Urteil des BVerfG vom 24.08.2000

BVerfG: minderung, freibetrag, existenzminimum, zustand, entlastung, sozialstaatsprinzip, familie, normenkontrolle, gehalt, steuerfestsetzung

Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvL 13/98 -
In dem Verfahren
zur verfassungsrechtlichen Prüfung
von § 44 e des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) in der Fassung des Gesetzes zur Entlastung der Familien und zur
Verbesserung der Rahmenbedingungen für Investitionen und Arbeitsplätze (Steueränderungsgesetz - 1992 StÄndG
1992) vom 25. Februar 1992 (BGBl I S. 297) in Verbindung mit § 10 Abs. 2 des Bundeskindergeldgesetzes in der
Fassung des Gesetzes zur Wiederbelebung der Wirtschaft und Beschäftigung und zur Entlastung des
Bundeshaushalts (Haushaltsbegleitgesetz 1983) vom 20. Dezember 1982 (BGBl I S. 1857)
- Aussetzungs- und Vorlagebeschluss des Sozialgerichts Köln vom 17. August 1998 (S 23 Kg 68/95) -
hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Richter Kühling,
die Richterin Jaeger
und den Richter Hömig
gemäß § 81 a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 24. August
2000 einstimmig beschlossen:
Die Vorlage ist unzulässig.
Gründe:
A.
1
Die Vorlage des Sozialgerichts betrifft die Frage, ob § 44 e BKGG in der Fassung des Steueränderungsgesetzes
1992 vom 25. Februar 1992 (BGBl I S. 297) in Verbindung mit § 10 Abs. 2 BKGG in der Fassung des
Haushaltsbegleitgesetzes 1983 vom 20. Dezember 1982 (BGBl I S. 1857) für die Jahre 1983 bis 1985 mit Art. 3 Abs.
1 sowie Art. 6 Abs. 1 GG vereinbar ist.
I.
2
1. Durch das Haushaltsbegleitgesetz 1983 wurde das so genannte duale System des Kinder- und
Familienlastenausgleichs wieder eingeführt. Neben einem Kindergeld wurden Kinderfreibeträge bei der
Einkommensteuer gewährt. Die Höhe des Kindergeldes war in § 44 e in Verbindung mit § 10 BKGG festgelegt, der
Kinderfreibetrag ergab sich aus den §§ 32, 54 EStG. Die genannten Regelungen haben, soweit hier einschlägig, den
folgenden Wortlaut:
3
§ 44 e BKGG
4
(1) Die Minderung des Kindergeldes für das zweite Kind nach § 10 Abs. 2 entfällt für die Jahre
1983 bis 1985 in den Fällen, in denen über die Minderung noch nicht bindend entschieden
worden ist. ... Die Sätze 1 und 2 gelten nicht für Jahre, für die bei dem Berechtigten für das
Kind nach § 32 Abs. 8 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes in der Fassung des...
Steueränderungsgesetzes 1991... ein Kinderfreibetrag von 2.432 Deutsche Mark... abgezogen
werden kann.
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(2) Für die Jahre 1983 bis 1985 erfolgt die Minderung des Kindergeldes nach § 10 Abs. 2 für
das dritte, vierte oder fünfte Kind eines Berechtigten, dem für kein sechstes oder weiteres
Kind Kindergeld zustand, in den Fällen, in denen über die Minderung noch nicht bindend
entschieden worden ist, mit der Maßgabe, dass als Sockelbetrag für das jeweils jüngste dieser
Kinder vorbehaltlich des § 10 Abs. 2 Satz 2
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200 Deutsche Mark, wenn dieses Kind das dritte ist,
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180 Deutsche Mark, wenn dieses Kind das vierte ist,
8
155 Deutsche Mark, wenn dieses Kind das fünfte ist,
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zu berücksichtigen sind. ... Satz 1 sowie Absatz 1 Satz 2, soweit dieser nach Satz 2
anzuwenden ist, gelten nicht für ein Jahr, für das dem Berechtigten Kindergeld
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1. für ein drittes, nicht aber ein weiteres Kind zustand...;
11
2. ...;
12
3. für ein fünftes Kind zustand und bei ihm für eines der Kinder, für die ihm Kindergeld
zustand, einer der in Absatz 1 Satz 4 genannten Kinderfreibeträge abgezogen werden kann.
13
§ 10 BKGG
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(1) Das Kindergeld beträgt für das 1. Kind 50 Deutsche Mark, für das 2. Kind 100 Deutsche
Mark, für das 3. Kind 220 Deutsche Mark und für das 4. und jedes weitere Kind je 240
Deutsche Mark monatlich.
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(2) Das Kindergeld für das 2. und jedes weitere Kind wird nach dem in Satz 4 genannten
Maßstab stufenweise bis auf einen Sockelbetrag von
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70 Deutsche Mark für das 2. Kind,
140 Deutsche Mark für jedes weitere Kind
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gemindert, wenn das Jahreseinkommen des Berechtigten und seines... Ehegatten den für ihn
maßgeblichen Freibetrag um wenigstens 480 Deutsche Mark übersteigt. ... Der Freibetrag
setzt sich zusammen aus
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25.920 Deutsche Mark für Berechtigte, die verheiratet sind...,
19
...
20
sowie 7.800 Deutsche Mark für jedes Kind, für das dem Berechtigten Kindergeld zusteht....
Für je 480 Deutsche Mark, um die das Jahreseinkommen den Freibetrag übersteigt, wird das
Kindergeld um 20 Deutsche Mark monatlich gemindert; kommt die Minderung des für mehrere
Kinder zu zahlenden Kindergeldes in Betracht, wird sie beim Gesamtkindergeld vorgenommen.
21
§ 32 Abs. 8 EStG
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Für jedes Kind des Steuerpflichtigen... wird ein Kinderfreibetrag von 432 Deutsche Mark
gewährt. ...
23
§ 54 Abs. 1 EStG
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§ 32 Abs. 8 des Einkommensteuergesetzes in der Fassung des Haushaltsbegleitgesetzes 1983... ist für die
Veranlagungszeiträume 1983 bis 1985 in der folgenden Fassung anzuwenden, wenn die betreffende
Steuerfestsetzung am 28. Juni 1991 noch nicht bestandskräftig ist:
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"(8) Bei Kindern des Steuerpflichtigen... wird ein Kinderfreibetrag von 2.432 Deutsche Mark für
das erste Kind, von 1.832 Deutsche Mark für das zweite Kind und von 432 Deutsche Mark für
jedes weitere Kind gewährt. ..."
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2. Mit dem Gesetz zur Familienförderung vom 22. Dezember 1999 (BGBl I S. 2552) wurde die Steuerfreistellung des
Existenzminimums eines Kindes für nicht bestandskräftige Entscheidungen aus den Jahren 1983 bis 1995 neu
geregelt. In das Einkommensteuergesetz wurde § 53 neu eingefügt. Die Vorschrift lautet:
27
Sondervorschrift zur Steuerfreistellung des Existenzminimums eines Kindes in den
Veranlagungszeiträumen 1983 bis 1985
28
In den Veranlagungszeiträumen 1983 bis 1995 sind in Fällen, in denen die Einkommensteuer
noch nicht formell bestandskräftig oder hinsichtlich der Höhe der Kinderfreibeträge vorläufig
festgesetzt ist, für jedes bei der Festsetzung berücksichtigte Kind folgende Beträge als
Existenzminimum des Kindes steuerfrei zu belassen:
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1983 3.732 Deutsche Mark,
1984 3.864 Deutsche Mark,
1985 3.924 Deutsche Mark,
30
... .
31
... das dem Steuerpflichtigen im jeweiligen Veranlagungszeitraum zustehende Kindergeld (ist)
mit dem auf das bisherige zu versteuernde Einkommen des Steuerpflichtigen in demselben
Veranlagungszeitraum anzuwendenden Grenzsteuersatz in einen Freibetrag umzurechnen;... .
Erreicht die Summe aus dem bei der bisherigen Einkommensteuerfestsetzung abgezogenen
Kinderfreibetrag und dem... berechneten Freibetrag nicht den... maßgeblichen Betrag, ist der
Unterschiedsbetrag vom bisherigen zu versteuernden Einkommen abzuziehen und die
Einkommensteuer neu festzusetzen. ...
32
In das Bundeskindergeldgesetz wurde § 21 BKGG eingefügt, der folgenden Wortlaut hat:
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Sondervorschrift zur Steuerfreistellung des Existenzminimums eines Kindes in den
Veranlagungszeiträumen 1983 bis 1985 durch Kindergeld
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In Fällen, in denen die Entscheidung über die Höhe des Kindergeldanspruchs für Monate in
dem Zeitraum zwischen dem 1. Januar 1983 und dem 31. Dezember 1995 noch nicht
bestandskräftig geworden ist, kommt eine von den §§ 10 und 11... abweichende Bewilligung
von Kindergeld nur in Betracht, wenn die Einkommensteuer formell bestandskräftig und
hinsichtlich der Höhe der Kinderfreibeträge nicht vorläufig festgesetzt sowie das
Existenzminimum des Kindes nicht unter der Maßgabe des § 53 des
Einkommensteuergesetzes steuerfrei belassen worden ist. ... die Familienkasse (hat) den vom
Finanzamt ermittelten Unterschiedsbetrag zwischen der festgesetzten Einkommensteuer und
der Einkommensteuer, die nach § 53 Satz 6 des Einkommensteuergesetzes festzusetzen
gewesen wäre, wenn die Voraussetzungen nach § 53 Satz 1 und 2 des
Einkommensteuergesetzes vorgelegen hätten, als zusätzliches Kindergeld zu zahlen.
II.
35
1. Der Kläger des Ausgangsverfahrens bezog in den Jahren 1983 bis 1985 für sechs beziehungsweise ab August
1985 für fünf Kinder Kindergeld. Dem Kläger wurde gemindertes Kindergeld mit Beträgen zwischen 540 DM und 910
DM monatlich gezahlt, da sein Einkommen den Freibetrag von 72.720 DM überstieg. Ohne die Minderung hätte das
Kindergeld monatlich 850 DM beziehungsweise 1.090 DM betragen.
36
2. Mit seiner gegen den Kindergeldbescheid erhobenen Klage beim Sozialgericht begehrt der Kläger die Zahlung des
Kindergeldes in ungekürzter Höhe. Das Sozialgericht hat das Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG ausgesetzt und die
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu der Frage eingeholt, ob § 44 e BKGG in Verbindung mit § 10 Abs. 2
BKGG mit dem Grundgesetz vereinbar ist.
37
Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die genannten Vorschriften seien entscheidungserheblich, weil
die darin genannten Voraussetzungen für eine Minderung des Kindergeldes beim Kläger vorlägen. Sie seien jedoch
mit Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 GG unvereinbar. Der Staat müsse dem Steuerpflichtigen sein
Einkommen insoweit steuerfrei belassen, als es zur Schaffung der Mindestvoraussetzungen für ein
menschenwürdiges Dasein benötigt werde. Das folge aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip
(Art. 20 Abs. 1 GG). Art. 6 Abs. 1 GG gebiete zudem, bei der Besteuerung einer Familie das Existenzminimum
sämtlicher Familienmitglieder steuerfrei zu lassen. Kindesunterhalt dürfe dabei auch deshalb nicht unberücksichtigt
bleiben, weil sonst Steuerpflichtige mit Kindern gegenüber kinderlosen Steuerpflichtigen unter Verletzung von Art. 3
Abs. 1 GG benachteiligt würden. Dem Kindergeld komme insoweit eine steuerliche Entlastungsfunktion zu. Rechne
man das gekürzte Kindergeld in einen fiktiven Kinderfreibetrag um, so ergebe sich zusammen mit den für die Jahre
1983 bis 1985 maßgeblichen Kinderfreibeträgen eine Summe, die den durchschnittlichen jährlichen Sozialhilfebedarf
nicht erreiche und damit unter dem Existenzminimum liege.
B.
38
Die Vorlage ist unzulässig.
39
Eine Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG ist nur zulässig, wenn es für die im Ausgangsverfahren zu treffende
Entscheidung auf die Gültigkeit der zur Prüfung gestellten Vorschrift ankommt und das vorlegende Gericht von deren
Verfassungswidrigkeit überzeugt ist. Denn das Verfahren der konkreten Normenkontrolle ist allein dann gerechtfertigt,
wenn die Entscheidung der verfassungsrechtlichen Frage zur abschließenden Beurteilung des Falles unerlässlich ist
(vgl. BVerfGE 78, 201 <203 f.>; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 13. Dezember 1993, 1 BvL 12/92,
SozVers 1994, S. 110).
40
Die Entscheidungserheblichkeit der zur Prüfung gestellten Norm muss noch im Zeitpunkt der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts gegeben sein (vgl. BVerfGE 51, 161 <163 f.>; 82, 156 <158>; 85, 191 <203>). Dies gilt
auch im Hinblick auf Gesetzesänderungen während des Vorlageverfahrens, insbesondere wenn die Änderungen
rückwirkend in Kraft getreten sind. Das vorlegende Gericht muss in einem solchen Fall die geänderte Fassung
ausdrücklich
zum
Gegenstand
der
Vorlage
machen.
Zwischenzeitliche,
entscheidungserhebliche
Gesetzesänderungen, mit denen sich das vorlegende Gericht nicht auseinandergesetzt hat, sind nur dann durch das
Bundesverfassungsgericht von Amts wegen in die Prüfung einzubeziehen, wenn die Begründung des
Vorlagebeschlusses gleichermaßen für die neue Gesetzesfassung zutrifft, wenn also der sachliche Gehalt der vom
Gericht zur Prüfung vorgelegten Vorschriften wesentlich erhalten geblieben ist (vgl. BVerfGE 67, 256 <273>; BVerfG,
Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 13. Dezember 1993, 1 BvL 12/92, SozVers 1994, S. 110).
41
Nach diesen Maßstäben hätte das vorlegende Gericht die Sondervorschriften zur Steuerfreistellung des
Existenzminimums eines Kindes für den hier maßgeblichen Veranlagungszeitraum im Gesetz zur Familienförderung
nachträglich zum Gegenstand der Vorlage machen müssen. Die zur Prüfung gestellten Normen sind nicht mehr
entscheidungserheblich. Die Neuregelung ist eigens geschaffen worden, um eine Steuerfreistellung des
Existenzminimums eines Kindes herbeizuführen. Die Verbesserungen gegenüber der Rechtslage, von der der
Vorlagebeschluss ausgeht, sind mit einer Erhöhung des Kinderfreibetrags von ursprünglich 432 DM pro Kind auf 3.732
DM für 1983, 3.864 DM für 1984 und 3.924 DM für 1985 so nachhaltig, dass das Bundesverfassungsgericht die
geänderte Norm nicht von Amts wegen in die verfassungsrechtliche Prüfung einbeziehen kann. Das Sozialgericht ist
auf diesen Gesichtspunkt hingewiesen worden, hat eine Überprüfung seines Beschlusses aber nicht vorgenommen.
Eine solche erneute Überprüfung war nicht schon deswegen entbehrlich, weil der nunmehr geltende Kinderfreibetrag
nach der im Vorlagebeschluss dargelegten Auffassung des vorlegenden Gerichts ebenfalls nicht dem
Existenzminimum des Kindes entspricht; denn der Gesetzgeber hat mit seiner Neuregelung der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts vom 10. November 1998 (BVerfGE 99, 246 <262 ff.>) Rechnung getragen, in der die
Berechnungsmethoden für das steuerfrei zu belassende Existenzminimum in bindender Weise (§ 31 Abs. 1 BVerfGG)
festgelegt werden. Inwieweit die zur Prüfung vorgelegte Norm mit dem vom Bundesverfassungsgericht gesetzten
Maßstab nicht im Einklang stehen soll, bedarf einer eingehenden Begründung.
42
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Kühling
Jaeger
Hömig