichts lehnte das Oberverwaltungsgericht ab. Das Vorbringen der
Beschwerdeführerin zu 1) wecke keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§
124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Ihre Beitragspflicht sei nicht schon bis zum Inkrafttreten der
Neuregelung des § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg verjährt gewesen. Die Festsetzungsfrist
beginne erst mit Ablauf des Jahres zu laufen, in dem die sachliche Beitragspflicht entstanden
sei (§ 12 Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe b KAG Bbg in Verbindung mit § 38 AO, § 12 Abs. 1 Nr. 4
Buchstabe b KAG Bbg in Verbindung mit § 170 Abs. 1 AO).
Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin zu 1) sei für das Entstehen der sachlichen
Beitragspflicht auch während der Geltungszeit des § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg a.F. bereits
eine wirksame Beitragssatzung erforderlich gewesen (§ 2 Abs. 1 Satz 1 und 2, § 12 Abs. 1
Nr. 2 Buchstabe b KAG Bbg, § 38 AO). Das Oberverwaltungsgericht Brandenburg habe § 8
Abs. 7 Satz 2 KAG a.F. mit Urteil vom 8. Juni 2000 (- 2 D 29/98.NE -, juris, Rn. 43 ff.) dahin
ausgelegt, dass im Fall der Unwirksamkeit der ersten Beitragssatzung die sachliche
Beitragspflicht nur durch eine nachfolgende wirksame Beitragssatzung habe begründet
werden können, die rückwirkend auf den Zeitpunkt des formalen Inkrafttretens der ersten,
unwirksamen Beitragssatzung (oder den darin geregelten späteren Zeitpunkt für die
Entstehung der sachlichen Beitragspflicht) in Kraft gesetzt worden sei. Vorliegend sei weder
bis zum 31. Januar 2004 noch danach eine wirksame Beitragssatzung erlassen worden, die
rückwirkend auf den Zeitpunkt des vermeintlichen Inkrafttretens der ersten unwirksamen
Kanalanschlussbeitragssatzung der Beklagten am 30. Juni 1993 in Kraft gesetzt worden sei.
Die Änderung des § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg unterliege entgegen der Auffassung der
Beschwerdeführerin zu 1) keinen verfassungsrechtlichen Bedenken unter dem von ihr
geltend gemachten Gesichtspunkt des Rückwirkungsverbots und des Vertrauensschutzes
im Übrigen.
§ 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg n.F. verletze nicht das grundsätzliche Verbot echt
rückwirkender Gesetze. Zwar wäre eine Veranlagung des Grundstücks der
Beschwerdeführerin zu 1) zu einem Herstellungsbeitrag gemäß § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg
a.F. nicht mehr möglich gewesen, wenn es bei der seinerzeitigen Gesetzeslage geblieben
wäre. Wäre eine auf den 30. Juni 1993 rückwirkende wirksame Beitragssatzung beschlossen
worden, wäre die vierjährige Festsetzungsfrist gemäß § 12 Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe b KAG
Bbg in Verbindung mit §§ 169, 170 Abs. 1 AO in Lauf gesetzt worden und Verjährung mit
Ablauf des 31. Dezember 1997 eingetreten. Nach der Änderung des § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG
Bbg a.F. habe der Satzungsgeber indessen eine Beitragssatzung ohne Rückwirkung auf den
Zeitpunkt des ersten Satzungsgebungsversuchs erlassen und damit die sachliche
Beitragspflicht auch für das Grundstück der Beschwerdeführerin zu 1) erst im Zeitpunkt des
Inkrafttretens der ersten wirksamen Beitragssatzung entstehen lassen. Mit der dies
ermöglichenden Änderung des § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg a.F. habe der Gesetzgeber nicht
in einen abgeschlossenen Sachverhalt nachträglich ändernd eingegriffen, sondern einen noch
nicht abgeschlossenen Sachverhalt für die Zukunft neu geregelt. Denn die Vorteilslage durch
die Anschlussmöglichkeit habe fortbestanden und eine Verjährung sei mangels Entstehung
der sachlichen Beitragspflicht noch nicht eingetreten.
Etwas anderes folge auch nicht aus dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom
17. Dezember 2013 (BVerfGE 135, 1). Zwar werde die Änderung des § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG
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Bbg im Gesetzentwurf der Landesregierung für das Zweite Gesetz zur Entlastung der
Kommunen von pflichtigen Aufgaben (LTDrucks 3/6324, S. 26) als „Klarstellung“ bezeichnet.
Von einer „Klarstellung“ könne aber keine Rede sein, weil die Gesetzesänderung der
bisherigen Auslegung der Vorschrift durch das Oberverwaltungsgericht widerspreche.
Gegen die Änderung des § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg a.F. könnten auch keine
Vertrauensschutzgesichtspunkte im Übrigen geltend gemacht werden. Die Betroffenen
hätten lediglich die Erwartung hegen können, dass es den Gemeinden und Zweckverbänden
bei unveränderter Gesetzeslage nach deren Auslegung durch die (ober-
)verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung nicht mehr möglich sein werde, in Anknüpfung an
die bestehende Vorteilslage die sachliche Beitragspflicht für ihr Grundstück zu begründen
und die Beitragsforderung durch Bescheid geltend zu machen. Eine geschützte
Rechtsposition sei damit nicht begründet worden. Es gebe keine schutzwürdige
Rechtsposition des Inhalts, dass es bei einer Rechtslage, nach der Abgaben nicht erhoben
werden könnten, verbleibe. Auch darüber hinaus habe die Beschwerdeführerin zu 1) keine
schutzwürdigen Gründe dargetan.
Die Beschwerdeführerin zu 1) habe auch eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache
im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO nicht dargelegt. Soweit das Zulassungsvorbringen in
diesem Zusammenhang § 19 KAG Bbg nenne, fehle es an jeglichen Ausführungen im
Zulassungsantrag. Unabhängig davon seien auch insoweit die in Betracht kommenden
Rechtsfragen geklärt (Hinweis auf OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 16. Juli 2014
- OVG 9 N 69.14 -, juris, Rn. 21 ff.).
2. Die Beschwerdeführerin im Verfahren 1 BvR 3051/14 (im Folgenden:
Beschwerdeführerin zu 2) ist Eigentümerin eines bebauten und eines weiteren unbebauten
Grundstücks im Gebiet der Beklagten. Das bebaute Grundstück wurde im Jahr 2003 an die
Schmutzwasserkanalisation der Beklagten angeschlossen. Die Möglichkeit des Anschlusses
der Grundstücke hatte nach den Angaben der Beschwerdeführerin zu 2) allerdings bereits
kurz nach dem 3. Oktober 1990 bestanden.
Mit Bescheid vom 12. Mai 2009 zog die Beklagte die Beschwerdeführerin zu 2) für die
Grundstücke zu einem Kanalanschlussbeitrag in Höhe von 7.284,50 € heran. Den hiergegen
eingelegten Widerspruch wies die Beklagte zurück. Das Verwaltungsgericht wies die Klage
der Beschwerdeführerin zu 2) gegen den Bescheid und den Widerspruchsbescheid ab.
Auf Antrag der Beschwerdeführerin zu 2) ließ das Oberverwaltungsgericht die Berufung
gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts zu. Diese sei hinsichtlich der Veranlagung des
unbebauten Flurstücks begründet; im Übrigen wies das Oberverwaltungsgericht die Berufung
zurück. Zur Begründung der Zurückweisung der Berufung führte das Oberverwaltungsgericht
im Wesentlichen aus, der Beitragsanspruch sei nicht festsetzungsverjährt. Denn die
sachliche Beitragspflicht sei gemäß § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg n.F. erst mit dem
Inkrafttreten der ersten wirksamen Kanalanschlussbeitragssatzung der Beklagten vom 1.
Dezember 2008 zum 1. Januar 2009 entstanden. Hinsichtlich der Vereinbarkeit des § 8
Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg n.F. mit dem verfassungsrechtlichen Rückwirkungsverbot werde auf
den Beschluss des Verfassungsgerichts für das Land Brandenburg vom 21. September 2012
(- VfGBbg 46/11 -, juris, Rn. 50 ff., 66 ff.) sowie auf den Beschluss des Senats vom 1. März
2012 (OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 1. März 2012 - OVG 9 S 9.12 -, juris, Rn. 11
ff. m.w.N.) verwiesen.
Der angegriffene Beitragsbescheid sei auch im Lichte des Beschlusses des
Bundesverfassungsgerichts vom 5. März 2013 (BVerfGE 133, 143) nicht zu beanstanden.
Das Kommunalabgabengesetz für das Land Brandenburg werde den Maßgaben dieses
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Beschlusses in Fällen, in denen - wie hier - der Beitragsbescheid bis zum 31. Dezember
2011 erlassen worden sei, gerecht. Insoweit habe der Gesetzgeber bereits eine hinreichende
Regelung zur Berücksichtigung der Interessen der Bürger getroffen, indem er durch Gesetz
vom 2. Oktober 2008 (GVBl I S. 218) einen Absatz 3a in den § 12 KAG Bbg eingefügt habe. §
12 Abs. 3a KAG Bbg habe die Festsetzungsverjährungsfrist für bestimmte Fälle noch über
denjenigen Zeitpunkt hinaus verlängert, der nach § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg in Verbindung
mit den allgemeinen Verjährungsregelungen gelten würde. Mit der Einfügung des § 12
Abs. 3a KAG Bbg habe der Gesetzgeber sich selbst und den Gemeinden und
Zweckverbänden Zeit für die Lösung des „Altanschließerproblems“ verschaffen wollen. Das
sei ausweislich der Gesetzesmaterialien in dem Bewusstsein geschehen, dass bei der
Bemessung der Verjährungsfrist der Grundsatz der Rechtssicherheit sowie der Sinn von
Verjährungsregelungen zu beachten sei, zu einem bestimmten Zeitpunkt Rechtsfrieden
herzustellen, und dass der Beitragspflichtige innerhalb einer überschaubaren Frist Gewissheit
über das Bestehen von Beitragsforderungen erlangen solle (vgl. LTDrucks 4/6422, S. 8).
Zwar habe der Gesetzgeber mit § 12 Abs. 3a KAG Bbg in der Fassung des Gesetzes vom 2.
Oktober 2008 keinen absoluten zeitlichen Endpunkt für die Beitragserhebung gesetzt; er habe
jedoch durch dessen Einfügung klar erkennen lassen, dass die Eigentümer der im Land
Brandenburg schon mit einer Anschlussmöglichkeit oder mit einem Anschluss versehenen
Grundstücke (vorbehaltlich des § 12 Abs. 3a Satz 2 KAG Bbg) jedenfalls bis zum 31.
Dezember 2011 mit einer Beitragserhebung rechnen müssten.
Das Bundesverwaltungsgericht wies die Beschwerde der Beschwerdeführerin zu 2) gegen
die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts zurück.
III.
Die Beschwerdeführerinnen rügen mit ihren Verfassungsbeschwerden eine Verletzung ihrer
Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 3 Abs. 1 GG.
1. Die Beschwerdeführerin zu 1) macht im Wesentlichen geltend, die Anwendung des § 8
Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg n.F. und des § 19 Abs. 1 KAG Bbg in der Fassung des Gesetzes
vom 5. Dezember 2013 auf Grundstücke, die bereits vor dem Inkrafttreten der ersten
Kanalanschlussbeitragssatzung der Beklagten am 1. Juli 1993 an die öffentliche
Abwasserbeseitigungsanlage angeschlossen gewesen seien, verstoße gegen den
Verfassungsgrundsatz des Vertrauensschutzes und das Gebot der Rechtssicherheit in
seiner Ausprägung als Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit.
Die Anwendung dieser Vorschriften stelle in diesen Fällen einen Eingriff in einen bereits
abgeschlossenen Sachverhalt und damit eine verfassungsrechtlich unzulässige echte
Rückwirkung dar. Die in der Begründung des Gesetzentwurfs zur Neuregelung des § 8
Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg vertretene Auffassung, die Änderung habe nur klarstellenden
Charakter, sei für die Gerichte nicht verbindlich. Für die Beantwortung der Frage, ob eine
rückwirkende Regelung aus verfassungsrechtlicher Sicht als konstitutiv zu behandeln sei,
genüge die Feststellung, dass die geänderte Norm in ihrer ursprünglichen Fassung von den
Gerichten in einem Sinn habe ausgelegt werden können, der mit der Neuregelung habe
ausgeschlossen werden sollen. Nach der bis zum 31. Januar 2004 geltenden Rechtslage sei
in ihrem Fall mit Ablauf des 31. Dezember 1997 Festsetzungsverjährung eingetreten.
Die engen Voraussetzungen, unter denen eine echte Rückwirkung ausnahmsweise
zulässig sei, seien im Fall der Neuregelung des § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg nicht gegeben.
Mit einer Rechtsänderung sei nach dem 31. Dezember 1997 nicht zu rechnen gewesen, da
es zu diesem Zeitpunkt nicht einmal eine Gesetzesinitiative gegeben habe und die geltende
Rechtslage durch das Oberverwaltungsgericht Brandenburg im Urteil vom 8. Juni 2000 (- 2 D
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29/98.NE -, juris) bestätigt worden sei. Die Rechtslage sei weder unklar noch verworren
gewesen. Die Rechtsprechung habe sich nicht geändert.
Auch zwingende Gründe des Allgemeinwohls rechtfertigten eine echte Rückwirkung nicht.
Die Beklagte habe es in der Hand gehabt, entsprechend der Ausnahmeregelung in § 8 Abs. 7
Satz 2 Halbsatz 2 KAG Bbg a.F. für das Entstehen der sachlichen Beitragspflicht einen
späteren Zeitpunkt festzulegen oder bis zum Jahr 1997, gegebenenfalls unter Heranziehung
von Rechtssachkundigen, eine rechtswirksame Satzung zu erlassen und bereits an die
öffentliche Abwasserbeseitigungsanlage angeschlossene Grundstücke mit einem
Beitragsbescheid zu belegen. Versäume die Beklagte dies mit der Folge von
Beitragsausfällen, rechtfertige dies nicht die Annahme eines zwingenden Interesses des
Allgemeinwohls an einer rückwirkenden gesetzlichen Regelung.
Die Neuregelung des § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg in Verbindung mit § 19 Abs. 1 KAG Bbg in
der Fassung des Gesetzes vom 5. Dezember 2013 sei darüber hinaus mit dem
rechtsstaatlichen Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit nicht vereinbar. Der
brandenburgische Gesetzgeber habe den vom Bundesverfassungsgericht geforderten
Ausgleich zwischen der Erwartung der Beitragspflichtigen auf den Eintritt der
Festsetzungsverjährung und dem berechtigten öffentlichen Interesse an einem finanziellen
Beitrag für die Erlangung individueller Vorteile aus dem Anschluss an die leitungsgebundene
Anlage verfehlt und einseitig zu Lasten der Beitragsschuldner entschieden. Den besonderen
Erfordernissen der Deutschen Einheit sei nach der alten Rechtslage bereits dadurch
Rechnung getragen worden, dass es in der Hand des Satzungsgebers gelegen habe, das
Entstehen der sachlichen Beitragspflicht nicht an das Inkrafttreten der Satzung zu knüpfen,
sondern hierfür einen späteren Zeitpunkt festzulegen.
Die Festlegung einer Hemmung der Frist infolge der Sondersituation der Deutschen Einheit
bis zum 3. Oktober 2000 gemäß § 19 Abs. 1 KAG Bbg in der Fassung des Gesetzes vom 5.
Dezember 2013 verstoße darüber hinaus gegen den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3
Abs. 1 GG.
2. Die Beschwerdeführerin zu 2) rügt im Wesentlichen, die Beitragserhebung verletze den
Grundsatz des Vertrauensschutzes und das Rückwirkungsverbot. Die Regelungen der § 19
Abs. 1 Satz 3 KAG Bbg und § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg n.F. entfalteten echte Rückwirkung.
Bei § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg n.F. handele es sich nicht um eine Klarstellung, sondern um
eine konstitutive Rechtsänderung. Seit dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts Brandenburg
vom 8. Juni 2000 (- 2 D 29/98.NE -, juris) sei für die Betroffenen klar gewesen, dass sie
wegen Verjährung der Beitragsschuld nicht mehr mit einer Inanspruchnahme rechnen
müssten. Die Sache sei damit aus ihrer Sicht abgeschlossen gewesen. Die echte
Rückwirkung des § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg n.F. sei auch nicht ausnahmsweise zulässig.
Vor dem 31. Januar 2004 sei die Rechtslage nicht unklar, verworren oder lückenhaft
gewesen. Vielmehr habe das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Brandenburg
vom 8. Juni 2000 (- 2 D 29/98.NE -, juris) gerade alle Unklarheiten beseitigt. Die Neuregelung
sei auch nicht vorhersehbar gewesen. Selbst wenn sie lediglich eine unechte Rückwirkung
entfalte, stünde dieser der Vertrauensschutz der Beitragspflichtigen entgegen.
IV.
Die Beklagte, das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz und das
Ministerium der Justiz und für Europa und Verbraucherschutz des Landes Brandenburg
hatten Gelegenheit, zu den Verfassungsbeschwerden Stellung zu nehmen. Die Akten der
Ausgangsverfahren wurden beigezogen.
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B.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerden zur Entscheidung an und gibt ihnen statt.
Die Annahme ist zur Durchsetzung von in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechten der
Beschwerdeführerinnen angezeigt (vgl. § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2
Buchstabe b BVerfGG). Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der
Verfassungsbeschwerden
maßgeblichen
verfassungsrechtlichen
Fragen
bereits
entschieden. Die im Wesentlichen zulässigen Verfassungsbeschwerden sind offensichtlich
begründet (vgl. § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
I.
Die mit den Verfassungsbeschwerden vorgebrachten Rügen sind im Wesentlichen
zulässig.
1. Die Verfassungsbeschwerden sind zulässig, weil die Beschwerdeführerinnen behaupten,
die Anwendung des § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg n.F. durch die Verwaltungsgerichte führe in
ihren Fällen zu einer verfassungsrechtlich unzulässigen Rückwirkung.
2. Im Übrigen sind die vorgebrachten Rügen unzulässig.
Die von der Beschwerdeführerin zu 1) erhobene Rüge, § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg n.F. in
Verbindung mit § 19 KAG Bbg in der Fassung des Gesetzes vom 5. Dezember 2013
verletzten nach den Maßgaben des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 5.
März 2013 (BVerfGE 133, 143) den Grundsatz der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit,
genügt nicht den Begründungsanforderungen der § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG. Das
Oberverwaltungsgericht verweist insoweit - trotz des fehlenden Vorbringens der
Beschwerdeführerin zu 1) hierzu im Zulassungsantrag - auf seinen Beschluss vom 16. Juli
2014 (- OVG 9 N 69.14 -, juris, Rn. 21 ff.). Darin legte das Oberverwaltungsgericht dar, dass
nach seiner Auffassung für Beitragsbescheide, die - wie hier - erstmals bis zum
31. Dezember 2011 ergangen seien, eine verfassungskonforme Gesetzesregelung bereits in
Gestalt der besonderen Fristenbestimmung des § 12 Abs. 3a KAG Bbg in der Fassung des
Gesetzes vom 2. Oktober 2008 bestanden habe. Mit diesen Rechtsausführungen setzt sich
die Beschwerdeführerin zu 1) nicht auseinander.
Soweit die Beschwerdeführerinnen sich mittelbar gegen § 19 Abs. 1 KAG Bbg wenden,
kommt eine Grundrechtsverletzung im Übrigen von vornherein nicht in Betracht, weil die
angegriffenen Entscheidungen nicht auf dieser Vorschrift beruhen. Soweit die
Beschwerdeführerin zu 2) mittelbar eine Verfassungswidrigkeit des § 12 Abs. 3a KAG Bbg
rügt, genügt ihr Vortrag nicht den Begründungsanforderungen, weil dieser sich auf die bloße
Benennung dieser Vorschrift beschränkt.
II.
Soweit die Verfassungsbeschwerden zulässig sind, sind sie offensichtlich begründet. Die
angegriffenen Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführerinnen in ihren Grundrechten
aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des
Vertrauensschutzes aus Art. 20 Abs. 3 GG. Die Anwendung des § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg
n.F. in Fällen, in denen Beiträge nach § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg a.F. nicht mehr erhoben
werden könnten, verstößt gegen das rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot.
1. Das Bundesverfassungsgericht unterscheidet bei rückwirkenden Gesetzen in ständiger
Rechtsprechung zwischen Gesetzen mit echter Rückwirkung, die grundsätzlich nicht mit der
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Verfassung vereinbar sind (vgl. BVerfGE 45, 142 <167 f.>; 101, 239 <262>; 132, 302 <318>;
135, 1 <13>; jeweils m.w.N.), und solchen mit unechter Rückwirkung, die grundsätzlich
zulässig sind (vgl. BVerfGE 132, 302 <318>; 135, 1 <13>).
a) Eine Rechtsnorm entfaltet echte Rückwirkung, wenn sie nachträglich in einen
abgeschlossenen Sachverhalt ändernd eingreift (BVerfGE 132, 302 <318>; 135, 1 <13>; vgl.
BVerfGE 101, 239 <263>; 123, 186 <257>). Dies ist insbesondere der Fall, wenn ihre
Rechtsfolge mit belastender Wirkung schon vor dem Zeitpunkt ihrer Verkündung für bereits
abgeschlossene Tatbestände gelten soll („Rückbewirkung von Rechtsfolgen“; BVerfGE 132,
302 <318>; 135, 1 <13>).
b) Eine unechte Rückwirkung liegt vor, wenn eine Norm auf gegenwärtige, noch nicht
abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen für die Zukunft einwirkt und damit
zugleich die betroffene Rechtsposition entwertet (BVerfGE 101, 239 <263>; 123, 186 <257>;
132, 302 <318>), so wenn belastende Rechtsfolgen einer Norm erst nach ihrer Verkündung
eintreten, tatbestandlich aber von einem bereits ins Werk gesetzten Sachverhalt ausgelöst
werden („tatbestandliche Rückanknüpfung“; BVerfGE 132, 302 <318>).
2. § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg n.F. entfaltet bei Anwendung in Fällen wie denen der
Beschwerdeführerinnen, in denen Beiträge nach § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg a.F. nicht mehr
erhoben werden könnten, weil mit dem Entstehen der Beitragspflicht durch Inkrafttreten einer
wirksamen Satzung zugleich die Festsetzungsverjährung einträte, Rückwirkung (a), wobei
von einer konstitutiven Änderung der Rechtslage auszugehen ist (b). Die Neuregelung hat bei
Anwendung in diesen Fällen nicht lediglich eine unechte, sondern eine unzulässige echte
Rückwirkung (c). Selbst wenn von einer unechten Rückwirkung der Neuregelung
auszugehen wäre, läge ein Verstoß gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes vor (d).
a) Die Änderung des § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg trat nicht formell rückwirkend, sondern am
1. Februar 2004 in Kraft. Gleichwohl hat die Gesetzesänderung in den Fällen der
Beschwerdeführerinnen materiell rückwirkenden Charakter.
Nach § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg a.F. in seiner Auslegung durch das
Oberverwaltungsgericht war für den Zeitpunkt der Entstehung der sachlichen Beitragspflicht
der Zeitpunkt der ersten Beitragssatzung mit formellem Geltungsanspruch maßgeblich (OVG
Brandenburg, Urteil vom 8. Juni 2000 - 2 D 29/98.NE -, juris, Rn. 43 ff.; Urteil vom 5.
Dezember 2001 - 2 A 611/00 -, MittStGB Bbg. 2002, S. 126 <131> - Urteil vom 27. März
2002 - 2 A 480/00 - S. 15 f.; Urteil vom 3. Dezember 2003 - 2 A 733/03 -, LKV 2004, S. 555
<556>). Für die Frage, zu welchem Zeitpunkt die sachliche Beitragspflicht entsteht, war
danach unerheblich, ob die erste Satzung wirksam war. Die sachliche Beitragspflicht für die
betroffenen Grundstücke konnte, wenn die erste Beitragssatzung unwirksam war, nur noch
durch eine nachfolgende wirksame Beitragssatzung begründet werden, die rückwirkend auf
das Datum des formalen Inkrafttretens der ersten, unwirksamen Beitragssatzung (oder den
darin geregelten späteren Zeitpunkt für die Entstehung der sachlichen Beitragspflicht) in Kraft
gesetzt wurde. War zum Zeitpunkt des Erlasses der wirksamen Satzung - wie in den Fällen
der Beitragsschuldnerinnen - die Festsetzungsfrist von vier Jahren nach Ablauf des
Kalenderjahres, in dem die unwirksame Satzung in Kraft treten sollte, bereits abgelaufen,
konnte die Beitragspflicht nur für eine „juristische Sekunde“ entstehen, war dann aber gemäß
§ 12 Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe b KAG Bbg in Verbindung mit § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, § 170
Abs. 1 AO sofort verjährt und damit erloschen (vgl. § 12 Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe b KAG Bbg
in Verbindung mit § 47 AO).
Durch das Zweite Gesetz zur Entlastung der Kommunen von pflichtigen Aufgaben vom 17.
Dezember 2003 (GVBl I S. 294) wurde § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg dahingehend geändert,
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dass nunmehr für die Bestimmung des Zeitpunktes, zu dem die sachliche Beitragspflicht
entsteht, stets auf das Inkrafttreten einer „rechtswirksamen“ Satzung abzustellen ist. Bei
Anwendung dieser Vorschrift in Fällen, in denen Beiträge nach der alten Rechtslage nicht
mehr erhoben werden konnten, weil mit dem Entstehen der Beitragspflicht durch Inkrafttreten
einer wirksamen Satzung zugleich die Festsetzungsverjährung eingetreten wäre, eröffnete
§ 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg n.F. erneut die Möglichkeit, die Beitragsschuldner zu
Anschlussbeiträgen heranzuziehen.
b) Anders als in der Begründung des Gesetzentwurfs angenommen (vgl. LTDrucks 3/6324,
S. 26) ist § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg n.F. nicht als „Klarstellung“, sondern als konstitutive
Änderung der alten Rechtslage zu behandeln.
aa) Die in der Begründung des Gesetzentwurfs zu § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg n.F.
vertretene Auffassung, die Vorschrift habe lediglich klarstellenden Charakter (vgl. LTDrucks
3/6324, S. 26), ist für die Gerichte nicht verbindlich. Sie schränkt weder die Kontrollrechte und
-pflichten der Fachgerichte und des Bundesverfassungsgerichts ein noch relativiert sie die für
sie maßgeblichen verfassungsrechtlichen Maßstäbe (vgl. BVerfGE 126, 369 <392>; 135, 1
<14 f.>).
Für die Beantwortung der Frage, ob eine rückwirkende Regelung aus
verfassungsrechtlicher Sicht als konstitutiv zu behandeln ist, genügt die Feststellung, dass
die geänderte Norm in ihrer ursprünglichen Fassung von den Gerichten in einem Sinn
ausgelegt werden konnte und ausgelegt worden ist, der mit der Neuregelung ausgeschlossen
werden soll (vgl. BVerfGE 131, 20 <37 f.>; 135, 1 <16 f.>).
bb) Ausgehend von diesen Grundsätzen erweist sich die rückwirkende „Klarstellung“ durch
§ 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg n.F. als konstitutiv. Nach dem Urteil des
Oberverwaltungsgerichts Brandenburg vom 8. Juni 2000 (- 2 D 29/98.NE -, juris) war § 8
Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg a.F. so auszulegen, dass es für den Zeitpunkt des Entstehens der
sachlichen Beitragspflicht und damit auch für den Zeitpunkt des Verjährungsbeginns lediglich
auf das formelle Inkrafttreten der ersten unwirksamen Beitragssatzung, nicht aber auf das
Inkrafttreten einer wirksamen Satzung ankam. Diese Auslegungsmöglichkeit sollte mit der
Neuregelung gerade ausgeschlossen werden.
c) § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg n.F. entfaltet bei Anwendung in Fällen, in denen Beiträge
nach der alten Rechtslage nicht mehr erhoben werden könnten, eine echte Rückwirkung
(aa). Ein Grund für die Rechtfertigung dieser echten Rückwirkung ist hier nicht erkennbar
(bb).
aa) Entgegen der Auffassung des Oberverwaltungsgerichts (vgl. auch Verfassungsgericht
für das Land Brandenburg, Beschluss vom 21. September 2012 - VfGBbg 46/11 -, juris, Rn.
74 ff.; BVerwG, Beschluss vom 14. Juli 2008 - BVerwG 9 B 22/08 -, juris, Rn. 7) bedeutet die
Anwendung der Vorschrift des § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg n.F. in den Fällen der
Beschwerdeführerinnen eine echte Rückwirkung. Zwar war in diesen Fällen nach der
Auslegung des § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg a.F. durch das Oberverwaltungsgericht in den
angegriffenen Entscheidungen die sachliche Beitragspflicht mangels einer vor der
Neuregelung erlassenen wirksamen Satzung noch nicht entstanden und damit auch nicht
wegen Festsetzungsverjährung erloschen (vgl. § 12 Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe b KAG Bbg in
Verbindung mit § 47 AO). Ein nachträglicher Eingriff in einen abgeschlossenen Sachverhalt
liegt aber dennoch vor, weil eine Veranlagung der Grundstücke der Beschwerdeführerinnen
zu einem Herstellungsbeitrag rechtlich nicht mehr möglich gewesen wäre, wenn es bei der
seinerzeitigen Gesetzeslage geblieben wäre. Die sachliche Beitragspflicht konnte für diese
Grundstücke nach § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg a.F. nicht mehr wirksam entstehen. Wäre
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eine auf den 30. Juni 1993 - den Tag des Inkrafttretens der ersten unwirksamen Satzung -
rückwirkende wirksame Beitragssatzung beschlossen worden, wäre die vierjährige
Festsetzungsfrist gemäß § 12 Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe b KAG Bbg in Verbindung mit § 169
Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, § 170 Abs. 1 AO in Lauf gesetzt worden und Festsetzungsverjährung mit
Ablauf des 31. Dezember 1997 eingetreten. Die Forderungen wären dann in der „juristischen
Sekunde“ ihres Entstehens erloschen. § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg n.F. eröffnete damit in
Fällen, in denen Beiträge nach der alten Rechtslage nicht mehr erhoben werden konnten,
erneut die Möglichkeit, die Beitragsschuldner zu Anschlussbeiträgen heranzuziehen.
Die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach eine echte
Rückwirkung im Steuerrecht nur vorliegt, wenn der Gesetzgeber eine bereits entstandene
Steuerschuld nachträglich abändert (vgl. BVerfGE 127, 1 <18 f.>; 127, 31 <48 f.>; 127, 61
<77 f.>; 132, 302 <319>; 135, 1 <13>), ist auf die vorliegenden Sachverhalte nicht
übertragbar. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht diesen Rechtssatz allgemein
formuliert; er ist jedoch auf solche Fälle zugeschnitten, in denen die Steuer mit Ablauf eines
Veranlagungszeitraums entsteht. Um einen solchen Veranlagungszeitraum geht es hier
nicht.
Die vorliegenden beitragsrechtlichen Fälle unterscheiden sich auch erheblich von
denjenigen, in denen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei
Änderung von Steuernormen mit Wirkung für den laufenden Veranlagungszeitraum von einer
unechten Rückwirkung auszugehen ist. Denn in den letztgenannten Fällen kann die
Steuerschuld nach der alten Rechtslage, das heißt vor der Rechtsänderung, noch entstehen,
nämlich mit Ablauf des Veranlagungszeitraums. In den Fällen der Beschwerdeführerinnen
konnte die Beitragspflicht dementgegen zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Neuregelung
am 1. Februar 2004 selbst bei Erlass einer wirksamen Satzung nicht mehr wirksam
beziehungsweise lediglich für eine „juristische Sekunde“ zur Entstehung gebracht werden,
weil rückwirkend mit Ablauf des 31. Dezember 1997 Festsetzungsverjährung eingetreten
wäre.
bb) (1) Gesetze mit echter Rückwirkung sind grundsätzlich nicht mit der Verfassung
vereinbar (vgl. BVerfGE 45, 142 <167 f.>; 101, 239 <262>; 132, 302 <318>; 135, 1 <21>;
stRspr). Von diesem grundsätzlichen Verbot echt rückwirkender Gesetze bestehen jedoch
Ausnahmen (BVerfGE 135, 1 <21>; vgl. BVerfGE 13, 261 <272 f.>; 18, 429 <439>; 30, 367
<387 f.>; 50, 177 <193 f.>; 88, 384 <404>; 95, 64 <86 f.>; 101, 239 <263 f.>; 122, 374
<394 f.>; 126, 369 <393 f.>; 131, 20 <39>; stRspr). Das Rückwirkungsverbot findet im
Grundsatz des Vertrauensschutzes nicht nur seinen Grund, sondern auch seine Grenze
(BVerfGE 135, 1 <21>; vgl. BVerfGE 88, 384 <404>; 122, 374 <394>; 126, 369 <393>). Es
gilt nicht, soweit sich kein Vertrauen auf den Bestand des geltenden Rechts bilden konnte
(BVerfGE 135, 1 <21 f.>; vgl. BVerfGE 95, 64 <86 f.>; 122, 374 <394>) oder ein Vertrauen
auf eine bestimmte Rechtslage sachlich nicht gerechtfertigt und daher nicht schutzwürdig
war (BVerfGE 135, 1 <22>; vgl. BVerfGE 13, 261 <271>; 50, 177 <193>).
Eine Ausnahme vom Grundsatz der Unzulässigkeit echter Rückwirkungen ist gegeben,
wenn die Betroffenen schon im Zeitpunkt, auf den die Rückwirkung bezogen wird, nicht auf
den Fortbestand einer gesetzlichen Regelung vertrauen durften, sondern mit deren Änderung
rechnen mussten (BVerfGE 135, 1 <22>; vgl. BVerfGE 13, 261 <272>; 30, 367 <387>; 95, 64
<86 f.>; 122, 374 <394>). Vertrauensschutz kommt insbesondere dann nicht in Betracht,
wenn die Rechtslage so unklar und verworren war, dass eine Klärung erwartet werden
musste (BVerfGE 135, 1 <22>; vgl. BVerfGE 13, 261 <272>; 18, 429 <439>; 30, 367 <388>;
50, 177 <193 f.>; 88, 384 <404>; 122, 374 <394>; 126, 369 <393 f.>), oder wenn das
bisherige Recht in einem Maße systemwidrig und unbillig war, dass ernsthafte Zweifel an
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seiner Verfassungsmäßigkeit bestanden (BVerfGE 135, 1 <22>; vgl. BVerfGE 13, 215
<224>; 30, 367 <388>). Der Vertrauensschutz muss ferner zurücktreten, wenn überragende
Belange des Gemeinwohls, die dem Prinzip der Rechtssicherheit vorgehen, eine
rückwirkende Beseitigung erfordern (BVerfGE 135, 1 <22>; vgl. BVerfGE 13, 261 <272>; 18,
429 <439>; 88, 384 <404>; 95, 64 <87>; 101, 239 <263 f.>; 122, 374 <394 f.>), wenn der
Bürger sich nicht auf den durch eine ungültige Norm erzeugten Rechtsschein verlassen
durfte (BVerfGE 135, 1 <22>; vgl. BVerfGE 13, 261 <272>; 18, 429 <439>; 50, 177 <193 f.>;
101, 239 <263 f.>; 122, 374 <394 f.>), oder wenn durch die sachlich begründete
rückwirkende Gesetzesänderung kein oder nur ganz unerheblicher Schaden verursacht wird
(sogenannter Bagatellvorbehalt, BVerfGE 135, 1 <22 f.>; vgl. BVerfGE 30, 367 <389>; 72,
200 <258>).
(2) Eine Ausnahme vom Grundsatz der Unzulässigkeit echter Rückwirkungen liegt hier
nicht vor. Von den in der Rechtsprechung anerkannten Fallgruppen zulässigerweise echt
rückwirkender Gesetze kommt hier nur diejenige der Vorhersehbarkeit einer Neuregelung
wegen Unklarheit und Verworrenheit der ursprünglichen Gesetzeslage in Betracht. Diese
vermag die Rückwirkung des § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg n.F. in den vorliegenden Fällen
allerdings nicht zu rechtfertigen.
Die Betroffenen mussten vorliegend nicht mit einer Rechtsänderung rechnen. Das
Oberverwaltungsgericht Brandenburg hatte sich im Urteil vom 8. Juni 2000 (- 2 D 29/98.NE -,
juris) eindeutig dafür entschieden, in dem Konflikt zwischen den finanziellen Interessen der
Gemeinden und Zweckverbände einerseits und den Interessen der Bürger andererseits
letzteren den Vorrang zu geben. Es wollte ausdrücklich einer „erheblichen
Rechtsunsicherheit hinsichtlich des Zeitpunkts des Entstehens und der Verjährung von
Beitragsforderungen“ entgegenwirken (a.a.O., Rn. 48). Das Oberverwaltungsgericht
Brandenburg schloss sich mit seinem Urteil vom 8. Juni 2000 (a.a.O., Rn. 48) der
Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen an, das zur
Parallelbestimmung des nordrhein-westfälischen Kommunalabgabengesetzes, welches als
Vorlage für das brandenburgische Kommunalabgabengesetz gedient hatte, bereits mit Urteil
vom 18. Mai 1999 (- 15 A 2880/96 -, NVwZ-RR 2000, S. 535 ff.) die Auslegung vertreten
hatte, dass es für den Zeitpunkt des Entstehens der sachlichen Beitragspflicht maßgeblich
auf das erste „Inkraftsetzen“ einer vermeintlich gültigen Satzung ankomme; damit hatte es
seine frühere Rechtsprechung, nach der unwirksame Beitragssatzungen für die Frage des
Zeitpunkts des Entstehens der Beitragspflicht unerheblich sein sollten, ausdrücklich
aufgegeben (a.a.O., S. 537).
Angesichts des klärenden Urteils des Oberverwaltungsgerichts Brandenburg vom 8. Juni
2000 und der nachfolgenden Rechtsprechung (vgl. OVG Brandenburg, Urteil vom
5. Dezember 2001 - 2 A 611/00 -, MittStGB Bbg. 2002, S. 126 <131>; Urteil vom 27. März
2002 - 2 A 480/00 - S. 15 f.; Urteil vom 3. Dezember 2003 - 2 A 733/03 -, LKV 2004, S. 555
<556>) sprach bis zur Neuregelung nichts dafür, dass der Gesetzgeber die Vorschrift des
§ 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg a.F. entgegen der Auslegung durch das Oberverwaltungsgericht
rückwirkend abändern würde.
Im Übrigen rechtfertigt allein die Auslegungsbedürftigkeit einer Norm nicht deren
rückwirkende Änderung; erst wenn Auslegungszweifel ein Maß erreichen, das zur
Verworrenheit der Rechtslage führt, darf der Gesetzgeber eine klärende Neuregelung auf die
Vergangenheit erstrecken (vgl. BVerfGE 135, 1 <23>). Eine solche Unklarheit und
Verworrenheit der ursprünglichen Gesetzeslage war hier nicht gegeben. Die Vorschrift des §
8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg a.F. war hinsichtlich ihres Verständnisses nach Wortlaut und
Regelungsgehalt nicht fragwürdig oder gar unverständlich, sondern klar formuliert. Ihre
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Auslegungsbedürftigkeit im Hinblick auf die Voraussetzungen für das Entstehen der
Beitragspflicht hat zwar zu divergierenden Standpunkten geführt. Eine „Klarstellung“ durch ein
echt rückwirkendes Gesetz rechtfertigt dies indes nicht (vgl. BVerfGE 135, 1 <25>).
Eine durch das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Brandenburg vom 8. Juni 2000 (- 2 D
29/98.NE -, juris) begründete Unsicherheit hinsichtlich der Auslegung des § 8 Abs. 7 Satz 2
KAG Bbg a.F. bestand im Übrigen stets nur bezüglich der Frage, ob die Beitragspflicht für ihr
Entstehen und damit den Beginn der Festsetzungsverjährung eine wirksame Satzung
voraussetzt. Die Formulierungen des Oberverwaltungsgerichts im Urteil vom 8. Juni 2000
waren insoweit nicht ganz eindeutig. So stellte das Oberverwaltungsgericht einerseits
leitsatzmäßig fest, es komme „für das Entstehen der Anschlussbeitragspflicht (…) nach § 8
Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg für bereits an die leitungsgebundene Einrichtung oder Anlage
anschließbare Grundstücke nicht auf das In-Kraft-Treten der ersten gültigen Beitragssatzung
an, sondern auf den Zeitpunkt, in dem die Gemeinde oder der Zweckverband erstmals eine
Beitragssatzung in Kraft setzen wollte, beziehungsweise den in dieser Satzung bestimmten
späteren Zeitpunkt des Entstehens der Beitragspflicht“. Andererseits betonte es in den
Entscheidungsgründen, dass „ohne gültige Beitragssatzung (…) auch für Beiträge nach § 8
KAG eine sachliche Beitragspflicht nicht entstehen kann“ (OVG Brandenburg, Urteil vom
8. Juni 2000 - 2 D 29/98.NE -, juris, Rn. 45).
Klar war allerdings stets, dass für den Zeitpunkt des Entstehens der Beitragspflicht und des
Verjährungsbeginns die erste Satzung maßgeblich war, selbst wenn diese unwirksam
gewesen sein sollte. Dieser Entstehungszeitpunkt wurde durch die Neuregelung des § 8 Abs.
7 Satz 2 KAG Bbg n.F. auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens einer „rechtswirksamen“ Satzung
verschoben.
d) Selbst wenn die Anwendung des § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg n.F. in Fällen, in denen
Beiträge nach § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg a.F. nicht mehr erhoben werden könnten, mit der
formalen Begründung des Oberverwaltungsgerichts als unechte Rückwirkung zu qualifizieren
wäre, läge ein Verstoß gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes vor. Denn diese
unechte Rückwirkung stünde einer echten Rückwirkung jedenfalls im Ergebnis nahe,
weshalb an ihre Vereinbarkeit mit der Verfassung im Verhältnis zu sonstigen Fällen unechter
Rückwirkung gesteigerte Anforderungen zu stellen wären (vgl. BVerfGE 132, 302 <319>).
aa) In den vorliegenden Fällen war die Beitragsschuld nach der alten Rechtslage zwar nicht
durch Festsetzungsverjährung erloschen (vgl. § 12 Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe b KAG Bbg in
Verbindung mit § 47 AO), weil sie mangels wirksamer Satzung noch nicht entstanden war.
Die Beitragsforderung konnte nach der alten Rechtslage jedoch nicht mehr erhoben werden,
weil sie in der logischen Sekunde ihres Entstehens durch rückwirkendes Inkrafttreten einer
wirksamen Satzung zugleich wegen Festsetzungsverjährung erloschen wäre. Dieser Fall
steht dem einer echten Rückwirkung jedenfalls im Ergebnis nahe (vgl. BVerfGE 132, 302
<319>). Denn für den von einer Beitragspflicht betroffenen Bürger macht es keinen
Unterschied, ob die Beitragsforderung bereits wegen Verjährung erloschen ist oder nicht
mehr wirksam zur Entstehung gebracht werden kann, weil sie in der logischen Sekunde ihres
Entstehens wegen Verjährung erloschen wäre. Für den Vertrauensschutz des Bürgers
kommt es vielmehr darauf an, ob er auf der Grundlage der geltenden Rechtslage noch mit
der Heranziehung zu einem Beitrag rechnen musste. Schreibt das geltende Recht in seiner
Auslegung durch die Gerichte die rückwirkende Inkraftsetzung einer Satzung auf einen
Zeitpunkt vor, der länger zurückliegt als die Festsetzungsfrist von vier Jahren, ist dies nicht
der Fall.
bb) Bei einer Gesamtabwägung zwischen dem Gewicht des enttäuschten Vertrauens
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einerseits und dem Gewicht und der Dringlichkeit der die Rechtsänderung rechtfertigenden
Gründe andererseits (vgl. BVerfGE 127, 1 <17 f.>; 127, 31 <47 f.>; 127, 61 <76 f.>; 132, 302
<320>) hat der Gesetzgeber dem verfassungsrechtlich gebotenen Vertrauensschutz der
Beschwerdeführerinnen nicht in hinreichendem Maß Rechnung getragen. In den vorliegenden
Fällen erwächst Vertrauen zwar nicht in erster Linie durch in besonderer Weise
schützenswerte Dispositionen der Beitragsschuldner, sondern im Wesentlichen aus der
Gewährleistungsfunktion des geltenden Rechts (vgl. BVerfGE 135, 1 <22>; 127, 31 <57 f.>).
Dabei kann es nicht darauf ankommen, ob eine Forderung wegen Festsetzungsverjährung
erloschen ist (vgl. § 12 Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe b KAG Bbg in Verbindung mit § 47 AO) oder
ob sie nicht mehr wirksam zur Entstehung gebracht werden kann, weil sie in der juristischen
Sekunde ihres Entstehens wegen Festsetzungsverjährung erlischt. Maßgeblich ist vielmehr
allein, dass die Forderung nicht mehr erhoben werden kann. Hierauf müssen die
Abgabepflichtigen vertrauen dürfen. Andernfalls wäre das Vertrauen in die Rechtssicherheit
und Rechtsbeständigkeit der Rechtsordnung als Garanten einer freiheitlichen
Wirtschaftsordnung ernsthaft gefährdet (vgl. BVerfGE 109, 133 <180>; 126, 369 <393>; 127,
1 <16>; 135, 1 <22>; stRspr). Die bloß allgemeine Erwartung, das geltende Recht werde
zukünftig unverändert fortbestehen, genießt zwar, sofern keine besonderen Momente der
Schutzwürdigkeit hinzutreten, keinen besonderen verfassungsrechtlichen Schutz (vgl.
BVerfGE 38, 61 <83>; 68, 193 <222>; 105, 17 <40>; 109, 133 <180 f.>; 127, 1 <17>; 135, 1
<22>; stRspr). Das diesen Grundsatz rechtfertigende Anliegen, die notwendige Flexibilität der
Rechtsordnung zu wahren, zielt indes auf künftige Rechtsänderungen und relativiert nicht
ohne Weiteres die Verlässlichkeit der Rechtsordnung für die Vergangenheit (vgl. BVerfGE
135, 1 <22>).
Das allgemeine Ziel der Umgestaltung des Abgabenrechts sowie fiskalische Gründe
- nämlich das öffentliche Interesse an der Refinanzierung der öffentlichen
Abwasserbeseitigungsanlage - rechtfertigen die rückwirkende Abgabenbelastung hier nicht
(vgl. BVerfGE 127, 1 <26>; 127, 31 <59>; 132, 302 <331>). Dies gilt auch vor dem
Hintergrund der besonderen tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten im
Zusammenhang mit der Wiedervereinigung, insbesondere den Schwierigkeiten beim Aufbau
einer funktionierenden kommunalen Selbstverwaltung, bei der Gründung von
Zweckverbänden, der erstmaligen Schaffung von wirksamem Satzungsrecht und der Lösung
des Altanschließerproblems (vgl. Verfassungsgericht für das Land Brandenburg, Beschluss
vom 21. September 2012 - VfGBbg 46/11 -, juris, Rn. 86; Möller, in: Driehaus,
Kommunalabgabenrecht, § 8 Rn. 2006 f. ).
Zwar wurde durch die Herstellung der Abwasserbeseitigungsanlage der Wert der
angeschlossenen Grundstücke dauerhaft erhöht. Die Bürger haben einen Sondervorteil
empfangen, für den sie grundsätzlich die volle nach dem Gesetz entstandene Gegenleistung
zu erbringen haben (vgl. BVerfGE 137, 1 <18>; dazu auch BVerfGK 16, 162 <168>;
BVerwGE 67, 129 <131 f.>; BVerwG, Beschluss vom 7. Februar 1996 - BVerwG 8 B 13.96 -
Buchholz 401.9 Beiträge Nr. 36, S. 3 <4>).
Das Oberverwaltungsgericht Brandenburg hat in seinem Urteil vom 8. Juni 2000 (- 2 D
29/98.NE -, juris, Rn. 48) allerdings zu Recht darauf hingewiesen, dass die Gemeinden und
Zweckverbände durchaus die Möglichkeit hatten, Beitragsforderungen rechtzeitig geltend zu
machen und so keine finanziellen Einbußen zu erleiden. § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg a.F.
räumte den Gemeinden und Zweckverbänden bereits bei der Satzungsgebung die
Möglichkeit ein, die Beitragspflicht nicht schon mit dem Inkrafttreten der Satzung entstehen
zu lassen, sondern durch Satzung einen späteren Zeitpunkt für die Entstehung der
Beitragspflicht zu bestimmen. Diese Ausnahmeregelung ermöglichte es den Gemeinden und
Zweckverbänden, auch in Ansehung der Aufbausituation in Brandenburg zunächst die
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Voraussetzungen für die verwaltungsmäßig ordnungsgemäße Abwicklung einer Vielzahl
gleichzeitig anfallender Beitragsverfahren zu schaffen. Verzichten die Gemeinden und
Zweckverbände auf die Inanspruchnahme dieser sie begünstigenden Ausnahmeregelung,
dokumentieren sie damit, dass sie des hierdurch gewährten Schutzes nach eigener
Einschätzung nicht mehr bedürfen (vgl. OVG Brandenburg, Urteil vom 8. Juni 2000 - 2 D
29/98.NE -, juris, Rn. 48; vgl. für die gleichlautende Bestimmung des § 8 Abs. 7 Satz 2 des
Kommunalabgabengesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen - KAG NRW - OVG
Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 18. Mai 1999 - 15 A 2880/96 -, NVwZ-RR 2000, S. 535
<536 f.>).
Darüber hinaus konnten die Gemeinden und Zweckverbände vor der Neuregelung des § 8
Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg auch nicht davon ausgehen, dass ihnen nach dem Erlass der ersten
Beitragssatzung mehr als die gesetzliche vierjährige Festsetzungsfrist bleiben würde, um
Beitragsbescheide gegenüber den Beitragspflichtigen zu erlassen. Denn sie mussten bei
pflichtgemäßem Verhalten wenigstens selbst von der Wirksamkeit der eigenen
Beitragssatzung ausgehen. Sie hätten damit Anlass gehabt, die Beitragspflichtigen innerhalb
von vier Jahren nach Ablauf des Jahres ihres ersten Satzungsbeschlusses zu veranlagen.
Dass die Beklagte dies in den vorliegenden Fällen nicht rechtzeitig getan hat, fällt in ihren
Verantwortungsbereich (vgl. VG Frankfurt (Oder), Urteil vom 28. August 2006 - 5 K 2024/04 -
, juris, Rn. 62).
C.
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG, diejenige
über die Festsetzung des Gegenstandswerts auf § 14 Abs. 1, § 37 Abs. 2 Satz 2 RVG (vgl.
BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).
Gaier
Schluckebier
Paulus