Urteil des BVerfG vom 27.07.2010

BVerfG: verfassungsbeschwerde, existenzminimum, einkünfte, freibetrag, sozialstaatsprinzip, eltern, vollzug, entlastung, form, presse

Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 2122/09 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn P...
- Bevollmächtigter:
Rechtsanwalt Prof. Gerhard Geckle,
in Kanzlei Dr. Stilz & Partner,
Munzinger Straße 1, 79111 Freiburg -
I. unmittelbar gegen
den Beschluss des Bundesfinanzhofs vom 14. Juli 2009 - III B 82/08 -,
II. mittelbar gegen
§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG in der für das Jahr 2005 geltenden Fassung
hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richterin Osterloh
und die Richter Mellinghoff,
Gerhardt
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S.
1473) am 27. Juli 2010 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe:
I.
1
Der Beschwerdeführer bezog für seinen Sohn, der sich in den Jahren 2002 bis 2006 in Berufsausbildung befand,
Kindergeld. Die Familienkasse bewilligte für den Sohn des Beschwerdeführers für das Jahr 2005 kein Kindergeld, da
die Einkünfte und Bezüge des Sohnes den maßgeblichen Jahresgrenzbetrag in Höhe von 7.680 Euro um 4,34 Euro
überschritten. Die nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobene Klage blieb ebenso wie die nachfolgende
Nichtzulassungsbeschwerde zum Bundesfinanzhof ohne Erfolg.
2
Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1
GG, Art. 3 Abs. 1 GG, Art. 6 Abs. 1 GG und aus Art. 14 Abs. 1 GG und führt zur Begründung im Wesentlichen aus,
die durch die Versagung der Kindergeldbewilligung begründete finanzielle Belastung stehe in keinem Verhältnis zur
geringfügigen Überschreitung der Einkünfte und Bezüge des weiterhin zu unterhaltenden Kindes. Das Fehlen einer
Härteregelung sei von einem etwaigen Vereinfachungszweck nicht gedeckt. Art. 6 Abs. 1 GG gebiete eine
Härtefallregelung. Ihr Fehlen begründe auch einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Zudem verstoße es gegen den
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der sich aus dem Sozialstaatsprinzip und dem Rechtsstaatsprinzip ergebe, wenn
bei der Förderung der Familien von einer Härtefallregelung abgesehen und die Begrenzung des
Familienleistungsausgleichs so niedrig angesetzt werde, dass die Unterhaltsverpflichtung der Eltern weitgehend
bestehen bleibe. Verfassungsrechtlich fragwürdig sei zudem, ob der in § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG festgelegte
Grenzbetrag der Höhe nach verfassungsmäßig sei. Dem hier maßgeblichen Grenzbetrag liege ein sozialrechtlicher
Eckregelsatz zugrunde, der seinerseits zu niedrig bemessen und damit verfassungswidrig sei.
II.
3
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil ein Annahmegrund gemäß § 93a Abs. 2
BVerfGG nicht vorliegt. Der Verfassungsbeschwerde kommt weder grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung
zu (§ 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG) noch ist die Annahme der Verfassungsbeschwerde zur Durchsetzung der in
§ 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die
Verfassungsbeschwerde hat keine hinreichende Aussicht auf Erfolg (vgl. BVerfGE 90, 22 <25 ff.>; 96, 245 <250>).
Sie ist unbegründet.
4
Die angefochtene Entscheidung sowie die gesetzliche Regelung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG verletzen nicht
Grundrechte des Beschwerdeführers aus Art. 3 Abs. 1 GG und Art. 6 Abs. 1 GG.
5
1. Art. 6 Abs. 1 GG gebietet, dass bei der Besteuerung einer Familie das Existenzminimum sämtlicher
Familienmitglieder steuerfrei bleiben muss (vgl. BVerfGE 82, 198 <207>; 99, 246 <259 f.>). Die von Verfassungs
wegen zu berücksichtigenden existenzsichernden Aufwendungen müssen nach dem tatsächlichen Bedarf -
realitätsgerecht - bemessen werden (vgl. BVerfGE 66, 214 <223>; 68, 143 <153>; 82, 60 <88>). Dessen Untergrenze
ist durch die Sozialhilfeleistungen konkretisiert, die das im Sozialstaat anerkannte Existenzminimum gewährleisten
sollen, verbrauchsbezogen ermittelt und auch regelmäßig den veränderten Lebensverhältnissen angepasst werden.
Mindestens das, was der Gesetzgeber dem Bedürftigen zur Befriedigung seines existenznotwendigen Bedarfs aus
öffentlichen Mitteln zur Verfügung stellt, muss er auch dem Einkommensbezieher von dessen Erwerbsbezügen
belassen (vgl. BVerfGE 87, 153 <171>; 91, 93 <111>; 99, 246 <260>).
6
Daher ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn der Gesetzgeber die Gewährung des
Kinderfreibetrags beziehungsweise des Kindergelds davon abhängig macht, dass das Existenzminimum des Kindes
nicht durch eigene Einkünfte und Bezüge gedeckt ist. Typisierend darf der Gesetzgeber hierbei von dem für
erwachsene Steuerpflichtige geltenden Grundfreibetrag (§ 32a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 EStG) ausgehen. Zweck des
Grundfreibetrags ist es, dem Steuerpflichtigen das existenznotwendige Einkommen zu belassen (BVerfGE 87, 153
<179>). Der Grundfreibetrag liegt im Streitjahr über den Leistungen in Form des Kinderfreibetrags beziehungsweise
des Kindergelds und über den vom Bundesverfassungsgericht als nicht evident unzureichend angesehenen
staatlichen Sozialhilfeleistungen (vgl. Urteil des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 -
1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09 -, BGBl I S. 193), so dass das Kinderexistenzminimum in jedem Fall vor dem
steuerlichen Zugriff verschont wird. Mehr gebietet das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) nicht (vgl. BVerfGE 99,
246 <259>). Insbesondere ist es nicht geboten, das Existenzminimum mehrfach freizustellen. Es genügt, wenn der
Gesetzgeber bei den betroffenen Steuerpflichtigen das Existenzminimum jeweils einmal von der Besteuerung
ausnimmt. Der Beschwerdeführer hingegen erstrebt eine mehrfache Entlastung dadurch, dass neben dem
Existenzminimum seines Kindes durch den Grundfreibetrag zusätzlich noch der Kinderfreibetrag beziehungsweise
Kindergeld gewährt werden, obwohl das Kind mit seinen Einkünften selbst in Höhe des Grundfreibetrags verschont
bleibt.
7
2. Dagegen, dass der Gesetzgeber die Grenzbetragsregelung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG gesetzestechnisch als
Freigrenze und nicht als Freibetragsregelung ausgestaltet hat, bestehen keine Bedenken. Dies folgt aus der
Typisierungs- und Pauschalierungsbefugnis des Gesetzgebers, denn diese Regelung vereinfacht den Vollzug der
betroffenen Norm durch die Finanzverwaltung erheblich (vgl. insoweit auch BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des
Ersten Senats vom 2. August 1990 - 1 BvR 1431/86 -, juris). Bei einer gleitenden Übergangsregelung durch einen
Freibetrag ergäbe sich nämlich ein erheblicher Verwaltungsmehraufwand, da bei Einkünften und Bezügen des Kindes
über dem Grenzbetrag jeweils deren genaue Höhe festgestellt und bei der Berechnung des verbleibenden
Kindergeldanspruchs der Eltern mit deren individuellen Steuersatz umgerechnet werden müsste (so zutreffend BFH,
Urteil vom 21. Juli 2000 - VI R 153/99 -, BStBl II 2000, S. 566 = BFHE 192, 316, und nunmehr stRspr; siehe aus
jüngster Zeit BFH, Beschluss vom 31. Juli 2009 - III B 178/07 -, BFH/NV 2009, S. 1809).
8
Maßgeblich kann in verfassungsrechtlicher Hinsicht allein sein, dass beim Ausschluss der Gewährung von
Kindergeld beziehungsweise eines Kinderfreibetrags das Existenzminimum des Kindes hinreichend berücksichtigt
wurde (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 2. August 1990
- 1 BvR 1431/86 -, juris). Dies ist durch die Regelung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG gewährleistet. Da der Gesetzgeber
diese von Verfassungs wegen gebotene Vorgabe beachtet hat, liegt die Entscheidung für eine Freigrenze oder einen
Freibetrag zur Vermeidung von Mehrfachbegünstigungen in seinem Ermessen.
9
Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
10
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Osterloh
Mellinghoff
Gerhardt