Urteil des BVerfG vom 15.01.2016

Erfolgreiche Verfassungsbeschwerden gegen die rückwirkende Festsetzung von Kanalanschlussbeiträgen

- Bevollmächtigter:
Rechtsanwalt Frank Mittag,
Schloßkirchplatz 4, 03046 Cottbus -
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 2911/14 -
IM NAMEN DES VOLKES
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
1.
des Herrn W… ,
2.
der Frau W… ,
1. unmittelbar gegen
a) den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. September 2014 - BVerwG
9 B 22.14 -,
b) das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 14. November
2013 - OVG 9 B 34.12 -,
c) das Urteil des Verwaltungsgerichts Cottbus vom 3. November 2011 - VG 6 K 15/11 -
,
d) den Widerspruchsbescheid des Oberbürgermeisters der Stadt Cottbus vom 13.
Dezember 2010 - II-70/sd-rei -,
e) den Beitragsbescheid des Oberbürgermeisters der Stadt Cottbus vom 19. Oktober
2010 - 644101934 -,
2. mittelbar gegen
a) § 8 Abs. 7 Satz 2 des Kommunalabgabengesetzes für das Land Brandenburg in der
Fassung des Zweiten Gesetzes zur Entlastung der Kommunen von pflichtigen
Aufgaben vom 17. Dezember 2003 (GVBl I S. 294),
b) § 12 Abs. 3a des Kommunalabgabengesetzes für das Land Brandenburg in der
Fassung des Dritten Gesetzes zur Änderung des Kommunalabgabengesetzes für
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das Land Brandenburg vom 2. Oktober 2008 (GVBl I S. 218),
c) § 19 Abs. 1 des Kommunalabgabengesetzes für das Land Brandenburg in der
Fassung des Sechsten Gesetzes zur Änderung des Kommunalabgabengesetzes für
das Land Brandenburg vom 5. Dezember 2013 (GVBl I Nr. 40 S. 1)
hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richter Gaier,
Schluckebier,
Paulus
am 15. Januar 2016 einstimmig beschlossen:
1. Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 14. November
2013 - OVG 9 B 34.12 -, das Urteil des Verwaltungsgerichts Cottbus vom
3. November 2011 - VG 6 K 15/11 -, der Widerspruchsbescheid des
Oberbürgermeisters der Stadt Cottbus vom 13. Dezember 2010 - II-70/sd-rei - und
der Beitragsbescheid des Oberbürgermeisters der Stadt Cottbus vom 19. Oktober
2010 - 644101934 - verletzen die Beschwerdeführer in ihren Grundrechten aus
Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem
verfassungsrechtlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes (Artikel 20 Absatz 3 des
Grundgesetzes). Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts wird aufgehoben. Damit
wird der Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. September 2014 -
BVerwG 9 B 22.14 - gegenstandslos. Die Sache wird an das Oberverwaltungsgericht
zurückverwiesen.
2. Das Land Brandenburg hat den Beschwerdeführern ihre notwendigen Auslagen zu
erstatten.
G r ü n d e :
Die Beschwerdeführer wenden sich mit ihrer Verfassungsbeschwerde gegen ihre
Heranziehung
zu
einem
Kanalanschlussbeitrag
auf
der
Grundlage
des
Kommunalabgabengesetzes für das Land Brandenburg (KAG Bbg).
I.
1. Die Beschwerdeführer sind Miteigentümer eines Grundstücks, das bereits vor dem
3. Oktober 1990 an die Schmutzwasserkanalisation im Gebiet der beklagten Stadt (im
Folgenden: Beklagte) angeschlossen wurde. Im Jahr 2010 zog die Beklagte die
Beschwerdeführer für das Grundstück zu einem Kanalanschlussbeitrag heran. Mit ihrer
Verfassungsbeschwerde rügen die Beschwerdeführer eine Verletzung ihrer Grundrechte aus
Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 3 Abs. 1 GG.
2. Die Beklagte, das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz und das
Ministerium der Justiz und für Europa und Verbraucherschutz des Landes Brandenburg
hatten Gelegenheit, zu der Verfassungsbeschwerde Stellung zu nehmen. Die Akten des
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Ausgangsverfahrens wurden beigezogen.
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt
(§ 93c Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Annahme ist zur
Durchsetzung von in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechten der Beschwerdeführer
angezeigt. Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der
Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden.
Die im Wesentlichen zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet.
Die angegriffenen Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführer in ihren Grundrechten
aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Grundsatz des Vertrauensschutzes aus Art. 20
Abs. 3 GG. Die Anwendung des § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg in der Fassung des Zweiten
Gesetzes zur Entlastung der Kommunen von pflichtigen Aufgaben vom 17. Dezember 2003
(GVBl I S. 294) in Fällen, in denen Beiträge nach der ursprünglichen Fassung dieser
Vorschrift vom 27. Juni 1991 (GVBl I S. 200) nicht mehr erhoben werden könnten, verstößt
gegen das rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot (vgl. im Einzelnen BVerfG, Beschluss der
2. Kammer des Ersten Senats vom 12. November 2015 - 1 BvR 2961/14, 1 BvR 3051/14 -,
www.bverfg.de).
III.
Die angegriffene Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts ist aufzuheben und die Sache
an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2, § 95 Abs. 2 BVerfGG).
Der ebenfalls angegriffene Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts wird damit
gegenstandslos.
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Gaier
Schluckebier
Paulus