Urteil des BVerfG vom 24.08.2000

BVerfG: getrennt leben, freibetrag, existenzminimum, minderung, sozialstaatsprinzip, familie, normenkontrolle, gehalt, copyright, presse

Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvL 32/94 -
In dem Verfahren
zur verfassungsrechtlichen Prüfung
des § 10 Abs. 2 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) in der Fassung des Elften Gesetzes zur Änderung des
BKGG vom 27. Juni 1985 (BGBl I S. 1251) und des § 10 Abs. 3 des Bundeskindergeldgesetzes in der Fassung des
Ersten Gesetzes zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms vom 21. Dezember 1993
(BGBl I S. 2353)
- Aussetzungs- und Vorlagebeschluss des Sozialgerichts Köln vom 13. Oktober 1994 (S 23 Kg 11/94) -
hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Richter Kühling,
die Richterin Jaeger
und den Richter Hömig
gemäß § 81 a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 24. August
2000 einstimmig beschlossen:
Die Vorlage ist unzulässig.
Gründe:
A.
1
Die Vorlage des Sozialgerichts betrifft die Frage, ob § 10 Abs. 2 und 3 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) in
der Fassung des Elften Gesetzes zur Änderung des BKGG vom 27. Juni 1985 (BGBl I S. 1251) und des Ersten
Gesetzes zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms vom 21. Dezember 1993 (BGBl I
S. 2353) mit Art. 3 Abs. 1 sowie Art. 6 Abs. 1 GG vereinbar ist.
I.
2
1. Durch das Haushaltsbegleitgesetz 1983 wurde das so genannte duale System des Kinder- und
Familienlastenausgleichs wieder eingeführt. Neben einem Kindergeld wurden Kinderfreibeträge bei der
Einkommensteuer gewährt. Die Höhe des Kindergeldes war in § 10 BKGG festgelegt, der Kinderfreibetrag ergab sich
aus § 32 EStG. Die genannten Regelungen haben, soweit hier einschlägig, den folgenden Wortlaut:
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§ 10 BKGG
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(1) Das Kindergeld beträgt für das 1. Kind 70 Deutsche Mark, für das 2. Kind 130 Deutsche
Mark, für das 3. Kind 220 Deutsche Mark und für das 4. und jedes weitere Kind je 240
Deutsche Mark monatlich. Bei der Anwendung des Satzes 1 gelten Kinder, Geschwister und
Pflegekinder eines Berechtigten, dem auch Kindergeld nach § 1 Abs. 2 zusteht oder ohne
Anwendung des § 8 Abs. 1 zustehen würde, als 2. oder weiteres Kind, wenn sie zuvor bei den
Eltern des Berechtigten berücksichtigt wurden.
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(2) Das Kindergeld für das 2. und jedes weitere Kind wird nach dem in Satz 4 genannten
Maßstab stufenweise bis auf den Sockelbetrag von
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70 Deutsche Mark für das 2. Kind,
70 Deutsche Mark für das 2. Kind,
140 Deutsche Mark für jedes weitere Kind
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gemindert, wenn das Jahreseinkommen des Berechtigten und seines nicht dauernd von ihm
getrennt lebenden Ehegatten den für ihn maßgeblichen Freibetrag um wenigstens 480
Deutsche Mark übersteigt. Für die Minderung des nach § 8 Abs. 2 bemessenen Kindergeldes
verringert sich der Sockelbetrag des Satzes 1 um den Betrag der bei der Bemessung nach § 8
Abs. 2 berücksichtigten anderen Leistung. Der Freibetrag setzt sich zusammen aus
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26.600 Deutsche Mark für Berechtigte, die verheiratet sind und von ihrem Ehegatten nicht
dauern getrennt leben,
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19.000 Deutsche Mark für sonstige Berechtigte,
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sowie 9.200 Deutsche Mark für jedes Kind, für das dem Berechtigten Kindergeld zusteht oder
ohne Anwendung des § 8 Abs. 1 zustehen würde. Für je 480 Deutsche Mark, um die das
Jahreseinkommen den Freibetrag übersteigt, wird das Kindergeld um 20 Deutsche Mark
monatlich gemindert; kommt die Minderung des für mehrere Kinder zu zahlenden Kindergeldes
in Betracht, wird sie beim Gesamtkindergeld vorgenommen.
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(3) Der Sockelbetrag für das 3. und jedes weitere Kind wird auf 70 Deutsche Mark festgesetzt,
wenn das Jahreseinkommen des Berechtigten und seines nicht dauernd von ihm getrennt
lebenden Ehegatten den für ihn nach diesem Absatz maßgeblichen Freibetrag übersteigt. Der
Freibetrag beträgt
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100.000 Deutsche Mark für Berechtigte, die verheiratet sind und von ihrem Ehegatten nicht
dauernd getrennt leben,
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75.000 Deutsche Mark für sonstige Berechtigte,
14
sowie 9.200 Deutsche Mark für das 4. und jedes weitere Kind, für das dem Berechtigten
Kindergeld zusteht oder ohne Anwendung des § 8 Abs. 1 zustehen würde.
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§ 32 Abs. 6 EStG
16
Ein Kinderfreibetrag von 2.052 Deutsche Mark wird für jedes zu berücksichtigende Kind des
Steuerpflichtigen vom Einkommen abgezogen. Bei Ehegatten... wird ein Kinderfreibetrag von
4.104 Deutsche Mark abgezogen, ... .
17
2. Mit dem Gesetz zur Familienförderung vom 22. Dezember 1999 (BGBl I S. 2552) wurde die Steuerfreistellung des
Existenzminimums eines Kindes für nicht bestandskräftige Entscheidungen aus den Jahren 1983 bis 1995 neu
geregelt. In das Einkommensteuergesetz wurde § 53 neu eingefügt. Die Vorschrift lautet:
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Sondervorschrift zur Steuerfreistellung des Existenzminimums eines Kindes in den
Veranlagungszeiträumen 1983 bis 1995
19
In den Veranlagungszeiträumen 1983 bis 1995 sind in Fällen, in denen die Einkommensteuer
noch nicht formell bestandskräftig oder hinsichtlich der Höhe der Kinderfreibeträge vorläufig
festgesetzt ist, für jedes bei der Festsetzung berücksichtigte Kind folgende Beträge als
Existenzminimum des Kindes steuerfrei zu belassen:
20
...
21
1994 6096 Deutsche Mark,
22
... .
23
... das dem Steuerpflichtigen im jeweiligen Veranlagungszeitraum zustehende Kindergeld (ist)
mit dem auf das bisherige zu versteuernde Einkommen des Steuerpflichtigen in demselben
Veranlagungszeitraum anzuwendenden Grenzsteuersatz in einen Freibetrag umzurechnen;... .
Erreicht die Summe aus dem bei der bisherigen Einkommensteuerfestsetzung abgezogenen
Kinderfreibetrag und dem... berechneten Freibetrag nicht den... maßgeblichen Betrag, ist der
Unterschiedsbetrag vom bisherigen zu versteuernden Einkommen abzuziehen und die
Einkommensteuer neu festzusetzen. ...
24
In das Bundeskindergeldgesetz wurde § 21 BKGG eingefügt, der folgenden Wortlaut hat:
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Sondervorschrift zur Steuerfreistellung des Existenzminimums eines Kindes in den
Veranlagungszeiträumen 1983 bis 1995 durch Kindergeld
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In Fällen, in denen die Entscheidung über die Höhe des Kindergeldanspruchs für Monate in
dem Zeitraum zwischen dem 1. Januar 1983 und dem 31. Dezember 1995 noch nicht
bestandskräftig geworden ist, kommt eine von den §§ 10 und 11... abweichende Bewilligung
von Kindergeld nur in Betracht, wenn die Einkommensteuer formell bestandskräftig und
hinsichtlich der Höhe der Kinderfreibeträge nicht vorläufig festgesetzt sowie das
Existenzminimum des Kindes nicht unter der Maßgabe des § 53 des
Einkommensteuergesetzes steuerfrei belassen worden ist. ... die Familienkasse (hat) den vom
Finanzamt ermittelten Unterschiedesbetrag zwischen der festgesetzten Einkommensteuer und
der Einkommensteuer, die nach § 53 Satz 6 des Einkommensteuergesetzes festzusetzen
gewesen wäre, wenn die Voraussetzungen nach § 53 Satz 1 und 2 des
Einkommensteuergesetzes vorgelegen hätten, als zusätzliches Kindergeld zu zahlen.
II.
27
1. Der Kläger des Ausgangsverfahrens bezog im Jahre 1994 für seine vier Töchter Kindergeld in Höhe der
Sockelbeträge von 70 DM je Kind, da sein Einkommen den Freibetrag von 109.200 DM überstieg. Ohne die Minderung
betrüge das Kindergeld für das erste Kind ebenfalls 70 DM, für das zweite Kind dagegen 130 DM, für das dritte Kind
220 DM und für das vierte Kind 240 DM.
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2. Mit seiner gegen den Kindergeldbescheid erhobenen Klage beim Sozialgericht begehrt der Kläger die Zahlung des
Kindergeldes in ungekürzter Höhe. Das Sozialgericht hat das Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG ausgesetzt und die
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu der Frage eingeholt, ob § 10 Abs. 2 des Bundeskindergeldgesetzes
in der Fassung des Elften Änderungsgesetzes und § 10 Abs. 3 des Bundeskindergeldgesetzes in der Fassung des
Ersten Gesetzes zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms ab 1. Januar 1994 mit dem
Grundgesetz vereinbar sind.
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Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die genannten Vorschriften seien entscheidungserheblich, weil
die darin genannten Voraussetzungen für eine Minderung des Kindergeldes beim Kläger vorlägen. Sie seien jedoch
mit Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 GG unvereinbar. Der Staat müsse dem Steuerpflichtigen sein
Einkommen insoweit steuerfrei belassen, als es zur Schaffung der Mindestvoraussetzungen für ein
menschenwürdiges Dasein benötigt werde. Das folge aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip
(Art. 20 Abs. 1 GG). Art. 6 Abs. 1 GG gebiete zudem, bei der Besteuerung einer Familie das Existenzminimum
sämtlicher Familienmitglieder steuerfrei zu lassen. Kindesunterhalt dürfe dabei auch deshalb nicht unberücksichtigt
bleiben, weil sonst Steuerpflichtige mit Kindern gegenüber kinderlosen Steuerpflichtigen unter Verletzung von Art. 3
Abs. 1 GG benachteiligt würden. Dem Kindergeld komme insoweit eine steuerliche Entlastungsfunktion zu. Rechne
man das gekürzte Kindergeld in einen fiktiven Kinderfreibetrag um, so ergebe sich zusammen mit dem für das Jahr
1994 maßgeblichen Kinderfreibetrag eine Summe, die den durchschnittlichen jährlichen Sozialhilfebedarf nicht
erreiche und damit unter dem Existenzminimum liege.
III.
30
Das Bundesverfassungsgericht hat den gemäß der §§ 82 Abs. 1, 77 BVerfGG Äußerungsberechtigten und dem
Präsidenten des Bundessozialgerichts sowie dem Kläger des Ausgangsverfahrens Gelegenheit zur Stellungnahme
gegeben.
B.
31
Die Vorlage ist unzulässig.
32
Eine Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG ist nur zulässig, wenn es für die im Ausgangsverfahren zu treffende
Entscheidung auf die Gültigkeit der zur Prüfung gestellten Vorschrift ankommt und das vorlegende Gericht von deren
Verfassungswidrigkeit überzeugt ist. Denn das Verfahren der konkreten Normenkontrolle ist allein dann gerechtfertigt,
wenn die Entscheidung der verfassungsrechtlichen Frage zur abschließenden Beurteilung des Falles unerlässlich ist
(vgl. BVerfGE 78, 201 <203 f.>; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 13. Dezember 1993, 1 BvL 12/92,
SozVers 1994, S. 110).
33
Die Entscheidungserheblichkeit der zur Prüfung gestellten Norm muss noch im Zeitpunkt der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts gegeben sein (vgl. BVerfGE 51, 161 <163 f.>; 82, 156 <158>; 85, 191 <203>). Dies gilt
auch im Hinblick auf Gesetzesänderungen während des Vorlageverfahrens, insbesondere wenn die Änderungen
rückwirkend in Kraft getreten sind. Das vorlegende Gericht muss in einem solchen Fall die geänderte Fassung
ausdrücklich
zum
Gegenstand
der
Vorlage
machen.
Zwischenzeitliche,
entscheidungserhebliche
Gesetzesänderungen, mit denen sich das vorlegende Gericht nicht auseinander gesetzt hat, sind nur dann durch das
Bundesverfassungsgericht von Amts wegen in die Prüfung einzubeziehen, wenn die Begründung des
Vorlagebeschlusses gleichermaßen für die neue Gesetzesfassung zutrifft, wenn also der sachliche Gehalt der vom
Gericht zur Prüfung vorgelegten Vorschriften wesentlich erhalten geblieben ist (vgl. BVerfGE 67, 256 <273>; BVerfG,
Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 13. Dezember 1993, 1 BvL 12/92, SozVers 1994, S. 110).
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Nach diesen Maßstäben hätte das vorlegende Gericht die Sondervorschriften zur Steuerfreistellung des
Existenzminimums eines Kindes für den hier maßgeblichen Veranlagungszeitraum im Gesetz zur Familienförderung
nachträglich zum Gegenstand der Vorlage machen müssen. Die zur Prüfung gestellten Normen sind nicht mehr
entscheidungserheblich. Die Neuregelung ist eigens geschaffen worden, um eine Steuerfreistellung des
Existenzminimums eines Kindes herbeizuführen. Die Verbesserungen gegenüber der Rechtslage, von der der
Vorlagebeschluss ausgeht, sind mit einer Erhöhung des Kinderfreibetrags von 4.104 DM auf 6.096 DM pro Kind und
Jahr so nachhaltig, dass das Bundesverfassungsgericht die geänderte Norm nicht von Amts wegen in die
verfassungsrechtliche Prüfung einbeziehen kann. Das Sozialgericht ist auf diesen Gesichtspunkt hingewiesen
worden, hat eine Überprüfung seines Beschlusses aber nicht vorgenommen. Eine solche erneute Überprüfung war
nicht schon deswegen entbehrlich, weil der nunmehr geltende Kinderfreibetrag nach der im Vorlagebeschluss
dargelegten Auffassung des vorlegenden Gerichts ebenfalls nicht dem Existenzminimum des Kindes entspricht; denn
der Gesetzgeber hat mit seiner Neuregelung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 10. November
1998 (BVerfGE 99, 246 <262 ff.>) Rechnung getragen, in der die Berechnungsmethoden für das steuerfrei zu
belassende Existenzminimum in bindender Weise (§ 31 Abs. 1 BVerfGG) festgelegt werden. Inwieweit die zur Prüfung
vorgelegte Norm mit dem vom Bundesverfassungsgericht gesetzten Maßstab nicht im Einklang stehen soll, bedarf
einer eingehenden Begründung.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Kühling
Jaeger
Hömig