Urteil des BVerfG vom 22.12.2015

Erfolgreiche Verfassungsbeschwerden gegen die rückwirkende Festsetzung von Kanalanschlussbeiträgen

- Bevollmächtigte: Rechtsanwälte Göpfert,
Sielower Straße 36, 03044 Cottbus -
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 2945/14 -
- 1 BvR 2955/14 -
- 1 BvR 2956/14 -
- 1 BvR 2959/14 -
- 1 BvR 40/15 -
- 1 BvR 87/15 -
IM NAMEN DES VOLKES
In den Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerden
I.
1. des Herrn H… ,
2. des Herrn H… ,
1. unmittelbar gegen
a) den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts
Berlin-Brandenburg vom 29. September 2014 - OVG 9 N 36.14 -,
b) das Urteil des Verwaltungsgerichts Cottbus
vom 27. Februar 2014 - VG 6 K 1146/12 -,
2. mittelbar gegen
a) § 8 Abs. 7 Satz 2 des Kommunalabgabengesetzes
für das Land Brandenburg in der Fassung des Zweiten
Gesetzes zur Entlastung der Kommunen von pflichtigen
Aufgaben vom 17. Dezember 2003 (GVBl I S. 294),
b) § 19 Abs. 1 des Kommunalabgabengesetzes für das Land
Brandenburg in der Fassung des Sechsten Gesetzes
zur Änderung des Kommunalabgabengesetzes für das Land
- Bevollmächtigte: Rechtsanwälte Göpfert,
Sielower Straße 36, 03044 Cottbus -
- Bevollmächtigte: Rechtsanwälte Göpfert,
Sielower Straße 36, 03044 Cottbus -
Brandenburg vom 5. Dezember 2013 (GVBl I Nr. 40 S. 1)
- 1 BvR 2945/14 -,
II.
des Herrn A… ,
1. unmittelbar gegen
a) den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts
Berlin-Brandenburg vom 29. September 2014 - OVG 9 N 22.14 -,
b) das Urteil des Verwaltungsgerichts Cottbus
vom 23. Januar 2014 - VG 6 K 1100/12 -,
2. mittelbar gegen
a) § 8 Abs. 7 Satz 2 des Kommunalabgabengesetzes
für das Land Brandenburg in der Fassung des Zweiten
Gesetzes zur Entlastung der Kommunen von pflichtigen
Aufgaben vom 17. Dezember 2003 (GVBl I S. 294),
b) § 19 Abs. 1 des Kommunalabgabengesetzes für das Land
Brandenburg in der Fassung des Sechsten Gesetzes
zur Änderung des Kommunalabgabengesetzes für das Land
Brandenburg vom 5. Dezember 2013 (GVBl I Nr. 40 S. 1)
- 1 BvR 2955/14 -,
III.
1. der Frau J… ,
2.
des Herrn J… ,
1. unmittelbar gegen
a) den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts
Berlin-Brandenburg vom 29. September 2014 - OVG 9 N 44.14 -,
b) das Urteil des Verwaltungsgerichts Cottbus
vom 11. März 2014 - VG 6 K 1096/12 -,
- Bevollmächtigte: Rechtsanwälte Göpfert,
Sielower Straße 36, 03044 Cottbus -
- Bevollmächtigte: Rechtsanwälte Göpfert,
Sielower Straße 36, 03044 Cottbus -
2. mittelbar gegen
a) § 8 Abs. 7 Satz 2 des Kommunalabgabengesetzes
für das Land Brandenburg in der Fassung des Zweiten
Gesetzes zur Entlastung der Kommunen von pflichtigen
Aufgaben vom 17. Dezember 2003 (GVBl I S. 294),
b) § 19 Abs. 1 des Kommunalabgabengesetzes für das Land
Brandenburg in der Fassung des Sechsten Gesetzes
zur Änderung des Kommunalabgabengesetzes für das Land
Brandenburg vom 5. Dezember 2013 (GVBl I Nr. 40 S. 1)
- 1 BvR 2956/14 -,
IV.
des Herrn S… ,
1. unmittelbar gegen
a) den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts
Berlin-Brandenburg vom 29. September 2014 - OVG 9 N 35.14 -,
b) das Urteil des Verwaltungsgerichts Cottbus
vom 27. Februar 2014 - VG 6 K 1125/12 -,
2. mittelbar gegen
a) § 8 Abs. 7 Satz 2 des Kommunalabgabengesetzes
für das Land Brandenburg in der Fassung des Zweiten
Gesetzes zur Entlastung der Kommunen von pflichtigen
Aufgaben vom 17. Dezember 2003 (GVBl I S. 294),
b) § 19 Abs. 1 des Kommunalabgabengesetzes für das Land
Brandenburg in der Fassung des Sechsten Gesetzes
zur Änderung des Kommunalabgabengesetzes für das Land
Brandenburg vom 5. Dezember 2013 (GVBl I Nr. 40 S. 1)
- 1 BvR 2959/14 -,
V.
des Herrn G… ,
1. gegen
a) den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Berlin-
Brandenburg vom 11. Dezember 2014 - OVG 9 N 161.13 -,
b) das Urteil des Verwaltungsgerichts Cottbus
vom 21. März 2013 - VG 6 K 1107/12 -
- 1 BvR 40/15 -,
2. gegen
a) den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Berlin-
Brandenburgvom 11. Dezember 2014 - OVG 9 N 160.13 -,
b) das Urteil des Verwaltungsgerichts Cottbus
vom 21. März 2013 - VG 6 K 1106/12 -
- 1 BvR 87/15 -
hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richter Gaier,
Schluckebier,
Paulus
am 22. Dezember 2015 einstimmig beschlossen:
1. Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom
29. September 2014 - OVG 9 N 36.14 - und das Urteil des Verwaltungsgerichts
Cottbus vom 27. Februar 2014 - VG 6 K 1146/12 - verletzen die Beschwerdeführer zu
I. in ihren Grundrechten aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung
mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes (Artikel 20
Absatz 3 des Grundgesetzes). Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts wird
aufgehoben und die Sache an dieses zurückverwiesen.
2. Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom
29. September 2014 - OVG 9 N 22.14 - und das Urteil des Verwaltungsgerichts
Cottbus vom 23. Januar 2014 - VG 6 K 1100/12 - verletzen den Beschwerdeführer zu
II. in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung
mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes (Artikel 20
Absatz 3 des Grundgesetzes). Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts wird
aufgehoben und die Sache an dieses zurückverwiesen.
3. Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom
29. September 2014 - OVG 9 N 44.14 - und das Urteil des Verwaltungsgerichts
Cottbus vom 11. März 2014 - VG 6 K 1096/12 - verletzen die Beschwerdeführer zu III.
in ihren Grundrechten aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit
dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes (Artikel 20
Absatz 3 des Grundgesetzes). Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts wird
1
2
3
aufgehoben und die Sache an dieses zurückverwiesen.
4. Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom
29. September 2014 - OVG 9 N 35.14 - und das Urteil des Verwaltungsgerichts
Cottbus vom 27. Februar 2014 - VG 6 K 1125/12 - verletzen den Beschwerdeführer
zu IV. in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in
Verbindung mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes
(Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes). Der Beschluss des
Oberverwaltungsgerichts wird aufgehoben und die Sache an dieses
zurückverwiesen.
5. Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom
11. Dezember 2014 - OVG 9 N 161.13 - und das Urteil des Verwaltungsgerichts
Cottbus vom 21. März 2013 - VG 6 K 1107/12 - verletzen den Beschwerdeführer zu V.
in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit
dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes (Artikel 20
Absatz 3 des Grundgesetzes). Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts wird
aufgehoben und die Sache an dieses zurückverwiesen.
6. Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom
11. Dezember 2014 - OVG 9 N 160.13 - und das Urteil des Verwaltungsgerichts
Cottbus vom 21. März 2013 - VG 6 K 1106/12 - verletzen den Beschwerdeführer zu V.
in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit
dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes (Artikel 20
Absatz 3 des Grundgesetzes). Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts wird
aufgehoben und die Sache an dieses zurückverwiesen.
7. Das Land Brandenburg hat den Beschwerdeführern ihre notwendigen Auslagen zu
erstatten.
G r ü n d e :
Die Beschwerdeführer wenden sich mit ihren Verfassungsbeschwerden gegen ihre
Heranziehung
zu
Kanalanschlussbeiträgen
auf
der
Grundlage
des
Kommunalabgabengesetzes für das Land Brandenburg (KAG Bbg).
I.
1. Die Beschwerdeführer sind Eigentümer von Grundstücken, die bereits vor dem
3. Oktober 1990 an die Schmutzwasserkanalisation im Gebiet der beklagten Stadt (im
Folgenden: Beklagte) angeschlossen wurden. In den Jahren 2010 und 2011 zog die Beklagte
die Beschwerdeführer für die Grundstücke zu Kanalanschlussbeiträgen heran. Mit ihren
Verfassungsbeschwerden rügen die Beschwerdeführer eine Verletzung ihrer Grundrechte
aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 3 Abs. 1 GG.
2. Die Beklagte und das Ministerium der Justiz und für Europa und Verbraucherschutz des
Landes Brandenburg hatten Gelegenheit, zu den Verfassungsbeschwerden Stellung zu
nehmen. Die Akten der Ausgangsverfahren wurden beigezogen.
4
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II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerden zur Entscheidung an und gibt ihnen statt.
Die Annahme ist zur Durchsetzung von in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechten der
Beschwerdeführer angezeigt (vgl. § 93c Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b
BVerfGG). Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der
Verfassungsbeschwerden
maßgeblichen
verfassungsrechtlichen
Fragen
bereits
entschieden. Die im Wesentlichen zulässigen Verfassungsbeschwerden sind offensichtlich
begründet (vgl. § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
Die angegriffenen Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführer in ihren Grundrechten
aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des
Vertrauensschutzes aus Art. 20 Abs. 3 GG. Die Anwendung des § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg
in der Fassung des Zweiten Gesetzes zur Entlastung der Kommunen von pflichtigen
Aufgaben vom 17. Dezember 2003 (GVBl I S. 294) in Fällen, in denen Beiträge nach der
ursprünglichen Fassung dieser Vorschrift vom 27. Juni 1991 (GVBl I S. 200) nicht mehr
erhoben werden könnten, verstößt gegen das rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot (vgl. im
Einzelnen BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 12. November 2015 -
1 BvR 2961/14, 1 BvR 3051/14 -, www.bverfg.de).
III.
Die angegriffenen Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts sind aufzuheben und die
Sachen an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2, § 95 Abs. 2
BVerfGG).
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Gaier
Schluckebier
Paulus