Urteil des BVerfG vom 15.07.2014

BVerfG: wahlkampf, erlass, chancengleichheit, thüringen, öffentlichkeit, nummer, interview, rechtsextremismus, missbrauch, einzug

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvE 2/14 -
Bundesadler
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
den Antrag festzustellen,
dass die Antragsgegnerin die Rechte der Antragstellerin aus Artikel 21 Absatz 1 des
Grundgesetzes dadurch verletzt hat, dass sie mit Blick auf die Antragstellerin öffentlich erklärt
hat:
„Aber ich werde im Thüringer Wahlkampf mithelfen,
alles dafür zu tun, dass es erst gar nicht so weit
kommt bei der Wahl im September. Ziel Nummer 1
muss sein, dass die NPD nicht in den Landtag kommt.“
und auf diese Weise unter Verletzung ihrer Pflicht zur parteipolitischen Neutralität zu Lasten der
Antragstellerin in den laufenden Landtagswahlkampf in Thüringen eingegriffen hat
h i e r : Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
Antragstellerin: Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD),
vertreten durch den amtierenden Parteivorsitzenden Udo Pastörs,
Seelenbinderstraße 42, 12555 Berlin,
- Bevollmächtigter:
Rechtsanwalt Peter Richter, LL.M.,
Birkenstraße 5, 66121 Saarbrücken -
Antragsgegnerin: Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend,
Frau Manuela S c h w e s i g ,
Glinkastraße 18 - 24, 10117 Berlin,
- Bevollmächtigte:
Nesselhauf Rechtsanwälte,
Alsterchaussee 40, 20149 Hamburg –
hat das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat - unter Mitwirkung der Richterinnen und
Richter
Präsident Voßkuhle,
Gerhardt,
Landau,
Huber,
Hermanns,
Müller,
Kessal-Wulf,
König
am 15. Juli 2014 beschlossen:
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
Gründe:
1
Die Antragstellerin sieht sich durch eine Äußerung der Antragsgegnerin im Vorfeld der
Landtagswahl in Thüringen am 14. September 2014 in ihrem Recht auf Chancengleichheit im
Wettbewerb der politischen Parteien verletzt.
I.
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1. Am 25. Juni 2014 erschien in der Thüringischen Landeszeitung (TLZ) ein Interview, das die
Antragsgegnerin anlässlich der Verleihung des Thüringer Demokratiepreises dieser Zeitung
gegeben hatte. In dem Interview ging es unter anderem um den Kampf der Bundesregierung
gegen den Rechtsextremismus und ein dafür vorgesehenes Demokratieprogramm des Bundes,
das von der Antragsgegnerin verantwortet wird. Die Antragsgegnerin wurde auch zur
Antragstellerin und deren möglichen Einzug in den Thüringer Landtag bei der Landtagswahl am
14. September 2014 befragt. Die Antragsgegnerin äußerte sich unter anderem wie folgt:
„Das Gefährliche an der NPD ist, dass sie versucht, ihr Molotow-Cocktail-Image abzulegen. Sie
kommt nicht mehr mit Springerstiefeln und Glatzen daher, sondern im feinen Nadelstreifenanzug.
Sie tut so, also ob sie sich sozial engagiert. Aber dahinter versteckt sich die Ideologie von Hitler -
und jedes Parlament muss sich beraten, wie es damit umgeht. Meine Erfahrung aus dem
Landtag in Mecklenburg-Pommern ist: der Antrag wird abgelehnt und ein Demokrat spricht für
alle demokratischen Fraktionen, um dabei deutlich zu machen, dass der Antrag nur vermeintlich
soziales Engagement ist und dahinter etwas anderes steckt. Das hat sich in Schwerin bewährt -
und kann ein Beispiel sein. Aber ich werde im Thüringer Wahlkampf mithelfen, alles dafür zu tun,
dass es erst gar nicht so weit kommt bei der Wahl im September. Ziel Nummer 1 muss sein, dass
die NPD nicht in den Landtag kommt.“
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2. Mit dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung will die Antragstellerin erreichen,
dass die Antragsgegnerin es unterlässt, zulasten der Antragstellerin in den Landtagswahlkampf
in Thüringen einzuwirken und insbesondere wörtlich oder sinngemäß zu behaupten:
„Aber ich werde im Thüringer Wahlkampf mithelfen, alles dafür zu tun, dass es erst gar nicht so
weit kommt bei der Wahl im September. Ziel Nummer 1 muss sein, dass die NPD nicht in den
Landtag kommt.“
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Die Antragsgegnerin verletze durch diese Äußerung die Antragstellerin in ihrem Recht auf
Chancengleichheit gemäß Art. 21 Abs. 1 GG. Es dränge sich der konkrete Verdacht auf, dass die
Antragsgegnerin unter Missbrauch ihres Amtes Wahlkampf für die Thüringer SPD betreiben und
sich auf Kosten der Antragstellerin beim Wähler profilieren wolle. Damit verstoße die
Antragsgegnerin gegen ihre Pflicht zu parteipolitischer Neutralität.
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3. Die Antragsgegnerin hält das Recht der Antragstellerin auf Chancengleichheit nicht für
beeinträchtigt.
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Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat keinen Erfolg.
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1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand
durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur
Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum allgemeinen
Wohl dringend geboten ist. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung im Organstreitverfahren
bedeutet einen Eingriff des Bundesverfassungsgerichts in die Autonomie eines anderen
Verfassungsorgans. Bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG ist deshalb
grundsätzlich ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. BVerfGE 108, 34 <41> m.w.N.).
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2. Soweit die Antragstellerin geltend macht, es dränge sich aufgrund der angegriffenen
Äußerung der konkrete Verdacht auf, dass die Antragsgegnerin unter Missbrauch ihres Amtes
Wahlkampf betreiben wolle, kommt der Erlass einer einstweiligen Anordnung bereits deshalb
nicht in Betracht, weil der Antrag in der Hauptsache insoweit unzulässig ist. Der Organstreit dient
nicht dem Zweck, in der Zukunft liegende nicht unmittelbar bevorstehende potentielle
Rechtsverletzungen unabhängig vom Vorliegen einer konkreten Maßnahme oder Unterlassung
im Sinne des § 64 Abs. 1 BVerfGG zu verhindern. Die bloße Möglichkeit, dass eine sich im
Wahlkampf engagierende Amtsträgerin die Grenzen zulässiger Öffentlichkeitsarbeit
überschreitet, genügt insoweit nicht.
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3. Im Übrigen ist nach gegenwärtigem Sach- und Streitstand nicht erkennbar, dass der
Antragstellerin durch die angegriffene Äußerung der Antragsgegnerin ein Nachteil von solchem
Gewicht zugefügt wird, dass er nach dem anzulegenden strengen Maßstab den Erlass einer
einstweiligen Anordnung rechtfertigen würde.
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a) Das Recht politischer Parteien auf Chancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 GG kann dadurch
verletzt werden, dass Staatsorgane zugunsten oder zulasten einer politischen Partei in den
Wahlkampf einwirken (vgl. BVerfGE 44, 125 <146>; 63, 230 <243 f.>; BVerfG, Beschluss des
Zweiten Senats vom 10. Juni 2014 - 2 BvE 4/13 -, juris, Rn. 25). Deshalb ist es Staatsorganen
als solchen von Verfassungs wegen versagt, sich im Hinblick auf Wahlen mit Parteien oder
Wahlbewerbern zu identifizieren und sie unter Einsatz staatlicher Mittel zu unterstützen oder zu
bekämpfen, insbesondere durch Werbung die Entscheidung des Wählers zu beeinflussen (vgl.
BVerfGE 44, 125 <141>). Jedoch ist zu berücksichtigen, dass Politiker, insbesondere wenn sie
ein Staatsamt bekleiden, vor Wahlen nicht alle Auftritte in der Öffentlichkeit meiden können.
Mitglieder der Bundesregierung sind daher grundsätzlich befugt, sich auch im Wahlkampf in
amtlicher Funktion über die Medien an die Öffentlichkeit zu wenden (vgl. BVerfGE 44, 125
<154 f.>), haben dabei aber die Chancengleichheit der Parteien zu beachten.
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b) Zugunsten der Antragstellerin kann im Verfahren der einstweiligen Anordnung unterstellt
werden, dass sich die Antragsgegnerin zumindest auch in amtlicher Funktion über die
Antragstellerin geäußert hat. In dem Zeitungsinterview, in dem die angegriffene Aussage fiel,
gab die Antragsgegnerin Auskunft über die Bekämpfung des Rechtsextremismus und ein dafür
initiiertes Bundesprogramm, das sie verantwortet; daneben äußerte sie sich in diesem
Zusammenhang über den von ihr für richtig gehaltenen Umgang mit der Antragstellerin. Ersteres
ist von ihrer Befugnis zur Information der Öffentlichkeit gedeckt (vgl. BVerfGE 44, 125 <147 f.>).
Ob auch die Äußerungen zur Antragstellerin und deren möglichen Einzug in den Thüringer
Landtag noch von dieser Befugnis gedeckt sind und wie im Einzelnen die Grenzen zu einer
unzulässigen Einflussnahme auf den Wahlkampf zu bestimmen sind, bedarf - auch im Hinblick
auf den Umstand, dass die Antragstellerin vom Bundesamt für Verfassungsschutz als
rechtsextreme Partei eingeordnet wird und der Bundesrat deren Verbot gemäß Art. 21 Abs. 2 GG
beim Bundesverfassungsgericht beantragt hat - näherer Erörterung und wird im
Hauptsacheverfahren zu klären sein.
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c) Selbst wenn die Grenzen zu einer unzulässigen Einflussnahme nicht gewahrt worden sein
sollten, fehlt es an dem erforderlichen schweren Nachteil für die Antragstellerin. Die
Antragsgegnerin hat die angegriffene Aussage im Rahmen eines Zeitungsinterviews gemacht
und nicht unter Inanspruchnahme hoheitlicher Befugnisse oder unter Einsatz öffentlicher Sach-
und Finanzmittel gehandelt (vgl. BVerfGE 44, 125 <154>). Auch hat sich die Antragsgegnerin
insoweit nicht in spezifischer Weise auf ihre Stellung als Bundesministerin berufen. Im Hinblick
auf den Aussagegehalt ist zudem unklar, ob sie dies im Landtagswahlkampf anders zu
handhaben beabsichtigt; dagegen spricht, dass die Antragsgegnerin nach der Darlegung ihrer
Erfahrung des Umgangs mit der Antragstellerin im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern
ausdrücklich nur von sich als Person spricht und nicht von ihrem Ministerium, wie dies in dem
Zeitungsinterview an anderer Stelle der Fall ist. Einschätzungen einer Partei als rechtsextrem
oder verfassungsfeindlich sind Teil der öffentlichen Auseinandersetzung, denen die betroffene
Partei - sofern sich die Äußerungen im Rahmen von Gesetz und Recht halten - mit den Mitteln
des Meinungskampfes begegnen muss (vgl. BVerfGE 133, 100 <107 f., Rn. 21>). Dass die
Antragsgegnerin sich ungerechtfertigt herabsetzend oder polemisch gegenüber der
Antragstellerin geäußert habe, macht diese nicht geltend und ist auch sonst nicht ersichtlich.
Allein der Umstand, dass die angegriffene Äußerung von einer Bundesministerin stammt,
beeinträchtigt die Antragstellerin jedenfalls unter den hier gegebenen Umständen nicht in so
schwerwiegender Weise, dass der Erlass einer einstweiligen Anordnung gerechtfertigt wäre.
Voßkuhle
Gerhardt
Landau
Huber
Hermanns
Müller
Kessal-Wulf
König