Urteil des BVerfG vom 14.10.2009

subjektives recht, ausschluss der öffentlichkeit, verfassungsbeschwerde, verfügung

- Bevollmächtigte: Rechtsanwälte Dr. Johannes Weberling,
Prinzessinnenstraße 14, 10969 Berlin -
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BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 2436/09 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
der D… GmbH,
gegen a) die Verfügung des Vorsitzenden der 6. Großen Jugendkammer des
Landgerichts Ulm vom 9. Oktober 2009 - 6 KLs 41 Js 6865/09 JK -,
b) die Verfügung des Vorsitzenden der 6. Großen Jugendkammer des
Landgerichts Ulm vom 8. Oktober 2009 - 6 KLs 41 Js 6865/09 JK -,
c) die Verfügung des Vorsitzenden der 6. Großen Jugendkammer des
Landgerichts Ulm vom 16. September 2009 - 6 KLs 41 Js 6865/09 JK -
und
Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Präsidenten Papier
und die Richter Eichberger,
Masing
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung
vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473 ) am 14. Oktober 2009 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Damit erledigt sich zugleich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Gründe:
Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil die
Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegen. Sie hat keine
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hinreichende Aussicht auf Erfolg, weil sie unzulässig ist. Damit erledigt sich zugleich
der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Die Beschwerdeführerin hat den Rechtsweg gegen die angegriffenen Verfügungen
des Vorsitzenden der 6. Großen Jugendkammer des Landgerichts Ulm nicht
erschöpft, soweit sie sich dagegen wendet, dass zur Auswahl der nur in beschränkter
Zahl zur Anwesenheit in der Hauptverhandlung zugelassenen Journalisten ein
Losverfahren anstatt einer Pool-Lösung angeordnet wurde.
Nach § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG ist eine Verfassungsbeschwerde grundsätzlich
erst nach Erschöpfung des Rechtsweges zulässig. Danach muss ein
Beschwerdeführer zunächst die ihm gesetzlich zur Verfügung stehenden, nicht
offensichtlich unzulässigen Rechtsbehelfe ergreifen (vgl. BVerfGE 22, 287 <290>; 28,
1 <6>); namentlich muss er den ihm nach der jeweiligen Verfahrensordnung
eröffneten Instanzenzug durchlaufen (vgl. BVerfGE 4, 193 <198>; 8, 222 <225 f.>; 31,
364 <368>; 57, 170 <180>; 68, 376 <380> ). Durch die umfassende fachgerichtliche
Vorprüfung der Beschwerdepunkte soll dem Bundesverfassungsgericht ein
regelmäßig in mehreren Instanzen geprüftes Tatsachenmaterial unterbreitet und ihm
die Fallanschauung und Rechtsauffassung der Fachgerichte vermittelt werden (vgl.
BVerfGE 8, 222 <227>; 9, 3 <7> ). Zugleich entspricht es der grundgesetzlichen
Zuständigkeitsverteilung und Aufgabenzuweisung, dass vorrangig die Fachgerichte
Rechtsschutz gegen Verfassungsverletzungen selbst gewähren (vgl. BVerfGE 47,
144 <145> ) und etwaige im Instanzenzug auftretende Fehler durch Selbstkontrolle
beheben (vgl. BVerfGE 47, 182 <191>; 68, 376 <380>).
Zwar gehören offensichtlich unzulässige Rechtsmittel nicht zum Rechtsweg (vgl.
BVerfGE 91, 93 <106> ). Andererseits muss der Beschwerdeführer vor der Erhebung
der Verfassungsbeschwerde im Hinblick auf § 90 Abs. 2 BVerfGG von einem
Rechtsmittel grundsätzlich auch dann Gebrauch machen, wenn zweifelhaft ist, ob es
statthaft ist und im konkreten Fall in zulässiger Weise eingelegt werden kann (vgl.
BVerfGE 16, 1 <2 f.>; 91, 93 <106>; vgl. auch BVerfGE 5, 17 <19>; 107, 299 <309>).
In derartigen Fällen ist es grundsätzlich die Aufgabe der Fachgerichte, über streitige
oder noch offene Zulässigkeitsfragen nach einfachem Recht unter Berücksichtigung
der hierzu vertretenen Rechtsansichten zu entscheiden (vgl. BVerfGE 18, 85 <92 f.>;
68, 376 <381>; 70, 180 <185> ). Der Funktion der Verfassungsbeschwerde würde es
zuwiderlaufen, sie anstelle oder gleichsam wahlweise neben einem möglicherweise
statthaften Rechtsmittel zuzulassen (vgl. BVerfGE 1, 5 <6>; 1, 97 <103>). Es ist daher
geboten und einem Beschwerdeführer auch zumutbar, vor der Einlegung einer
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Verfassungsbeschwerde die Statthaftigkeit weiterer einfachrechtlicher Rechtsbehelfe
sorgfältig zu prüfen und von ihnen auch Gebrauch zu machen, wenn sie nicht
offensichtlich unzulässig sind (vgl. BVerfGE 68, 376 <381>). Offensichtlich unzulässig
ist ein Rechtsmittel nur dann, wenn der Rechtsmittelführer nach dem Stand der
Rechtsprechung und Lehre zum maßgebenden Zeitpunkt über dessen Unzulässigkeit
nicht im Ungewissen sein konnte (vgl. BVerfGE 28, 1 <6>; 48, 341 <344>; 49, 252
<255> ).
Hier kommt das Rechtsmittel der Beschwerde nach § 304 Abs. 1 StPO zumindest in
Betracht. Nach dieser Vorschrift ist die Beschwerde gegen alle von den Gerichten im
ersten Rechtszug erlassenen Beschlüsse und Verfügungen des Vorsitzenden
statthaft, soweit das Gesetz sie nicht ausdrücklich der Anfechtbarkeit entzieht. Gemäß
§ 304 Abs. 2 StPO steht die Beschwerde grundsätzlich auch nicht
verfahrensbeteiligten Personen zu, die durch die richterliche Entscheidung betroffen
sind (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 18. Januar 2005 - StB 6/04 -, Juris ;
Engelhardt, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 6. Aufl. 2008, § 304 Rn. 28). Dass
die hier angegriffenen Verfügungen des Vorsitzenden auf Grundlage des § 48 Abs. 2
Satz 3 JGG kraft ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung einer Anfechtung entzogen
wären, ist nicht ersichtlich.
Auch ist nicht dargelegt, dass Rechtsprechung und Lehre in einer keine ernstlichen
Zweifel mehr zulassenden Weise entsprechende Beschwerden regelmäßig als
unstatthaft oder als aus anderen Gründen unzulässig ansehen. Dies ergibt sich
jedenfalls nicht, wie die Beschwerdeführerin meint, allein aus dem Umstand, dass
Rechtsprechung
und
Lehre
die Anfechtbarkeit von sitzungspolizeilichen
Anordnungen, die auf § 176 GVG gestützt werden, überwiegend als unstatthaft
ansehen und das Bundesverfassungsgericht die Einlegung der fachgerichtlichen
Beschwerde in diesen Fällen deshalb für unzumutbar erachtet hat (vgl. BVerfGE 87,
334 <338 f.>). Ungeachtet dessen, ob die angegriffenen Verfügungen auch
sitzungspolizeilichen Gehalt haben mögen, stützen sie sich jedoch auf Vorschriften
des JGG zur Regelung der Öffentlichkeit von Strafverhandlungen gegen jugendliche
Angeklagte, die gegenüber den allgemeinen Regelungen des GVG spezieller Natur
sind (vgl. Eisenberg, Jugendgerichtsgesetz, 13. Aufl. 2009, § 48 Rn. 12). Es ist auch
nicht von vornherein als sicher anzusehen, dass die Fachgerichte diejenigen
Erwägungen, mit der die generelle Unanfechtbarkeit sitzungspolizeilicher
Anordnungen begründet wird (vgl. OLG Köln, Beschluss vom 22. Mai 1963 - 2 W 63-
65/63 -, NJW 1963, S. 1508; OLG Hamm, Beschluss vom 1. Februar 1972 - 3 Ws
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27/72 -, NJW 1972, S. 1246 <1247>; OLG Hamburg, Beschluss vom 10. Juni 1976 - 3
Ws 18/76 -, NJW 1976, S. 1987; offen gelassen BGHSt 44, 23 <25>) auch auf die
Beurteilung der Frage übertragen werden, ob eine Verfügung des Vorsitzenden, die
auf Grundlage des § 48 Abs. 2 Satz 3 JGG einer beschränkten Zahl von
Pressevertretern ausnahmsweise
Zugang
zu
einer
nicht
öffentlichen
Hauptverhandlung gestattet, mit Blick auf ihre Ausgestaltung zur Auswahl der
zuzulassenden Pressevertreter anfechtbar ist.
Vielmehr ist in der fachgerichtlichen Rechtsprechung und Lehre anerkannt, dass
denjenigen nicht verfahrensbeteiligten Personen, die sich auf ein gesetzliches
Anwesenheitsrecht etwa aus § 48 Abs. 2 Satz 1 JGG berufen können, gegen eine
Beschränkung ihrer Anwesenheit die Beschwerde gemäß § 304 StPO zusteht (vgl.
Eisenberg, a.a.O., § 48 Rn. 17; Ostendorf, Jugendgerichtsgesetz, 8. Aufl. 2009, § 48
Rn. 20; Brunner/Dölling, Jugendgerichtsgesetz, 11. Aufl. 2002, § 48 Rn. 21; so wohl
auch KG, Beschluss vom 16. März 2006 - 1 AR 1081/05 u.a. -, Juris ). Soweit
die Beschwerdeführerin demgegenüber betont, dass in Rechtsprechung und Lehre
e b e n s o einhellig die Auffassung vertreten werde, dass anderen nicht
verfahrensbeteiligten Personen, die lediglich nach Maßgabe des § 48 Abs. 2 Satz 3
JGG Zugang zur Hauptverhandlung begehren, gegen eine Versagung die
Beschwerde nicht zustehe, beruht diese Auffassung - soweit ersichtlich - auf dem
Argument, dass diesen nicht verfahrensbeteiligten Personen mangels subjektiven
Rechts regelmäßig eine Beschwerdebefugnis fehlen werde (vgl. KG, Beschluss vom
16. März 2006 - 1 AR 1081/05 u.a. -, Juris ; Ostendorf, a.a.O., § 48 Rn. 20;
Brunner/Dölling, a.a.O., § 48 Rn. 21; Diemer/Schoreit/Sonnen, Jugendgerichtsgesetz,
5. Aufl. 2008, § 48 Rn. 19). Vor diesem Hintergrund ist es jedoch geboten und auch
naheliegend, den Fachgerichten die Frage zur Klärung zu unterbreiten, ob auch die
Beschwerde eines nicht Verfahrensbeteiligten unzulässig ist, der sich zwar nicht auf
ein einfachgesetzlich geregeltes, etwa aus § 48 Abs. 2 Satz 1 JGG folgendes
Anwesenheitsrecht stützen kann, der aber ein Recht auf gleiche Teilhabe an den
durch
eingeschränkte Zulassung
von
Journalisten
eröffneten
Berichterstattungsmöglichkeiten geltend macht, das er aus Art. 3 Abs. 1 GG und Art. 5
Abs. 1 GG meint herleiten zu können. Es ist auch nicht dargelegt oder ersichtlich,
dass das Oberlandesgericht Stuttgart mit Beschluss vom 8. Oktober 2009 - 2 Ws
192/09 - im Zuge der Entscheidung über die von einem weiteren Medienunternehmen
eingelegte Beschwerde gegen die hier in Rede stehenden Verfügungen des
Vorsitzenden der 6. Großen Jugendkammer des Landgerichts Ulm vom 16.
September 2009 diese Frage in abschließender Weise entschieden hätte, so dass
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eine Beschwerde gestützt auf die von der Beschwerdeführerin geltend gemachte
Rechtsposition als offensichtlich aussichtslos angesehen werden müsste.
Es mag zwar zweifelhaft sein, ob die Pressefreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG oder
d i e Informationsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG berührt wäre, wenn die
Fachgerichte eine Ausnahme von einem gesetzlich vorgesehenen Ausschluss der
Öffentlichkeit der Verhandlung nicht zulassen. Zum Schutzbereich der Presse- und
Rundfunkfreiheit gehört ein Recht auf Eröffnung einer Informationsquelle ebenso
wenig wie zu dem der Informationsfreiheit (vgl. BVerfGE 103, 44 <59>; 119, 309
<319> ). Letztlich kann diese Frage hier aber offen bleiben. Denn es ist zumindest
nicht
fernliegend, dass sich im vorliegenden Fall aus dem allgemeinen
Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 5 Abs. 1 Satz 1, 2 GG ein
subjektives Recht der Medienunternehmen auf gleiche Teilhabe an den
Berichterstattungsmöglichkeiten ableiten lässt, die sich aus der eingeschränkten
Eröffnung der nicht öffentlichen Hauptverhandlung für eine Presseberichterstattung
ergeben. Angesichts dessen ist es zumindest nicht ausgeschlossen, dass ein solches
subjektives
Recht
auch
im
fachgerichtlichen Beschwerdeverfahren eine
Beschwerdebefugnis begründen könnte.
Die Voraussetzungen für eine Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde vor
Erschöpfung des Rechtsweges nach § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG liegen nicht vor.
Insbesondere ist nicht dargelegt, dass der Beschwerdeführerin im Falle ihrer
Verweisung auf den Rechtsweg ein schwerer und unabwendbarer Nachteil drohte.
Bereits
angesichts
dessen, dass im vorliegenden Fall zumindest eine
Nachrichtenagentur zur Anwesenheit im Sitzungssaal zugelassen ist, steht nicht etwa
ein genereller Ausschluss der Presseberichterstattung, sondern nur eine
Erschwerung dieser Berichterstattung für die nicht zugelassenen Presseunternehmen
in Rede, die für die hiervon Betroffenen im Wesentlichen einen wirtschaftlichen
Nachteil im Wettbewerb zu den hier zur Berichterstattung zugelassenen
Unternehmen darstellt. Es ist nicht dargelegt, dass dieser Nachteil von solch
überragendem
Gewicht
für
die Beschwerdeführerin ist, dass er eine
Vorabentscheidung nach § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG rechtfertigte.
Der Beschwerdeführerin ist es auch zumutbar, die fachgerichtliche Klärung der
Zulässigkeit
einer Beschwerde gegen die angegriffenen Verfügungen
herbeizuführen. Ausnahmen vom Gebot der Rechtswegerschöpfung über die in § 90
Abs. 2 Satz 2 BVerfGG hinaus vorgesehene Möglichkeit, vorab über eine
Verfassungsbeschwerde zu entscheiden, sind eng zu begrenzen (vgl. BVerfGE 22,
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349 <355> ); sie kommen nur in Betracht, wenn die Erschöpfung des Rechtswegs
objektiv nicht geboten und dem Beschwerdeführer subjektiv nicht zuzumuten ist (vgl.
BVerfGE
9,
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f.> ).
Nach
der
ständigen
Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts kann die Erschöpfung des Rechtswegs ausnahmsweise
entbehrlich sein, wenn im Hinblick auf eine gefestigte jüngere und einheitliche
Rechtsprechung auch im konkreten Einzelfall kein von dieser Rechtsprechung
abweichendes Erkenntnis zu erwarten ist. Erscheint es hingegen - wie hier - in
diesem Sinne nicht offensichtlich ausgeschlossen, Grundrechtsschutz bereits durch
die Fachgerichte zu erlangen, ist es dem Beschwerdeführer regelmäßig zuzumuten,
den nach einfachem Recht vorgesehenen Rechtsweg zu beschreiten und
auszuschöpfen (vgl. BVerfGE 68, 376 <380 f.> ).
Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Papier
Eichberger
Masing