Urteil des BVerfG vom 23.01.2014

BVerfG: verfassungskonforme auslegung, sicherungsverwahrung, verfassungsbeschwerde, unterbringung, gewalt, gefahr, erlass, verbraucherschutz, rechtskraft, überprüfung

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 119/12 -
Bundesadler
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn G…,
- Bevollmächtigter:
Rechtsanwalt Peter J. Guttmann,
Seidlstraße 27, 80335 München -
gegen
a)
den Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 8. Dezember
2011 - 15 W 2335/11 ThUG -,
b)
den Beschluss des Landgerichts Regensburg vom 13. Oktober 2011 -
7 AR 2/11 ThUG -
und Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richterin Lübbe-Wolff,
den Richter Landau
und die Richterin Kessal-Wulf
am 23. Januar 2014 einstimmig beschlossen:
1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 8. Dezember 2011 - 15 W 2335/11
ThUG - und der Beschluss des Landgerichts Regensburg vom 13. Oktober 2011 - 7 AR
2/11 ThUG - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2
Satz 2 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes.
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg wird aufgehoben. Die Sache wird zur
erneuten Entscheidung über die Kosten und die notwendigen Auslagen des
Beschwerdeführers an das Oberlandesgericht Nürnberg zurückverwiesen.
2. Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
3. Der Wert der anwaltlichen Tätigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf
40.000,00 € (in Worten: vierzigtausend Euro) festgesetzt.
Gründe:
1
Der Beschwerdeführer wendet sich gegen seine Unterbringung nach dem
Therapieunterbringungsgesetz (ThUG).
I.
2
1. Das Landgericht München I verurteilte den bereits mehrfach wegen vorsätzlicher
Sexualdelikte vorbestraften Beschwerdeführer 1997 wegen sexueller Nötigung zu einer
Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten und ordnete die Sicherungsverwahrung an,
die ab dem 5. Juni 2000 in der Justizvollzugsanstalt Straubing vollzogen wurde. Nachdem die
auswärtige Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Regensburg mit Sitz in Straubing den
weiteren Vollzug der Sicherungsverwahrung über die Zehnjahresfrist hinaus angeordnet hatte,
erklärte das Oberlandesgericht Nürnberg mit Beschluss vom 15. April 2011 die Unterbringung
des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung zum 30. Juni 2011 für erledigt.
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Im Verfahren nach dem Therapieunterbringungsgesetz ordnete das Oberlandesgericht Nürnberg
mit Beschluss vom 21. Juli 2011 die vorläufige Unterbringung des Beschwerdeführers nach § 14
Abs. 1 ThUG an, nachdem die Vorinstanz das Vorliegen der Unterbringungsvoraussetzungen
unter Hinweis auf die zur nachträglichen Sicherungsverwahrung gleich zu handhabenden
Unterbringungsvoraussetzungen noch abgelehnt hatte. Das Verfahren über die vorläufige
Unterbringung war Gegenstand der Verfassungsbeschwerde zum Aktenzeichen 2 BvR 1795/11,
die mit Beschluss vom 21. September 2011 wegen Unzulässigkeit mit kurzer Tenorbegründung
nicht zur Entscheidung angenommen wurde.
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Mit Beschluss vom 13. Oktober 2011 erfolgte durch das Landgericht Regensburg die
Unterbringungsanordnung in der Hauptsache bis zum 21. Januar 2013. Das Oberlandesgericht
Nürnberg wies die hiergegen gerichtete Beschwerde des Beschwerdeführers mit Beschluss vom
8. Dezember 2011 zurück. In den Entscheidungsgründen des Oberlandesgerichts wird
hinsichtlich des erforderlichen Gefährlichkeitsmaßstabes unter anderem auf die
vorangegangene Entscheidung zur vorläufigen Unterbringung verwiesen, wonach der strenge
Maßstab, der bei einer Weiterführung einer über zehn Jahre hinausgehenden
Sicherungsverwahrung anzulegen sei und eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder
Sexualstraftaten verlange, nicht auf den Tatbestand des § 1 ThUG zu übertragen sei.
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2. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer eine
Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 und Art. 3
Abs. 1 GG. Es stelle einen rechtsstaatlich nicht zu rechtfertigenden „Etikettentausch“ dar, wenn
die vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Voraussetzungen für eine Verlängerung der
Sicherungsverwahrung in Altfällen über zehn Jahre hinaus durch eine Unterbringung nach dem
Therapieunterbringungsgesetz umgangen würden, obwohl die Unterbringung inhaltlich der
(nachträglichen) Sicherungsverwahrung entspreche. Ihn unter diesen Gegebenheiten zunächst
aus der Sicherungsverwahrung zu entlassen und trotz gleichbleibender Tatsachengrundlage die
Therapieunterbringung anzuordnen, zerstöre nicht nur sein rechtlich geschütztes Vertrauen in
die Begrenzung der Sicherungsverwahrung auf zehn Jahre, sondern auch sein Vertrauen auf die
Rechtskraft des Beschlusses des Oberlandesgerichts Nürnberg, mit dem die
Sicherungsverwahrung für erledigt erklärt worden war. Schließlich sei es willkürlich, dass bei
identischer Tatsachengrundlage ein Strafsenat die Sicherungsverwahrung für erledigt erkläre
und ein Zivilsenat desselben Gerichts „de facto“ die Sicherungsverwahrung wieder anordne.
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3. Den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat die 1. Kammer des Zweiten Senats
mit Beschluss vom 26. Januar 2012 abgelehnt.
7
4. Das Verfahren wurde dem Bayerischen Staatsministerium der Justiz und für
Verbraucherschutz mit der Gelegenheit zur Stellungnahme zugestellt. Das Ministerium hat von
einer Stellungnahme abgesehen.
II.
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1. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die
Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung nach § 93c Abs. 1 Satz 1 in
Verbindung mit § 93a Abs. 2 BVerfGG sind erfüllt. Das Bundesverfassungsgericht hat die für die
Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen -
insbesondere die Frage der Anforderungen an eine verfassungskonforme Auslegung von § 1
Abs. 1 Nr. 1 ThUG (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 11. Juli 2013 - 2 BvR
2302/11 u.a. -, juris, Rn. 69 ff.) - bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG), und die
Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts des
Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG angezeigt
(§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich
begründet (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
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a) Der Zulässigkeit steht nicht entgegen, dass die Beschlüsse nicht mehr die Grundlage für eine
aktuelle Unterbringung bilden. Der Beschwerdeführer hat ein fortbestehendes schutzwürdiges
Interesse an einer nachträglichen verfassungsrechtlichen Überprüfung, weil die
Therapieunterbringung aufgrund der angegriffenen Beschlüsse in der Zeit vom 13. Oktober 2011
bis zum 21. Januar 2013 einen tiefgreifenden Eingriff in sein Freiheitsgrundrecht darstellte (vgl.
dazu BVerfGE 9, 89 <92 ff.>; 32, 87 <92>; 53, 152 <157 f.>; 104, 220 <234>; BVerfG, Beschluss
der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 31. Oktober 2005 - 2 BvR 2233/04 -, juris, Rn. 20 ff.).
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b) Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. In den angegriffenen Beschlüssen über die
Anordnung der Therapieunterbringung ist ein unzutreffender Maßstab zugrunde gelegt und der
Beschwerdeführer dadurch in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung
mit Art. 20 Abs. 3 GG verletzt.
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Mit Beschluss vom 11. Juli 2013 hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass § 1 Abs. 1
des Therapieunterbringungsgesetzes in der Fassung des Gesetzes zur Neuordnung des Rechts
der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen vom 22. Dezember 2010 (BGBl I
S. 2300) mit dem Grundgesetz mit der Maßgabe vereinbar ist, dass die Unterbringung oder
deren Fortdauer nur angeordnet werden darf, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt-
oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des
Untergebrachten abzuleiten ist (BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 11. Juli 2013 - 2
BvR 2302/11 u.a. -, juris, Rn. 69 ff.).
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Die mit der Verfassungsbeschwerde angefochtenen fachgerichtlichen Beschlüsse sind mit
diesen Vorgaben für die Anwendung des Therapieunterbringungsgesetzes nicht zu vereinbaren.
Sowohl das Landgericht als auch das Oberlandesgericht übertragen den strengen
Verhältnismäßigkeitsmaßstab der hochgradigen Gefahr schwerster Gewalt- oder
Sexualstraftaten, wie ihn das Bundesverfassungsgericht für die Vertrauensschutzbelange
betreffende Sicherungsverwahrung verlangt (vgl. BVerfGE 128, 326 <399>) und wie er in
gleicher Weise für die Therapieunterbringung Geltung beansprucht (vgl. BVerfG, Beschluss des
Zweiten Senats vom 11. Juli 2013 - 2 BvR 2302/11 u.a. -, juris, Rn. 69 ff.), nicht auf den
Tatbestand des § 1 Abs. 1 ThUG. Daher genügen die Beschlüsse den Anforderungen an eine
verfassungskonforme Auslegung und Anwendung des § 1 Abs. 1 ThUG nicht und verletzen den
Beschwerdeführer in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit
Art. 20 Abs. 3 GG.
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Dabei kommt es für die Feststellung der Grundrechtsverletzung allein auf die objektive
Verfassungswidrigkeit der angefochtenen fachgerichtlichen Entscheidungen im Zeitpunkt der
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts an; unerheblich ist hingegen, ob die
Grundrechtsverletzung den Fachgerichten vorwerfbar ist (vgl. BVerfGE 128, 326 <407 f.>).
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c) Da die Verfassungsbeschwerde schon wegen der Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in
Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG begründet ist, bedarf es keiner Entscheidung, ob darüber
hinaus weitere Grundrechte verletzt sind.
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2. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 8. Dezember 2011 ist daher
aufzuheben. Die Sache ist zur Entscheidung über die Kosten und die notwendigen Auslagen
des Beschwerdeführers (vgl. BVerfGE 128, 326 <407>) an das Oberlandesgericht Nürnberg
zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).
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3. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen folgt aus § 34a Abs. 2
BVerfGG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung
mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).
Lübbe-Wolff
Landau
Kessal-Wulf