Urteil des BVerfG vom 15.09.2016

Eilantrag gegen die Nichtzulassung von russischen Sportlerinnen und Sportlern zu den Paralympischen Spielen erfolglos

Bundesverfassungsgericht
Sie sind hier:
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvQ 38/16 -
In dem Verfahren
über den Antrag,
im Wege der einstweiligen Anordnung
1.
dem International Paralympic Committee e.V. (IPC), vertreten durch den Vorstand, Adenauerallee 212 - 214, 53113
Bonn, aufzugeben, die Antragstellerin zu 5) zu den Wettbewerben des 50 m-Rückenschwimmens am 16. September
2016 im Rahmen der in Rio de Janeiro bis zum 18. September 2016 stattfindenden Paralympischen Spielen zuzulassen;
2.
dem International Paralympic Committee e.V. (IPC), vertreten durch den Vorstand, Adenauerallee 212 - 214, 53113
Bonn, aufzugeben, die Antragsteller als Olympioniken zur Teilnahme an der Abschlusszeremonie der Paralympischen
Spiele in Rio der Janeiro am 18. September 2016 zuzulassen.
Antragsteller: 1. K…,
2. P…,
3. S…,
4. G…,
5. A…
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwälte Graf von Westphalen Rechtsanwälte
Steuerberater Partnerschaft mbB,
Poststraße 9 - Alte Post, 20354 Hamburg -
hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richter Gaier,
Schluckebier,
Paulus
gemäß § 32 Abs. 1 in Verbindung mit § 93d Abs. 2 BVerfGG in der Fassung der
Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 15. September 2016 einstimmig beschlossen:
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
G r ü n d e :
I.
1
1. Die Antragstellerinnen und der Antragsteller sind vier russische Sportlerinnen und ein russischer Sportler, die im Wege
einer einstweiligen Anordnung durch das Bundesverfassungsgericht nachträglich zu den Paralympischen Spielen
zugelassen werden wollen, die derzeit in Rio de Janeiro in Brasilien stattfinden. Nachdem die meisten Wettkämpfe
mittlerweile beendet sind, wollen die Antragstellerinnen und der Antragsteller zumindest noch an der Abschlusszeremonie
am 18. September 2016 teilnehmen. Die Antragstellerin zu 5) begehrt zudem noch die Verpflichtung des International
Paralympic Committee e.V. (im Folgenden: IPC), sie zu einem am 16. September 2016 angesetzten Schwimmwettbewerb
zuzulassen.
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Aufgrund des Ausschlusses des Russischen Paralympischen Verbandes (im Folgenden: RPC) durch den IPC konnten die
Antragstellerinnen und der Antragsteller bislang nicht an den Paralympischen Spielen teilnehmen. Anlass war ein von der
Weltantidopingagentur (WADA) in Auftrag gegebener Bericht des Sachverständigen Richard McLaren über
Unregelmäßigkeiten bei Dopingkontrollen russischer Spitzensportler anlässlich der Olympischen Winterspiele in Sotchi im
Februar 2014. Auch Anträge der Antragstellerinnen und des Antragstellers auf ihre individuelle Zulassung nach dem Statut
des IPC, wonach sich der Weltverband das Recht vorbehält, Athleten, deren nationale paralympische Verbände nicht befugt
sind, Athleten zur Teilnahme an den Paralympischen Spielen zu nominieren, von Teilnahmevoraussetzungen zu befreien und
sie zur Teilnahme an den Spielen zu nominieren, hatten keinen Erfolg. Dagegen ersuchten die Antragstellerinnen und der
Antragsteller um Eilrechtsschutz vor den deutschen Zivilgerichten, in deren Bezirk der IPC seinen Sitz hat. Die Anträge
wurden vom Landgericht zurückgewiesen; die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde hatte vor dem Oberlandesgericht
keinen Erfolg. Zwischen ihnen und dem IPC bestehe kein vorvertragliches oder vertragliches Schuldverhältnis, das geeignet
sei, den Antragstellerinnen und dem Antragsteller einen individuellen Zulassungsanspruch zu vermitteln. Zu dessen
Begründung könnten sich die Antragstellerinnen und der Antragsteller auch nicht auf das Statut des IPC berufen, weil
damit nur ein Recht des IPC geregelt werde, nicht aber ein einklagbarer Anspruch einzelner Athleten. Die Zurückweisung
der einzelnen Zulassungsanträge stelle auch keine unbillige Behinderung im Sinne des deutschen Kartellrechts dar, weil die
nach § 19 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) gebotene Interessenabwägung zu
Lasten der Antragstellerinnen und des Antragstellers ausfalle.
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2. Mit ihrem am 13. September 2016 gestellten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, der nicht mit der
Erhebung einer Verfassungsbeschwerde verbunden ist, rügen die Antragstellerinnen und der Antragsteller die Verletzung
ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG, ihrer allgemeinen
Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG, ihres Rechts auf Gleichbehandlung aus Art. 3 Abs. 1 GG und ihres Anspruchs auf
effektiven Rechtsschutz aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.
II.
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Der Antrag hat keinen Erfolg.
5
1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung
vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen
wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist.
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Zwar ist nicht erforderlich, dass zum Zeitpunkt der Antragstellung im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits
ein Verfassungsbeschwerdeverfahren in der Hauptsache anhängig ist; ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
kann - wie hier - auch isoliert gestellt werden (vgl. BVerfGE 105, 235 <238>; 113, 113 <119 f.>; stRspr). Bei der Prüfung, ob
die Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG gegeben sind, ist allerdings wegen der weittragenden Folgen einer
verfassungsgerichtlichen einstweiligen Anordnung regelmäßig ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. BVerfGE 55, 1 <3>;
82, 310 <312>; 94, 166 <216 f.>; 104, 23 <27>; 106, 51 <58>). Dabei müssen die Gründe, welche für die
Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Maßnahme sprechen, außer Betracht bleiben; es sei denn, die
Verfassungsbeschwerde erwiese sich als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 121, 1
<15>; 122, 342 <355>; 131, 47 <55>; stRspr). Im Regelfall hat das Bundesverfassungsgericht daher allein die Nachteile,
die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber in der Hauptsache Erfolg
hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde,
der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 122, 342 <361>; 131, 47 <55>; stRspr).
7
2. Demnach ist über den vorliegenden Antrag nach Maßgabe einer Folgenabwägung zu entscheiden, weil die in der
Hauptsache zu erhebende Verfassungsbeschwerde weder offensichtlich unzulässig noch offensichtlich unbegründet
erscheint. Eine weitergehende Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit der mittelbar mit dem Antrag auf Zulassung
angegriffenen Entscheidungen ist im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nicht möglich. Sie verlangt die Berücksichtigung
zahlreicher Einzelumstände und schwieriger Rechtsfragen, insbesondere was das Verhältnis einzelner Sportlerinnen und
Sportler zum Weltverband IPC und einen möglichen Einfluss des nationalen Kartellrechts auf dessen Entscheidungen
betrifft, über die nur in einem Hauptsacheverfahren entschieden werden könnte.
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3. Die Folgenabwägung fällt zu Ungunsten der Antragstellerinnen und des Antragstellers aus (vgl. BVerfGE 71, 158 <161>;
88, 185 <186>; 91, 252 <257 f.>; stRspr).
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a) Würde die beantragte einstweilige Anordnung ergehen, die noch zu erhebende Verfassungsbeschwerde aber später
erfolglos bleiben, hätte dies erhebliche Auswirkungen für die noch ausstehenden Wettkämpfe und die Durchführung der
Abschlussfeier der Paralympischen Spiele am 18. September 2016 in Rio de Janeiro und eine Signalwirkung nicht nur für
paralympischen Sport, sondern für den Sport insgesamt. Selbst wenn zugunsten der Antragstellerinnen und des
Antragstellers davon ausgegangen wird, dass sie selbst nicht in das vom McLaren-Report beschriebene staatliche
Dopingsystem eingebunden waren, ist im Rahmen der Folgenabwägung die Entscheidung des IPC und des Internationalen
Sportgerichtshofs CAS als Verbandsschiedsgericht zu respektieren, die gesamte russische Mannschaft von den
Paralympischen Spielen in Rio de Janeiro auszuschließen. Eine Zulassung einzelner Athletinnen und Athleten durch die
staatlichen Gerichte griffe erheblich in die Verbandsautonomie des IPC und der internationalen Sportgerichtsbarkeit ein.
Die mit dem Ausschluss des RPC von den Paralympischen Spielen beabsichtigte Signalwirkung, die insbesondere nationale
Sportverbände von der Duldung, Unterstützung oder Organisation systematischen Dopings abschrecken soll, würde
erheblich beeinträchtigt.
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b) Ergeht die einstweilige Anordnung nicht, so wiegen im Vergleich hierzu die Nachteile für die Antragstellerinnen und den
Antragsteller selbst dann weniger schwer, wenn eine noch zu erhebende Verfassungsbeschwerde später Erfolg haben sollte.
Zwar erscheint das Interesse der Antragstellerinnen und des Antragstellers auch dann durchaus gewichtig, wenn ihnen nur
die Teilnahme an der Abschlusszeremonie am 18. September 2016 möglich sein sollte. Im Vergleich zu dem Interesse des
IPC, den Einsatz von Dopingmitteln im Sport nachhaltig und effektiv zu bekämpfen, hat dies jedoch deutlich weniger
Gewicht.
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Zudem kann nicht unberücksichtigt bleiben, dass - abgesehen allenfalls von der Antragstellerin zu 5) - die übrigen
Antragstellerinnen und der Antragsteller wegen des inzwischen weitgehend durchgeführten Gesamtprogramms der
aktuellen Paralympischen Spiele nicht mehr an den sportlichen Wettkämpfen teilnehmen können und ihnen damit insoweit
nur noch ein bloßer Zuschauerstatus zukommen könnte, den sie auch ohne Erlass der einstweiligen Anordnung
wahrnehmen können. Allein für die Antragstellerin zu 5) bestünde noch die theoretische Möglichkeit, an den sportlichen
Wettkämpfen teilzunehmen. Allerdings sind schon Zweifel angebracht, ob sie aus tatsächlichen Gründen überhaupt noch in
der Lage wäre, diese zu realisieren. Aus der Begründung ihres erst am Abend des 13. September 2016 beim
Bundesverfassungsgericht eingegangenen Antrags ergibt sich jedenfalls nicht, wo sie sich derzeit aufhält und wie sie
innerhalb weniger Stunden nach Bekanntgabe einer stattgebenden Entscheidung nach Rio de Janeiro anreisen, sich unter
Berücksichtigung der erforderlichen Zeitumstellung in ausreichender Weise auf die Wettkämpfe vorbereiten und bei
etwaigen Vorkämpfen für das Finale am 16. September 2016 qualifizieren will.
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4. Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 32 Abs. 3 Satz 2 BVerfGG).
Gaier
Schluckebier
Paulus