Urteil des BVerfG vom 24.06.2010

BVerfG: verfassungskonforme auslegung, arbeitsrecht, vergütung, dienstleistung, arbeitsgericht, handbuch, minderung, vergleich, entlastung, fahrtkosten

Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvL 5/10 -
In dem Verfahren
zur verfassungsrechtlichen Prüfung,
ob die Bestimmung des § 615 Satz 2 BGB, wonach sich der Arbeitnehmer im Falle des Annahmeverzugs auf die
Vergütung das anrechnen lassen muss, was er infolge des Unterbleibens der Dienstleistung erspart, gegen Art. 3 des
Grundgesetzes verstößt
- Aussetzungs- und Vorlagebeschluss des Landesarbeitsgerichts Nürnberg vom 9. März 2010 (7 Sa 430/09) -,
hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Vizepräsidenten Kirchhof
und die Richter Bryde,
Schluckebier
gemäß § 81a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 24. Juni 2010
einstimmig beschlossen:
Die Vorlage ist unzulässig.
Gründe:
1
Die Vorlage betrifft die unterschiedliche Regelung der Anrechnung ersparter Aufwendungen auf den
Annahmeverzugslohn in § 615 Satz 2 BGB und § 11 KSchG. Nach § 615 Satz 2 BGB als der allgemeinen Vorschrift
zur Vergütung des Dienstverpflichteten bei Annahmeverzug des Dienstberechtigten muss sich der Verpflichtete den
Wert desjenigen anrechnen lassen, was er infolge des Unterbleibens der Dienstleistung erspart hat. Im Spezialfall des
§ 11 KSchG findet eine solche Anrechnung hingegen nicht statt. Das vorlegende Landesarbeitsgericht sieht darin in
einem Fall, in dem eine Anwendung des § 11 KSchG zu Gunsten eines Arbeitnehmers nicht in Betracht kam, eine
Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG).
I.
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Im Ausgangsverfahren streiten die Parteien, soweit hier von Bedeutung, nach einem rechtskräftigen Teilurteil über
den Bestand des Arbeitsverhältnisses noch um Ansprüche der Klägerin gegen den Beklagten auf Zahlung von
Arbeitsentgelt aus Annahmeverzug.
3
Die Klägerin war seit September 2004 als Buchhalterin beim Beklagten beschäftigt. Der Beklagte führt einen
Kleinbetrieb im Sinne des § 23 Abs. 1 Satz 3 KSchG mit nicht mehr als zehn Arbeitnehmern. Er behauptete, er habe
der Klägerin am 31. Oktober 2005 eine Kündigung zum 30. November 2005 ausgehändigt. Die Klägerin bestritt, die
Kündigung erhalten zu haben, und beantragte vor dem Arbeitsgericht, festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis
zwischen den Parteien ungekündigt fortbestehe. Außerdem machte sie für die Zeit ab Dezember 2005
Vergütungsansprüche geltend. Das Arbeitsgericht gab dem Feststellungsantrag durch Teilurteil statt, weil der
Beklagte den Zugang des Kündigungsschreibens nicht beweisen konnte. Dieses Urteil wurde rechtskräftig. Später
beendeten die Parteien das Arbeitsverhältnis zum 30. November 2007. Im Streit blieben aber die
Vergütungsansprüche der Klägerin. Das Arbeitsgericht sprach der Klägerin für den Zeitraum Dezember 2005 bis
November 2007 teils Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, teils gemäß § 615 Satz 1 BGB Annahmeverzugslohn zu.
Im Rahmen des Annahmeverzugslohns brachte es gemäß § 615 Satz 2 BGB die Fahrtkosten in Abzug, die sich die
Klägerin dadurch erspart hatte, dass sie nicht von zu Hause zur Arbeitsstätte fahren musste. Für den gesamten
Zeitraum ergab sich hierfür ein Abzug in Höhe von 2.617,50 €. Insoweit wurde die Klage erstinstanzlich abgewiesen.
II.
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Nachdem die Klägerin Berufung erhoben hatte, setzte das Landesarbeitsgericht den Rechtsstreit aus und legte dem
Bundesverfassungsgericht zur verfassungsrechtlichen Prüfung die Frage vor,
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ob die Bestimmung des § 615 Satz 2 BGB, wonach sich der Arbeitnehmer im Falle des
Annahmeverzugs auf die Vergütung das anrechnen lassen muss, was er infolge des
Unterbleibens der Dienstleistung erspart, gegen Art. 3 des Grundgesetzes verstößt.
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Zur Begründung führte das Landesarbeitsgericht im Wesentlichen aus:
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Die Entscheidung über die Berufung der Klägerin hänge davon ab, ob § 615 Satz 2 BGB anzuwenden sei.
Anspruchsgrundlage für die geltend gemachten Vergütungsansprüche sei, soweit es um Zeiträume gehe, in denen die
Klägerin nicht arbeitsunfähig erkrankt gewesen sei, § 615 Satz 1 BGB. Nach § 615 Satz 2 BGB sei auf die
Vergütungsansprüche das anzurechnen, was die Klägerin sich dadurch an Aufwendungen erspart habe, dass sie nicht
gearbeitet habe. Bei den in § 615 Satz 2 BGB genannten ersparten Aufwendungen handele es sich um solche
Aufwendungen, die dem Arbeitnehmer im Falle der Weiterarbeit entstanden wären. Hierzu gehörten typischerweise
Fahrtkosten für die Anfahrt zum Arbeitsplatz.
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Ein Abzug wäre allerdings nicht vorzunehmen, wenn § 11 KSchG anzuwenden wäre. § 11 KSchG stelle wie § 615
Satz 2 BGB eine Anrechnungsbestimmung dar, die indes anders als § 615 Satz 2 BGB keine Anrechnung ersparter
Aufwendungen vorsehe. Die Vorschrift verdränge als lex specialis § 615 Satz 2 BGB. Sie sei vorliegend gleichwohl
nicht anzuwenden. Gemäß § 23 Abs. 1 Satz 3 KSchG gälten die Regelungen des Ersten Abschnitts des
Kündigungsschutzgesetzes, also auch § 11 KSchG, nicht für Kleinbetriebe. Ausgenommen seien lediglich §§ 4 bis 7
und § 13 Abs. 1 Satz 1 und 2 KSchG. Kraft Gesetzes würden somit Arbeitnehmer, die in einem Kleinbetrieb tätig
seien, schlechter behandelt als Arbeitnehmer, die in einem Betrieb beschäftigt seien, auf den das
Kündigungsschutzgesetz anzuwenden sei. Während die Arbeitnehmer eines Kleinbetriebs sich ersparte
Aufwendungen auf den Verdienst anrechnen lassen müssten, sei dies bei anderen Arbeitnehmern nicht der Fall.
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Der allgemeine Gleichheitssatz gebiete, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu
behandeln. Daraus ergäben sich je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche
Grenzen für den Gesetzgeber, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an
Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichten. Art. 3 Abs. 1 GG sei danach jedenfalls dann verletzt, wenn sich ein
vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonst wie einleuchtender Grund für die gesetzliche
Differenzierung oder Gleichbehandlung nicht finden lasse.
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Gemessen an diesen Grundsätzen sei kein Grund erkennbar, der es gebiete oder auch nur als vertretbar erscheinen
lasse, die Frage, ob Arbeitnehmer sich auf den Annahmeverzugslohn ersparte Aufwendungen anrechnen lassen
müssten, in Abhängigkeit von der Größe des Betriebs, in dem sie beschäftigt seien, zu regeln.
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Das Bundesverfassungsgericht habe sich in seiner Entscheidung vom 27. Januar 1998 (BVerfGE 97, 169) mit der
Kleinbetriebsklausel des § 23 Abs. 1 KSchG auseinandergesetzt. Dabei sei es allerdings um die Frage gegangen, ob
es mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar sei, dass Arbeitnehmer, die in Kleinbetrieben tätig seien, vom Kündigungsschutz
nach § 1 KSchG ausgeschlossen seien. Dies sei bejaht worden. Die tragende Begründung hierfür sei die Überlegung
gewesen, dass bei enger persönlicher Zusammenarbeit, insbesondere persönlicher Mitarbeit des Arbeitgebers im
Betrieb, sowie bei geringerer Finanzausstattung und Verwaltungskapazität des Unternehmens gute Gründe dafür
sprächen, dem Arbeitgeber freiere Hand bei der Ausübung seines Kündigungsrechts einzuräumen, als ihm die
allgemeinen Vorschriften des Kündigungsschutzgesetzes erlaubten.
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Diese Gründe seien nicht geeignet, die unterschiedliche Regelung bei der Anrechnung ersparter Aufwendungen zu
begründen. Gerade die geringere Verwaltungskapazität kleinerer Betriebe spreche dagegen, die Abrechnung der
Annahmeverzugsansprüche auch noch bezüglich der ersparten Aufwendungen zu komplizieren. Die geringere
Finanzausstattung rechtfertige die unterschiedliche Behandlung ebenfalls nicht. Ob der Arbeitnehmer im Hinblick auf
die Erbringung der Arbeitsleistung Aufwendungen habe, berühre das Verhältnis von Arbeitnehmer und Arbeitgeber
nicht. Insbesondere wirkten sich etwaige Aufwendungen des Arbeitnehmers nicht auf die Arbeitsvergütung aus,
sondern würden in aller Regel im Rahmen der steuerlichen Behandlung des Einkommens vom Arbeitnehmer als
abzugsfähige Werbungskosten geltend gemacht. Warum dies im Fall des Annahmeverzugs zu einer Minderung des
Arbeitslohnes führen solle, sei ohnehin nicht ohne Weiteres nachzuvollziehen.
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Die Gründe, die den Gesetzgeber bewogen hätten, § 11 KSchG anders zu regeln als § 615 Satz 2 BGB, stellten
ebenfalls keinen sachlichen Grund für die Ungleichbehandlung dar. Der Regierungsentwurf zum Gesetz von 1951 habe
zunächst ebenfalls eine Anrechnungspflicht vorgesehen. Der zuständige Ausschuss des Bundestags habe aber im
Hinblick auf die Geringfügigkeit der in Betracht kommenden Beträge diese Vorschrift gestrichen, um „nicht kleinlich zu
verfahren“ (Bezugnahme auf Hueck/v.Hoyningen-Huene, KSchG, 14. Aufl. 2007, § 11 Rn. 48). Diese Überlegung treffe
auch für Kleinbetriebe zu. Die Regelung des § 615 Satz 2 BGB sei daher wegen Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG
verfassungswidrig. Eine verfassungskonforme Auslegung komme nicht in Betracht. Der eindeutige Wortlaut des § 615
Satz 2 BGB lasse eine Auslegung dahingehend, die ersparten Aufwendungen nicht anzurechnen, nicht zu.
III.
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Die Vorlage ist unzulässig.
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1. Ein Gericht kann eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsmäßigkeit einer
gesetzlichen Vorschrift nach Art. 100 Abs. 1 GG nur einholen, wenn es zuvor sowohl die Entscheidungserheblichkeit
der Vorschrift als auch ihre Verfassungsmäßigkeit sorgfältig geprüft hat (vgl. BVerfGE 86, 71 <76>). Gemäß § 80
Abs. 2 Satz 1 BVerfGG muss das vorlegende Gericht in den Gründen seiner Entscheidung ausführen, inwiefern seine
Entscheidung von der Gültigkeit der zur Prüfung gestellten Norm abhängt und mit welcher übergeordneten
Rechtsnorm sie unvereinbar ist. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts genügt ein
Vorlagebeschluss dem Begründungserfordernis des § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG nur, wenn ihm zum einen mit
hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen ist, dass das vorlegende Gericht im Falle der Gültigkeit der für
verfassungswidrig gehaltenen Rechtsvorschrift zu einem anderen Ergebnis kommen würde als im Falle ihrer
Ungültigkeit und wie es dieses Ergebnis begründen würde (vgl. BVerfGE 7, 171 <173 f.>; 105, 61 <67>; stRspr). Zum
anderen muss das vorlegende Gericht die für seine Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit der Norm
maßgeblichen Erwägungen nachvollziehbar und erschöpfend darlegen (vgl. BVerfGE 78, 165 <171 f.>; 86, 71 <78>;
88, 70 <74>; 88, 198 <201>; 93, 121 <132>). Es muss deutlich machen, mit welchem verfassungsrechtlichen
Grundsatz die zur Prüfung gestellte Regelung seiner Ansicht nach nicht vereinbar ist und aus welchen Gründen es zu
dieser Auffassung gelangt ist. Dabei muss es sich intensiv mit der einfachen Rechtslage auseinandersetzen, auf
naheliegende tatsächliche und rechtliche Gesichtspunkte eingehen und die in Rechtsprechung und Schrifttum
vertretenen Auffassungen ebenso verarbeiten wie die Entstehungsgeschichte der betreffenden Norm (vgl. BVerfGE
76, 100 <104>; 79, 240 <243 f.>; 80, 96 <100>; 86, 52 <57>; 86, 71 <77 f.>; 89, 329 <337>; 92, 277 <312>; 105, 48
<56>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 10. März 2010 - 1 BvL 11/07 -, juris).
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2. Diesen Anforderungen genügt die Begründung des Vorlagebeschlusses nicht.
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a) Der Vorlagebeschluss macht schon nicht hinreichend deutlich, welche Sachverhalte oder Personengruppen aus
Sicht des Landesarbeitsgerichts in verfassungswidriger Weise ungleich behandelt werden.
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Ausweislich der im Tenor des Beschlusses formulierten Vorlagefrage betrifft die vom Landesarbeitsgericht
beanstandete Ungleichbehandlung Arbeitnehmer, die sich nach § 615 Satz 2 BGB im Falle des Annahmeverzugs auf
die Vergütung dasjenige anrechnen lassen müssen, was sie infolge des Unterbleibens der Dienstleistung erspart
haben. Das Landesarbeitsgericht scheint damit die allgemeine Anrechnungsregelung des § 615 Satz 2 BGB zur
verfassungsgerichtlichen Prüfung zu stellen und die Vorlagefrage insoweit nur dahingehend einzugrenzen, dass nicht
alle von dieser Vorschrift erfassten Dienstverhältnisse in Betracht gezogen werden sollen, sondern nur diejenigen von
Arbeitnehmern. Die Benachteiligung der von § 615 Satz 2 BGB erfassten Arbeitnehmer soll sich hiernach aus einem
Vergleich mit solchen Arbeitnehmern ergeben, deren Annahmeverzugsvergütung sich nach § 11 KSchG richtet und
die sich deshalb keine ersparten Aufwendungen anrechnen lassen müssen. So verstanden würden also allgemein die
Anrechnungsregelungen des § 615 Satz 2 BGB und des § 11 KSchG gegenübergestellt.
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Die unterschiedliche Ausgestaltung dieser Anrechnungsvorschriften ist im Schrifttum bislang nicht in
nennenswertem Maße als verfassungsrechtliches Problem diskutiert worden. Der Unterschied in den gesetzlichen
Regelungen wird meist nur beschrieben (vgl. Weidenkaff, in: Palandt, BGB, 69. Aufl. 2010, § 615 Rn. 19; Spilger, in:
KR, 9. Aufl. 2009, § 11 KSchG Rn. 50; Boewer, in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, Band 1, 3. Aufl. 2009,
§ 69 Rn. 41; Preis, in: ErfK, 10. Aufl. 2010, § 615 BGB Rn. 85; Biebl, in: Ascheid/Preis/Schmidt, Kündigungsrecht,
3. Aufl. 2007, § 11 KSchG Rn. 31; Fiebig, in: Fiebig/Gallner/Nägele, Kündigungsschutzrecht, 3. Aufl. 2007, § 11
KSchG Rn. 40; ders., in: Däubler/Hjort/Hummel/Wolmerath, Arbeitsrecht, § 11 KSchG Rn. 24; Boecken, in:
AnwaltKommentar Arbeitsrecht, Band 1, 2. Aufl. 2010, § 615 BGB Rn. 53; Richardi, in: v. Staudinger, BGB, §§ 611-
615, Neubearbeitung 2005, § 615 Rn. 134, 139; Belling, in: Erman, BGB, 12. Aufl. 2008, § 615 Rn. 40; Linck, in:
Schaub/Koch/Linck/Vogelsang, Arbeitsrecht-Handbuch, 13. Aufl. 2009, § 95 Rn. 85; Bröhl, in:
Dornbusch/Fischermeier/Löwisch, Fachanwaltskommentar Arbeitsrecht, 2. Aufl. 2009, § 11 KSchG Rn. 14;
Schneppendahl, in: Wedde, Arbeitsrecht, § 11 KSchG Rn. 3). Gelegentlich wird kurz kritisch angemerkt, die
Rechtslage sei uneinheitlich (vgl. v. Hoyningen-Huene/Linck, KSchG, 14. Aufl. 2007, § 11 Rn. 48; Pleßner, in:
BeckOK KSchG, § 11 Rn. 25 ; Hergenröder, in: MüKo-BGB, 5. Aufl. 2009, § 11 KSchG Rn. 26),
aber nur ganz vereinzelt werden verfassungsrechtliche Bezüge hergestellt, indem - wenn auch ohne nähere
Ausführungen - Zweifel an der Vereinbarkeit mit „Art. 3 GG“ geäußert werden, weil die Differenzierung durch keinen
sachlichen Grund gerechtfertigt sei (vgl. Henssler, in: MüKo-BGB, 5. Aufl. 2009, § 615 Rn. 65).
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Auch das Landesarbeitsgericht möchte die Vorlagefrage wohl nicht so weit verstanden wissen, dass entsprechend
dem Tenor des Beschlusses die Regelung des § 615 Satz 2 BGB, soweit sie Arbeitnehmer betrifft, insgesamt zur
verfassungsgerichtlichen Prüfung gestellt werden soll. Zwar meint das Landesarbeitsgericht beiläufig auch allgemein,
es sei ohnehin nicht nachvollziehbar, warum die Ersparnis von Aufwendungen im Fall des Annahmeverzugs zu einer
Minderung des Arbeitslohns führen solle. Die verfassungsrechtliche Kritik des Gerichts richtet sich aber ausweislich
der weiteren Beschlussgründe im Wesentlichen wohl nicht gegen eine Benachteiligung von Arbeitnehmern im
gesamten Anwendungsbereich des § 615 Satz 2 BGB, also in jedem Falle des Annahmeverzugs des Arbeitgebers.
Vielmehr hat das Landesarbeitsgericht speziell den Annahmeverzug des Arbeitgebers im Blick, der die Arbeitsleistung
des Arbeitnehmers deshalb nicht in Anspruch nimmt, weil er sich darauf beruft, das Arbeitsverhältnis sei durch eine
von ihm ausgesprochene Kündigung beendet worden. Besteht das Arbeitsverhältnis doch fort, weil die Kündigung
rechtsunwirksam war, weil sie vom Arbeitgeber zurückgenommen wurde oder weil sich die Arbeitsvertragsparteien auf
eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses geeinigt haben, kommt in allen diesen Fällen (vgl. Boewer, in: Münchener
Handbuch zum Arbeitsrecht, Band 1, 3. Aufl. 2009, § 69 Rn. 41) § 11 KSchG zur Anwendung, es sei denn, die
Geltung dieser Vorschrift ist durch § 23 Abs. 1 Satz 2 und 3 KSchG ausgeschlossen. In diesem Ausnahmefall bleibt
es für die Arbeitnehmer eines Kleinbetriebs im Sinne des § 23 Abs. 1 Satz 2 und 3 KSchG auch dann bei der
Anrechnung ersparter Aufwendungen nach § 615 Satz 2 BGB, wenn dem Annahmeverzug des Arbeitgebers eine
Kündigung zugrunde liegt, die das Arbeitsverhältnis nicht beendet hat. Das Landesarbeitsgericht sieht für diese
Benachteiligung solcher gekündigter Arbeitnehmer, für die die Anwendung des § 11 KSchG durch § 23 Abs. 1 KSchG
ausgeschlossen wird, keinen tragfähigen Grund. Abweichend vom Tenor des Vorlagebeschlusses dürfte Gegenstand
der beantragten verfassungsgerichtlichen Prüfung daher eigentlich die Frage sein, ob der Ausschluss der Geltung des
§ 11 KSchG für gekündigte Arbeitnehmer eines Kleinbetriebs durch § 23 Abs. 1 Satz 2 und 3 KSchG mit Art. 3 Abs. 1
GG vereinbar ist.
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Die hiernach bestehenden Unklarheiten hinsichtlich des Gegenstands der Normenkontrolle könnten als solche für die
Zulässigkeit der Vorlage unschädlich sein, wenn sie durch eine Auslegung der Vorlagefrage unter Berücksichtigung
der Gründe des Vorlagebeschlusses überwunden werden könnten. Damit wären aber noch nicht die Defizite in der
Begründung der Überzeugung des Landesarbeitsgerichts von der Verfassungswidrigkeit der - anderen als von ihm im
Tenor des Beschlusses genannten - Norm beseitigt, die sich daraus ergeben, dass die Darlegung einer Verletzung
des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) die Gegenüberstellung bestimmter, durch die Norm
unterschiedlich geregelter Sachverhalte oder Personengruppen voraussetzt. Wechseln die Überlegungen des
vorlegenden Gerichts wie hier zwischen mehreren Standpunkten hin und her, ohne sich zweifelsfrei nachvollziehbar
auf den Vergleich bestimmter Sachverhalte oder Personengruppen festzulegen, dann fehlt es schon aus diesem
Grunde an einer schlüssigen, den Vorgaben des § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG entsprechenden Begründung der
Vorlage.
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b) Jedenfalls hat sich das Landesarbeitsgericht nicht hinreichend mit einer möglichen, den verfassungsrechtlichen
Anforderungen des Art. 3 Abs. 1 GG genügenden sachlichen Rechtfertigung für die Ungleichbehandlung
auseinandergesetzt. Das Landesarbeitsgericht hat nicht in ausreichendem Maße untersucht, ob die sich aus § 23
Abs. 1 Satz 2 und 3 KSchG ergebende Unanwendbarkeit des § 11 KSchG im Falle eines vom Arbeitnehmer eines
Kleinbetriebs erfolgreich geführten Kündigungsschutzverfahrens zur Entlastung des betroffenen Arbeitgebers bei
generalisierender Betrachtung (vgl. BVerfGE 97, 169 <182 ff.>) gerechtfertigt sein kann.
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In § 11 KSchG wird von einer Anrechnung ersparter Aufwendungen im Sinne des § 615 Satz 2 BGB im Anschluss
an ein Kündigungsschutzverfahren abgesehen, um die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht durch
Auseinandersetzungen über die Höhe des Annahmeverzugsentgelts zu belasten (vgl. Fiebig, in:
Fiebig/Gallner/Nägele, Kündigungsschutzrecht, 3. Aufl. 2007, § 11 KSchG Rn. 40; vgl. zur Gesetzgebungsgeschichte
BTDrucks Nr. 2090 vom 27. März 1951 und Nr. 2384 vom 21. Juni 1951; RdA 1951, S. 178). Dieser Regelungszweck
des § 11 KSchG kann auch in einem Kleinbetrieb Bedeutung erlangen, wenn der Arbeitnehmer des Kleinbetriebs die
Kündigung des Arbeitgebers mit Erfolg angegriffen hat und das Arbeitsverhältnis möglichst konfliktfrei fortgesetzt
werden soll. Dennoch kann es unter Berücksichtigung des Regelungsspielraums des Gesetzgebers
verfassungsrechtlich unbedenklich sein, das durch § 11 KSchG verfolgte Anliegen dann hinter das Interesse des
Arbeitgebers an einer Anrechnung der ersparten Aufwendungen des Arbeitnehmers zurücktreten zu lassen, wenn es
sich um einen Arbeitgeber eines Kleinbetriebs handelt, der typischerweise finanziell weniger leistungsstark und
deshalb an einer Reduzierung der Lohnkosten besonders interessiert ist.
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Dass diese naheliegende Erwägung sachlich nicht zu rechtfertigen ist und keinen angemessenen Ausgleich der
widerstreitenden Interessen von Arbeitgeber und Arbeitnehmer darstellt, hat das Landesarbeitsgericht nicht
nachvollziehbar dargelegt. Es hat die durch § 615 Satz 2 BGB bewirkte Entlastung des Arbeitgebers in Abrede
gestellt, indem es ausgeführt hat, das Verhältnis von Arbeitnehmer und Arbeitgeber werde nicht dadurch berührt, ob
der Arbeitnehmer im Hinblick auf die Erbringung der Arbeitsleistung Aufwendungen habe oder nicht. Dass die
Anrechnung ersparter Aufwendungen die Höhe des vom Arbeitgeber geschuldeten Annahmeverzugsentgelts
beeinflusst, ergibt sich jedoch bereits daraus, dass auch aus Sicht des Landesarbeitsgerichts die Klage gegen den
Arbeitgeber teilweise abzuweisen wäre, wenn eine Anrechnung nach § 615 Satz 2 BGB erfolgen müsste.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Kirchhof
Bryde
Schluckebier