Urteil des BVerfG vom 03.09.2014

BVerfG: unwürdigkeit, verfassungsbeschwerde, bestimmtheitsgebot, entziehung, wissenschaft, berufsfreiheit, universität, rechtfertigung, kommission, begriff

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 3353/13 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn Dr. S…,
- Bevollmächtigte:
Anwaltskanzlei Zuck,
Vaihinger Markt 3, 70563 Stuttgart -
1. unmittelbar gegen
a) den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 23. Oktober 2013 -
BVerwG 6 C 26.13 (6 C 9.12) -,
b) das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 31. Juli 2013 - BVerwG 6
C 9.12 -,
c) das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 14.
September 2011 - 9 S 2667/10 -,
2. mittelbar gegen
§ 35 Abs. 7 Satz 1 des Gesetzes über die Hochschulen in Baden-
Württemberg - LHG BW - vom 1. Januar 2005 (GBl S. 1), hier in der
Fassung des Gesetzes vom 14. Juli 2009 (GBl S. 317, 331)
hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Vizepräsidenten Kirchhof,
den Richter Masing
und die Richterin Baer
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11.
August 1993 (BGBl I S. 1473) am 3. September 2014 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe:
I.
1
Mit seiner Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen
verwaltungsgerichtliche Entscheidungen, die den Entzug seines Doktorgrades wegen
Unwürdigkeit aufgrund späteren Verhaltens bestätigt haben.
2
1. Der Beschwerdeführer ist Physiker. Die Universität Konstanz promovierte ihn zum Doktor der
Naturwissenschaften. Anschließend arbeitete er an einer Forschungseinrichtung in den USA. Er
war in dieser Zeit an einer Vielzahl von Publikationen beteiligt, die in der wissenschaftlichen
Öffentlichkeit teilweise als bahnbrechend gewürdigt wurden.
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Im Mai 2002 setzte die Forschungseinrichtung eine Kommission ein, um Vorwürfe des
wissenschaftlichen Fehlverhaltens zu klären, die in der Fachöffentlichkeit unter Bezug auf
Publikationen des Beschwerdeführers erhoben worden waren. Nach ihren Untersuchungen kam
die Kommission zu dem Ergebnis, dass der Beschwerdeführer die Originaldaten und
verwendeten Proben seiner beschriebenen Experimente nicht systematisch archiviert habe.
Zudem gebe es zwingende Belege dafür, dass er Daten manipuliert und falsch dargestellt habe.
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Der Promotionsausschuss der Universität Konstanz leitete daraufhin ein Verfahren zur
Entziehung des Doktorgrades ein und entzog dem Beschwerdeführer im Jahr 2004 unter
Berufung auf § 55c Abs. 1 des Gesetzes über die Universitäten im Lande Baden-Württemberg in
der Fassung vom 1. Februar 2000 (später unverändert übernommen in § 35 Abs. 7 Satz 1 des
Gesetzes über die Hochschulen in Baden-Württemberg, Landeshochschulgesetz - LHG a.F., seit
dem 9. April 2014 enthalten in § 36 Abs. 7 LHG n.F.) den Grad eines Doktors der
Naturwissenschaften.
5
2. Nach einem erfolglosen Widerspruchsverfahren gab das Verwaltungsgericht der Klage des
Beschwerdeführers statt. Das wissenschaftsbezogene Verständnis des in § 35 Abs. 7 Satz 1
LHG a.F. enthaltenen Begriffs der Unwürdigkeit sei verfassungsrechtlich nicht zulässig und die
Unwürdigkeit auf Fälle besonders zu missbilligender Straftaten zu beschränken.
6
Der Verwaltungsgerichtshof änderte das Urteil und wies die Klage ab. Er führte im Wesentlichen
aus, das in § 35 Abs. 7 LHG a.F. enthaltene Tatbestandsmerkmal der Unwürdigkeit sei wegen
des in ihm angelegten Wissenschaftsbezugs hinreichend bestimmt. Ein Titelinhaber erweise
sich als unwürdig zur Führung des Doktorgrades, wenn er gravierend gegen die Grundsätze
guter wissenschaftlicher Praxis verstoße, insbesondere Forschungsergebnisse fälsche.
7
3. Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Beschwerdeführers ließ das
Bundesverwaltungsgericht die Revision zu, die es mit dem angegriffenen Urteil zurückwies.
8
Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, die Vorschrift des § 35 Abs. 7 LHG a.F., die dem
nicht revisiblen Landesrecht angehöre, verstoße in ihrer für das Bundesverwaltungsgericht
verbindlichen Auslegung durch den Verwaltungsgerichtshof nicht gegen das Grundgesetz. Die
als abschließend anzusehende Auslegung, dass von der Vorschrift nur der Doktorgrad erfasst
sei und dessen Entziehung wegen späterer Unwürdigkeit vorsätzliche oder grob fahrlässige
Verstöße gegen wissenschaftliche Kernpflichten voraussetze, stehe nicht in Widerspruch zum
verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot. Sie stimme überein mit der restriktiven,
verfassungskonformen Auslegung des Unwürdigkeitsbegriffs durch das
Bundesverfassungsgericht (Verweis auf BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats
vom 30. November 1988 - 1 BvR 900/88 -, juris). Die Vorschrift erfasse im Wesentlichen die
Verletzung von Pflichten, die sich bereits aus dem Begriff der Wissenschaft als solchem, das
heißt dem ernsthaften Versuch der Ermittlung von Wahrheit, ergeben.
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In der wissenschaftsbezogenen Auslegung durch den Verwaltungsgerichtshof sei § 35 Abs. 7
LHG a.F. mit Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG vereinbar. Der Eingriff finde seine Rechtfertigung in Art. 5
Abs. 3 Satz 1 GG als objektiver Grundsatznorm, weil er der Sicherung der Funktionsfähigkeit des
Wissenschaftsprozesses diene; wissenschaftlich Tätige, die auf Erkenntnissen anderer
aufbauten, müssten darauf vertrauen können, dass diese nicht manipuliert seien.
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Die fehlende Möglichkeit der Befristung der Entziehungsentscheidung mache § 35 Abs. 7 LHG
a.F. nicht unverhältnismäßig. Erweise es sich als unzumutbar, die Entziehungsentscheidung
aufrechtzuerhalten, könne dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dadurch Rechnung getragen
werden, dass sie widerrufen werde. Unabhängig davon bestehe die Möglichkeit, den Doktorgrad
erneut zu erwerben.
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Einschränkungen der Berufsfreiheit für Tätigkeiten im Wissenschaftsbetrieb durch die
Entziehung des Doktorgrades seien ebenfalls gerechtfertigt, weil sie zum Schutz der
Funktionsfähigkeit des Wissenschaftsprozesses, einem überragend wichtigen und
verfassungsrechtlich in Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG verankerten Gemeinschaftsgut, erforderlich und
auch sonst verhältnismäßig seien. Faktische Beeinträchtigungen der Berufsfreiheit außerhalb
des Wissenschaftsbereichs müssten deshalb ebenfalls hingenommen werden.
12
Die nachfolgend erhobene Anhörungsrüge wies das Bundesverwaltungsgericht zurück.
13
4. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 5 Abs.
3 Satz 1, Art. 12 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3, Art. 103 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4 und Art. 3 Abs. 1 GG
durch die angegriffenen Urteile sowie - mittelbar - durch § 35 Abs. 7 LHG a.F. Er macht
insbesondere geltend, das Tatbestandsmerkmal der Unwürdigkeit verstoße gegen das sich aus
dem Rechtsstaatsprinzip ergebende Bestimmtheitsgebot.
II.
14
Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen. Annahmegründe im Sinne
von § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor. Der Verfassungsbeschwerde kommt keine
grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu, denn die von ihr aufgeworfenen Fragen
sind in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung geklärt. Sie ist auch nicht zur
Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt, weil die
Verfassungsbeschwerde keine Aussicht auf Erfolg hat.
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1. Die Angriffe gegen die verwaltungsgerichtlichen Urteile und mittelbar gegen § 35 Abs. 7 LHG
a.F. bleiben ohne Erfolg. Die Vorschrift verstößt in ihrer Auslegung durch die Fachgerichte nicht
gegen das verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot (a). Die auf ihrer Grundlage
vorgenommenen Eingriffe in Art. 12 Abs. 1 Satz 1 und Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG sind auch
verhältnismäßig (b).
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a) Der Bestimmtheitsgrundsatz gebietet, dass eine gesetzliche Ermächtigung der Exekutive zur
Vornahme von Verwaltungsakten nach Inhalt, Zweck und Ausmaß hinreichend bestimmt und
begrenzt ist, so dass das Handeln der Verwaltung messbar und in gewissem Ausmaß
voraussehbar und berechenbar wird (vgl. BVerfGE 56, 1 <12> m.w.N.). Das Bestimmtheitsgebot
zwingt den Gesetzgeber aber nicht, den Tatbestand mit genau erfassbaren Maßstäben zu
umschreiben. Dass ein Gesetz unbestimmte, der Auslegung und Konkretisierung bedürftige
Begriffe verwendet, verstößt allein noch nicht gegen den rechtsstaatlichen Grundsatz der
Normklarheit und Justitiabilität. Allerdings muss das Gesetz so bestimmt sein, wie dies nach der
Eigenart der zu ordnenden Lebenssachverhalte mit Rücksicht auf den Normzweck möglich ist.
Unvermeidbare Auslegungsschwierigkeiten in Randbereichen sind dann von Verfassungs
wegen hinzunehmen. Erforderlich ist allerdings, dass die von der Norm Betroffenen die
Rechtslage erkennen und ihr Verhalten danach einrichten können. Sie müssen in zumutbarer
Weise feststellen können, ob die tatsächlichen Voraussetzungen für die Rechtsfolge vorliegen
(BVerfGE 103, 332 <384> m.w.N.).
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Nach diesen Maßstäben begegnet die Auslegung des Tatbestandsmerkmals der „Unwürdigkeit“
in der streitigen Vorschrift durch den Verwaltungsgerichtshof und das Bundesverwaltungsgericht
keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken. Dem Bestimmtheitsgebot wird
genügt, wenn sich aus der gesetzlichen Regelung und ihrer Zielsetzung richtungsweisende
Gesichtspunkte für die Auslegung der verwendeten unbestimmten Rechtsbegriffe ergeben. Das
ist bei dem Begriff der Würdigkeit der Fall, der sich im Wissenschaftsrecht durch Wesen und
Bedeutung des akademischen Grads präzisieren lässt. Ein solches wissenschaftsbezogenes
Verständnis des an sich unscharfen Begriffs der Würdigkeit erzwingt eine restriktive
Handhabung durch den unmittelbaren Bezug zu der mit dem Doktorgrad verbundenen fachlich-
wissenschaftlichen Qualifikation. Dies hält den verfassungsrechtlichen Anforderungen stand,
weil es das die Unwürdigkeit begründende Fehlverhalten funktionell mit dem Wesen und der
Bedeutung des akademischen Grads verknüpft (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des
Ersten Senats vom 30. November 1988 - 1 BvR 900/88 -, juris, Rn. 8 f.; siehe auch Lorenz, DVBl
2005, S. 1242 <1244 f.>; von Coelln, FuL 2011, S. 278 <279>; Stumpf, BRJ Sonderausgabe
2011, S. 8 <37 f.>). Das Bundesverwaltungsgericht hat insofern auch zutreffend darauf
hingewiesen, dass die Unwürdigkeit ausschließlich wissenschaftsbezogen auszulegen ist, und
eine Entziehung eines akademischen Titels etwa bei Verfehlungen außerhalb des
Wissenschaftsbetriebs nicht in Betracht komme. Das verstieße gegen das Bestimmtheitsgebot,
weil damit für eine Entscheidung über die Unwürdigkeit Kriterien herangezogen werden würden
- wie eine Enttäuschung traditioneller gesellschaftlicher Vorstellungen über den Doktorgrad -, die
keine gesetzliche Grundlage haben. Zudem sind die Hochschulen zur Abgabe und
Durchsetzung solcher außerhalb der Wissenschaft angesiedelter Werturteile nicht berufen.
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Die Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts zur Rechtfertigung der Eingriffe in Art. 12
Abs. 1 Satz 1 und Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG sind gleichfalls nicht zu beanstanden. Die Freiheit der
Wissenschaft ist in Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG als objektiver Grundsatznorm garantiert, was auch der
Sicherung der Funktionsfähigkeit des Wissenschaftsprozesses dient.
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Im Übrigen genügt die Verfassungsbeschwerde nicht den Anforderungen der § 23 Abs. 1 Satz 2
Halbsatz 1, § 92 BVerfGG. Insbesondere hat es der Beschwerdeführer versäumt, die für die
verfassungsrechtliche Beurteilung notwendige Revisionsbegründung vorzulegen.
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3. Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Kirchhof
Masing
Baer