Urteil des BVerfG vom 26.12.2013

BVerfG: grad des verschuldens, menschenwürde, verfassungsbeschwerde, behandlung, toilette, persönlichkeitsrecht, eingriff, hauptsache, beweggrund, verweigerung

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 2531/12 -
Bundesadler
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn K…
gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 19.
Oktober 2012 - 15 W 69/12 -
hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Vizepräsidenten Kirchhof,
den Richter Masing
und die Richterin Baer
am 26. Dezember 2013 einstimmig beschlossen:
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 19. Oktober 2012 - 15 W 69/12 -
verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 Satz 1 in Verbindung
mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes.
Die Entscheidung wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das
Oberlandesgericht Frankfurt am Main zurückverwiesen.
Das Land Hessen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen im
Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.
Gründe:
I.
1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Zurückweisung eines Prozesskostenhilfeantrags zur
Geltendmachung von Amtshaftungsansprüchen wegen einer das allgemeine
Persönlichkeitsrecht verletzenden und menschenunwürdigen Behandlung eines
Strafgefangenen.
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1. Der Beschwerdeführer, der eine lebenslange Freiheitsstrafe wegen Mordes mit
anschließender Sicherungsverwahrung verbüßt, wurde im November 2009 wegen plötzlich
auftretender krampfartiger Schmerzen im Unterleib von mehreren Justizvollzugsbediensteten in
eine Klinik verbracht. Ihm wurden dabei Hand- und Fußfesseln angelegt, die auch während der
Behandlung in der Klinik nicht abgenommen wurden. Im Beisein der Justizvollzugsbediensteten
und von Polizeibeamten wurden ihm im Behandlungszimmer mehrere Einläufe verabreicht.
Dabei wurde ihm nicht gestattet, im Anschluss daran die im Behandlungszimmer befindliche
fensterlose Toilette aufzusuchen. Vielmehr musste er seine Notdurft im Beisein der Beamten im
Behandlungszimmer auf einem Toilettenstuhl verrichten.
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Im Mai 2010 stellte die Strafvollstreckungskammer des zuständigen Landgerichts rechtskräftig
fest, dass die Sicherungsmaßnahmen, insbesondere die fortdauernde Fesselung des
Beschwerdeführers anlässlich des Krankenhausaufenthaltes rechtswidrig waren.
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2. Die daraufhin vom Beschwerdeführer beim örtlich zuständigen Landgericht beantragte
Prozesskostenhilfe zum Zwecke der Geltendmachung von Amtshaftungsansprüchen in Höhe
von 15.000 € lehnte das Landgericht mangels hinreichender Erfolgsaussicht ab. Die hiergegen
erhobene sofortige Beschwerde wies das Oberlandesgericht mit angegriffenem Beschluss aus
demselben Grunde zurück. Das Oberlandesgericht begründete seine Entscheidung –
zusammengefasst – wie folgt:
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Die Fesselung habe zwar einen erheblichen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht und
auch in die Menschenwürde des Beschwerdeführers dargestellt. Gemäß der ständigen
Rechtsprechung erfordere ein derartiger Eingriff jedoch nicht in jedem Fall eine
Wiedergutmachung durch eine Geldentschädigung, sondern nur unter der weiteren
Voraussetzung, dass die Beeinträchtigung nicht in anderer Weise befriedigend ausgeglichen
werden könne. Dies bedeute, dass im Einzelfall die Verletzung des Persönlichkeitsrechts oder
der Menschenwürde auch dadurch hinreichend ausgeglichen werden könne, dass der
Betroffene erfolgreich mit den dafür vorgesehenen Rechtsbehelfen des Strafvollzugsgesetzes
die Rechtswidrigkeit der Maßnahme feststellen lasse. Ob eine darüberhinausgehende
Geldentschädigung zur Genugtuung und Wiedergutmachung erforderlich sei, hänge von den
Umständen des Einzelfalls ab, insbesondere von der Bedeutung und Tragweite des Eingriffs,
von Anlass und Beweggrund des Handelnden sowie vom Grad des Verschuldens.
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Hiervon ausgehend stehe dem Beschwerdeführer im vorliegenden Fall eine Geldentschädigung
nicht zu. Die Verletzungen des Persönlichkeitsrechts und der Menschenwürde des
Beschwerdeführers seien durch die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer hinreichend
ausgeglichen. Die Fesselung während der Einläufe sei nicht als besonders schwerwiegend
anzusehen, insbesondere sei darin keine erhebliche Bloßstellung vor dem
Krankenhauspersonal zu sehen. Dem Krankenhauspersonal sei zulässigerweise bekannt
gewesen, dass es sich bei dem zu behandelnden Patienten um einen wegen Mordes zu
lebenslanger Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung Verurteilten gehandelt habe. Zu
beachten sei dabei auch, dass die fortdauernde Fesselung während der Behandlung nicht
alleine der Fluchtgefahr gedient habe, sondern auch der Sicherstellung der körperlichen
Unversehrtheit des behandelnden Personals und der Verhinderung einer Geiselnahme. Selbst
wenn diese Wahrscheinlichkeit ausgesprochen gering gewesen wäre, hätte die Verletzung des
Persönlichkeitsrechts insofern wegen der im Grundsatz anerkennenswerten Motive der Beamten
nur ein geringes Gewicht. Die Fortdauer der Fesselung während der Darmentleerung, die
Verweigerung, eine Toilette aufsuchen zu dürfen, und die damit verbundene Folge der
Verrichtung der Notdurft vor den Augen Dritter seien hingegen in besonderem Maße
entwürdigend gewesen. Diese Verletzung der Menschenwürde gewinne auch noch dadurch
besonderes Gewicht, dass ein nachvollziehbarer Grund für die Verweigerung des Aufsuchens
einer Toilette nicht ersichtlich gewesen sei. Insofern komme vorliegend aber den Umständen,
dass diese Beeinträchtigung nur von kurzer Dauer gewesen sei und dass der Beschwerdeführer
selbst nicht geltend machen könne, durch die andauernde Fesselung auch während der
Behandlungsmaßnahmen seelisch oder körperlich nachhaltig belastet worden zu sein,
besonderes Gewicht zu. Die Situation sei zwar zweifelsohne für den Beschwerdeführer nicht nur
unangenehm, sondern auch bei objektiver Betrachtung als entwürdigend anzusehen. Die
Beeinträchtigung hätte aber nach einigen Stunden ihr Ende gefunden. Unter Würdigung aller
Umstände sei es daher trotz der Annahme der Verletzung der Menschenwürde unter den
besonderen Umständen, insbesondere der kurzen zeitlichen Dauer, nicht angemessen, dem
Beschwerdeführer neben der Genugtuung durch die positive Entscheidung der
Strafvollstreckungskammer auch eine Geldentschädigung zuzubilligen.
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Selbst wenn man dem Beschwerdeführer eine zusätzliche Geldentschädigung zubilligen wollte,
würde sie jedenfalls nicht die Größenordnung erreichen, die die Zuständigkeit des angerufenen
Landgerichts begründen könnte. Auch deshalb sei die sofortige Beschwerde gegen die
landgerichtliche Entscheidung unbegründet.
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3. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung der
Rechtsschutzgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.
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4. Es wurde dem Hessischen Ministerium für Justiz, Integration und Europa Gelegenheit
gegeben, zur Verfassungsbeschwerde Stellung zu nehmen. Von einer Stellungnahme wurde
abgesehen. Die Akten des Ausgangsverfahrens haben dem Bundesverfassungsgericht zur
Entscheidung vorgelegen.
II.
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Die Verfassungsbeschwerde wird gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung
angenommen. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor
(§ 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG).
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1. Das Bundesverfassungsgericht hat die maßgeblichen Fragen zu Inhalt und Reichweite des
aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG folgenden Anspruchs auf
Rechtsschutzgleichheit bereits geklärt (vgl. BVerfGE 81, 347 <356 ff.>).
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2. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und im Sinne des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG nach
diesen Maßgaben offensichtlich begründet. Die angegriffene Entscheidung des
Oberlandesgerichts verletzt den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf
Rechtsschutzgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.
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a) Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG gebietet eine weitgehende Angleichung der
Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes. Es ist
verfassungsrechtlich unbedenklich, die Gewährung von Prozesskostenhilfe davon abhängig zu
machen, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende
Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint. Prozesskostenhilfe darf verweigert werden,
wenn ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, die Erfolgschance
aber nur eine entfernte ist. Die Anforderungen an die Erfolgsaussichten dürfen jedoch nicht
überspannt werden. Die Prüfung der Erfolgsaussichten soll nicht dazu dienen, die
Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische Verfahren der
Prozesskostenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu
lassen (vgl. BVerfGE 81, 347 <356 f.>). Es läuft dem Gebot der Rechtsschutzgleichheit zuwider,
wenn ein Fachgericht § 114 Satz 1 ZPO dahin auslegt, dass auch schwierige, noch nicht
geklärte Rechtsfragen im Prozesskostenhilfeverfahren „durchentschieden“ werden können (vgl.
BVerfGE 81, 347 <359>). Dem Gebot der Rechtsschutzgleichheit widerstrebt es daher, wenn ein
Fachgericht § 114 Satz 1 ZPO dahin auslegt, dass es eine entscheidungserhebliche
Rechtsfrage, obwohl dies erheblichen Zweifeln begegnet, als einfach oder geklärt ansieht und
sie deswegen bereits im Verfahren der Prozesskostenhilfe zum Nachteil des Unbemittelten
beantwortet (vgl. BVerfGE 81, 347 <359 f.>). Ein solcher Verstoß ist erst recht anzunehmen,
wenn das Fachgericht bei der Beurteilung der Erfolgsaussichten der beabsichtigten
Rechtsverfolgung in einer entscheidungserheblichen Rechtsfrage von der Auffassung der
höchstrichterlichen Rechtsprechung und der herrschenden Meinung in der Literatur abweicht
(vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 29. Mai 2006 - 1 BvR 430/03 -,
juris Rn. 17).
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b) Gemessen an diesen Grundsätzen hält die angegriffene, Prozesskostenhilfe vollumfänglich
versagende Entscheidung des Oberlandesgerichts einer Überprüfung nicht stand.
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Zwar ist in der einfachgerichtlichen Rechtsprechung abstrakt hinreichend geklärt, dass wie bei
Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts auch bei Verletzungen der
Menschenwürde nicht in jedem Falle eine Wiedergutmachung durch Geldentschädigung
auszugleichen ist, wenn die Beeinträchtigung auch in anderer Weise befriedigend ausgeglichen
werden kann, und dies bei Verletzungen der Menschenwürde nicht anders als beim allgemeinen
Persönlichkeitsrecht insbesondere von der Bedeutung und Tragweite des Eingriffs, von Anlass
und Beweggrund des Handelnden sowie vom Grad seines Verschuldens abhängt (vgl. BGHZ
161, 33 <37>). Anders allerdings als etwa in Fällen der menschenunwürdigen
Haftunterbringung, bezüglich derer in obergerichtlichen Entscheidungen bereits vielfach
konkrete Maßgaben aufgestellt worden sind, aufgrund welcher Haftbedingungen und bei
welcher Unterbringungsdauer eine Entschädigung zu gewähren ist (vgl. etwa BGHZ 161, 33;
OLG Karlsruhe, Urteil vom 19. Juli 2005 - 12 U 300/04 -, NJW-RR 2005, S. 1267 sowie
insbesondere OLG Hamm, Urteil vom 18. Februar 2009 - 11 U 88/08 -, juris; OLG Hamm, Urteil
vom 29. September 2010 - 11 U 367/09, I-11 U 367/09 -, juris; Urteil vom 8. April 2011 - 11 U
76/09, I-11 U 76/09 -, juris), gibt es zur Frage der Entschädigungspflicht in der konkret
vorliegenden Konstellation noch keine derartige obergerichtliche Rechtsprechung, die zur
abschließenden Bewertung bereits im summarischen Verfahren vergleichend herangezogen
werden könnte. Insofern bedarf es im vorliegenden Verfahren einer Einzelfallprüfung, die auf
vorfindliche Maßstäbe nur begrenzt zurückgreifen kann. Diese Prüfung in das
Prozesskostenhilfeverfahren vorzuverlegen und damit eine bloß summarische Prüfung an die
Stelle des Erkenntnisverfahrens in der Hauptsache treten zu lassen, wie dies das
Oberlandesgericht getan hat, überspannt die Anforderungen an die Erfolgsaussichten im
Prozesskostenhilfeverfahren. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass gerade in Fällen
der Menschenwürdeverletzung die entschädigungspflichtige Erheblichkeitsschwelle generell
niedriger anzusetzen ist als bei bloßen Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts
(vgl. BGHZ 161, 33 <37>), eine Geldentschädigung mithin noch regelmäßiger auch bei kurzer
Dauer geboten ist und deren Ablehnung damit einer besonders intensiven Prüfung und
Abwägungsentscheidung bedarf.
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Soweit das Oberlandesgericht in seiner ablehnenden Entscheidung hilfsweise darauf abstellt,
dass jedenfalls nicht die sachliche Zuständigkeit des Landgerichts begründet gewesen wäre, so
weicht das Oberlandesgericht damit - unbeschadet der strittigen Frage, ob nicht auch im
Prozesskostenhilfeverfahren im Hinblick auf die sachliche Zuständigkeit und die insofern
geltende Streitwertgrenze allein auf die tatsächlich beabsichtigte Klage abzustellen ist (vgl. zum
Streitstand: Bork, in: Stein/Jonas, ZPO, Bd. 2, 22. Aufl. 2004, § 117 Rn. 10) - jedenfalls von der in
Rechtsprechung und Literatur soweit ersichtlich einhellig vertretenen Auffassung ab, dass eine
Ablehnung eines Prozesskostenhilfegesuchs aus Gründen der sachlichen Unzuständigkeit nur
dann in Betracht kommt, wenn das mit dem Prozesskostenhilfegesuch befasste Gericht zuvor die
Stellung eines Verweisungsantrags angeregt hat und der Antragsteller dieser Anregung nicht
nachgekommen ist (vgl. etwa OLG Saarbrücken, Beschluss vom 26. Juni 1989 - 2 W 18/89 -,
NJW-RR 1990, S. 575; OLG Bremen, Beschluss vom 10. Januar 1991 - 5 WF 165/90 -, FamRZ
1992, S. 962 f.; Bork, in: Stein/Jonas, ZPO, Bd. 2, 22. Aufl. 2004, § 117 Rn. 8 m.w.N.; Geimer, in:
Zöller, ZPO, 30. Aufl. 2014, § 114 Rn. 22a m.w.N.). Im vorliegenden Fall hat aber weder das
Landgericht noch das Oberlandesgericht den Beschwerdeführer vor Ergehen seiner
Entscheidung auf eine etwaige sachliche Unzuständigkeit des Landgerichts hingewiesen. Im
Gegenteil: Der Beschwerdeführer hat in seinem Prozesskostenhilfeantrag für den Fall, dass sich
das angerufene Landgericht für unzuständig erachten sollte, sogar die Verweisung an das
zuständige Gericht beantragt.
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c) Der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts beruht auch auf den aufgezeigten
verfassungsrechtlichen Fehleinschätzungen. Es ist nicht auszuschließen, dass das
Oberlandesgericht bei Beachtung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe in der Sache zumindest
teilweise zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre.
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3. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers folgt
aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Kirchhof
Masing
Baer