Urteil des BVerfG vom 04.03.2014

BVerfG: erlass, oberschule, schüler, bekanntmachung, rechtsschutz, hauptsache, verfügung, verfassungsbeschwerde, umdeutung, normenkontrolle

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvL 2/13 -
In dem Verfahren
zur verfassungsrechtlichen Prüfung,
a) ob § 23a Absatz 1 des Schulgesetzes für den Freistaat Sachsen (SchulG)
in der Fassung der Bekanntmachung vom 16. Juli 2004 (GVBl S. 298),
zuletzt geändert durch Artikel 2 des Gesetzes zur Regelung des
Verwaltungsverfahrens- und Verwaltungszustellungsrechts für den
Freistaat Sachsen und zur Änderung anderer Gesetze vom 19. Mai 2010
(GVBl S. 142), insoweit mit dem Grundgesetz vereinbar ist, als die
kreisangehörigen Gemeinden keine Schulnetzpläne für die Grundschulen
aufstellen können,
b) ob § 23a Absatz 3 Satz 1 des Schulgesetzes für den Freistaat Sachsen
(SchulG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 16. Juli 2004 (GVBl
S. 298), zuletzt geändert durch Artikel 2 des Gesetzes zur Regelung des
Verwaltungsverfahrens- und Verwaltungszustellungsrechts für den
Freistaat Sachsen und zur Änderung anderer Gesetze vom 19. Mai 2010
(GVBl S. 142), insoweit mit dem Grundgesetz vereinbar ist, als mit den
kreisangehörigen Gemeinden bei der Aufstellung von Schulnetzplänen
für die Grundschulen und die Mittelschulen nur „Benehmen“ herzustellen
ist
- Aussetzungs- und Vorlagebeschluss des Verwaltungsgerichts Dresden vom 28. Februar 2013 -
5 K 337/11 -
h i e r : Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung der Stadt S ...
hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Präsidenten Voßkuhle
und die Richter Gerhardt,
Huber
gemäß § 81a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S.
1473) am 4. März 2014 einstimmig beschlossen:
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
Gründe:
1
Die Antragstellerin beantragt im Rahmen eines konkreten Normenkontrollverfahrens den Erlass
einer einstweiligen Anordnung. Sie möchte ihre von der Schließung bedrohte Oberschule im
Schuljahr 2014/15 fortführen. Die Anmeldefrist für das neue Schuljahr endet am 14. März 2014.
I.
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1. Über die Schließung einer Schule entscheidet nach § 23a Abs. 5 des Schulgesetzes für den
Freistaat Sachsen in der Fassung der Bekanntmachung vom 16. Juli 2004, zuletzt geändert
durch Artikel 2 des Gesetzes vom 19. Mai 2010 (SächsGVBl S. 142 - SchulG) der Schulträger
auf der Grundlage eines Schulnetzplans. Die Schulnetzpläne werden nach § 23a Abs. 1 Satz 1
SchulG von den Landkreisen aufgestellt. Soweit kreisangehörige Gemeinden Schulträger sind,
ist bei der Aufstellung der Schulnetzpläne gemäß § 23a Abs. 3 Satz 1 SchulG mit ihnen
Benehmen herzustellen. Wird das öffentliche Bedürfnis für den Fortbestand einer Schule oder
der Einrichtung einer Klassenstufe verneint, kann der Freistaat Sachsen auf der Grundlage eines
Schulnetzplans gemäß § 24 Abs. 3 Satz 2 SchulG auch über den Widerruf der Mitwirkung an
einer Schule oder an Teilen derselben entscheiden. In diesem Fall stellt er keine Lehrer mehr
zur Verfügung. Maßgeblich für das öffentliche Bedürfnis am Erhalt einer Schule ist insbesondere
die Schülerzahl. Für die Oberschule (in der Terminologie des Schulgesetzes: Mittelschule)
beträgt die gesetzliche Mindestschülerzahl pro Klassenstufe für die ersten zwei einzurichtenden
Klassen jeweils 20; diese Schulform ist mindestens zweizügig zu führen (vgl. § 4a Abs. 1 Nr. 2,
Abs. 3 SchulG).
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2. Die Antragstellerin ist eine kreisangehörige Gemeinde im Freistaat Sachsen und Trägerin
einer Grund- und einer Oberschule (Haupt- und Realschulbildungsgang) sowie eines
Gymnasiums. In den letzten Jahren wurde die Oberschule bereits schrittweise aufgelöst, so dass
im laufenden Schuljahr regulär nur noch eine 10. Klasse mit 16 Schülern und eine 9. Klasse mit
20 Schülern unterrichtet werden. Zudem werden zwölf Schüler in einer „selbstorganisierten“ 6.
Klasse durch private beziehungsweise pensionierte Lehrkräfte beschult. Derzeit sind elf Kinder
für eine 5. Klasse im Schuljahr 2014/15 angemeldet.
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3. Der für die Antragstellerin maßgebliche Schulnetzplan sieht seit 2006 die Schließung der
Oberschule vor. Den insoweit unverändert fortgeschriebenen Schulnetzplan hat das Sächsische
Ministerium für Kultus mit Bescheid vom 20. Dezember 2010 genehmigt. Den
Genehmigungsbescheid hat die Antragstellerin vor dem Verwaltungsgericht Dresden
angefochten.
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4. Das Verwaltungsgericht hat das Verfahren ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht mit
Beschluss vom 28. Februar 2013 die Frage vorgelegt, ob § 23a Abs. 1 und Abs. 3 Satz 1 SchulG
mit Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG vereinbar sind. Nach Auffassung des Verwaltungsgerichts ist § 23a
Abs. 1 SchulG mit Art. 28 Abs. 2 GG nicht vereinbar, weil die kreisangehörigen Gemeinden für
die Grundschulen keine Schulnetzpläne aufstellen könnten. § 23 Abs. 3 Satz 1 SchulG sei
darüber hinaus verfassungswidrig, weil den kreisangehörigen Gemeinden mit dem
Benehmenserfordernis bei der Aufstellung der Schulnetzpläne für Grund- und Mittelschulen
keine ausreichenden Mitwirkungsbefugnisse eingeräumt seien.
II.
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Die Antragstellerin beantragt den Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Inhalt, § 23a
Abs. 1 und Abs. 3 SchulG bis zur Entscheidung der Hauptsache (2 BvL 2/13) für unanwendbar
zu erklären, soweit die kreisangehörigen Gemeinden keine Schulnetzpläne aufstellen können
beziehungsweise mit ihnen bei der Schulnetzplanung kein Einvernehmen herzustellen ist.
Hilfsweise beantragt sie die Erlaubnis, die Oberschule vorläufig weiterzuführen, äußerst
hilfsweise, Schüler der 5. Klasse im neuen Schuljahr aufzunehmen und die 5. Klasse einzügig
zu betreiben, ohne dass das Land seine Mitwirkung insoweit widerrufen dürfe. Zur Begründung
des Antrags trägt die Antragstellerin im Wesentlichen vor:
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1. Der Antrag sei zulässig. § 32 BVerfGG gelte als allgemeine Verfahrensvorschrift auch im
Verfahren der konkreten Normenkontrolle.
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2. Werde die einstweilige Anordnung nicht erlassen, drohten unabwendbare Nachteile. Am 14.
März 2014 ende die Anmeldefrist für das Schuljahr 2014/15. Durch den wegen der Vorlage des
Verwaltungsgerichts eingetretenen Schwebezustand hinsichtlich des Fortbestands der Schule
zögerten viele Eltern mit der Anmeldung ihrer Kinder oder meldeten sie an anderen Schulen an.
Da die jetzige 10. Klasse die Schule mit Ablauf des Schuljahres verlasse und für das nächste
Schuljahr regulär nur die 9. Klasse an der Schule bleibe, sei die Schule akut von der Schließung
bedroht. Nach der Rechtsprechung des zuständigen Oberverwaltungsgerichts komme es für den
Fortbestand einer Schule auf das öffentliche Bedürfnis an, das sich nach der Schülerzahl richte.
Eine anderweitige Rechtsschutzmöglichkeit bestehe nicht, insbesondere habe das
Verwaltungsgericht einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz, gerichtet auf die Gestattung
der Einrichtung einer 5. Klasse mit elf Schülern unter Mitwirkung des Freistaats Sachsen,
abgelehnt.
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3. Der Antrag sei auch begründet. Die Schulträgerschaft an den Oberschulen falle in den
Kernbereich der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie. Es genüge daher nicht, dass bei
Aufstellung der Schulnetzpläne mit den Gemeinden nur ein Benehmen, nicht ein Einvernehmen
als volle Willensübereinstimmung herzustellen sei. Jeder zehnte sächsische Schüler verlasse
die Schule ohne Abschluss. Diese Abbrecherquote belaste die örtliche Gemeinschaft. Durch
kurze Schulwege könnte sie verringert werden, da bildungsferne Schichten dadurch vom
Schuleschwänzen abgehalten werden könnten. Erginge die einstweilige Anordnung nicht,
entstünde die nicht mehr korrigierbare Verfestigung eines Zustands, der zur endgültigen
Schließung der Schule führen könne.
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Gäbe es eine klare Perspektive für die Fortführung der Oberschule, würden viele Schüler von
anderen Schulen zurückkehren; pro Jahrgang könnte voraussichtlich eine Klasse gefüllt werden.
Die dem Schulnetzplan zugrunde liegenden Prognosen träfen nicht zu. So hätten sich 2010/11
tatsächlich 22 statt der prognostizierten 20, 2011/12 34 statt 20 und 2012/13 sogar 42 statt 19
Schüler angemeldet. Da der Übertritt auf das Gymnasium verschärft worden sei, sei künftig mit
noch steigenden Anmeldezahlen zu rechnen. Wegen dieser Prognoseunsicherheiten habe die
Regierungskoalition im Landtag 2010 das sogenannte Schulschließungsmoratorium
beschlossen. Demnach sollten Widerrufe einer Mitwirkung des Freistaats an der Unterhaltung
von Schulen vorübergehend ausgesetzt werden, allerdings nicht bei Schulen, deren Schließung
in einem Schulnetzplan bereits vorgesehen gewesen sei. Aufgrund des Moratoriums werde bei
anderen Schulen, die ebenfalls die Mindestschülerzahl verfehlten, die Mitwirkung nicht
entzogen.
III.
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Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist unzulässig (1.). Eine Umdeutung in
einen zulässigen Antrag ist nicht möglich (2.). Für den Erlass einer einstweiligen Anordnung von
Amts wegen besteht keine Veranlassung (3.).
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1. Der in dem Verfahren 2 BvL 2/13 gestellte Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist
mangels Antragsbefugnis unzulässig. Im Verfahren der konkreten Normenkontrolle können nur
die gemäß § 82 Abs. 2 BVerfGG beitrittsberechtigten Verfassungsorgane Anträge stellen. Die
Beteiligten des Ausgangsverfahrens sind an dem Normenkontrollverfahren nicht beteiligt,
sondern nach § 82 Abs. 3 BVerfGG lediglich äußerungsbefugt (vgl. BVerfGE 11, 339 <342>; 41,
243 <245>).
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2. Eine Umdeutung in einen zulässigen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
scheidet aus. Ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist nur zulässig, wenn in der
Hauptsache der Rechtsweg zum Bundesverfassungsgericht gegeben wäre (vgl. BVerfGE 3, 267
<277>; 42, 103 <110, 119>). Das ist nicht der Fall. Die insoweit allein in Betracht kommende
Kommunalverfassungsbeschwerde ist nicht statthaft.
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Nach § 91 Satz 1 BVerfGG können Gemeinden Verfassungsbeschwerde mit der Behauptung
erheben, dass ein Gesetz des Bundes oder des Landes Art. 28 GG verletzt. Die
Kommunalverfassungsbeschwerde ist jedoch ausgeschlossen, soweit eine Verletzung des
Rechts auf Selbstverwaltung beim Landesverfassungsgericht geltend gemacht werden kann,
§ 91 Satz 2 BVerfGG. Diese Möglichkeit sieht das sächsische Recht hinsichtlich formeller
Landesgesetze vor (vgl. Art. 81 Abs. 1 Nr. 5 Sächsische Verfassung i.V.m. § 7 Nr. 8, § 36
SächsVerfGHG). Eine Kommunalverfassungsbeschwerde gegen § 23a Abs. 1 oder Abs. 3 Satz
1 SchulG zum Bundesverfassungsgericht wäre daher nicht statthaft.
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3. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung von Amts wegen ist nicht angezeigt, weil der
Antragstellerin andere Abhilfemöglichkeiten zur Verfügung gestanden haben oder stehen.
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Der Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde gilt auch für den vorgelagerten
verfassungsrechtlichen Eilrechtsschutz (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten
Senats vom 9. Dezember 2009 - 2 BvQ 84/09 -, juris; stRspr). Aus dem Vorbringen der
Antragstellerin ergibt sich nicht, dass sie den Rechtsweg in der gebotenen Weise erschöpft hat.
Zum einen trägt sie vor, das Verwaltungsgericht Dresden habe mit Beschluss vom 21. August
2013 - 5 L 312/13 - vorläufigen Rechtsschutz hinsichtlich des Widerrufs der Mitwirkung des
Freistaats Sachsen an der fünften Jahrgangsstufe abgelehnt, ohne darauf einzugehen, dass
damit allenfalls über einen Teil des mit der einstweiligen Anordnung verfolgten
Rechtsschutzziels verwaltungsgerichtlich entschieden worden ist, und ohne sich dazu zu
verhalten, ob und gegebenenfalls mit welchem Ergebnis sie Beschwerde zum
Oberverwaltungsgericht erhoben oder aus welchen Gründen sie davon abgesehen hat. Zum
anderen legt der Vortrag der Antragstellerin nahe, dass sie sich mit der Auffassung des
Verwaltungsgerichts zufrieden gegeben hat, bis zur Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts über die Frage der Verfassungswidrigkeit der gemäß Art. 100 Abs. 1
GG vorgelegten Norm sei auch im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes von deren
Gültigkeit auszugehen. Diese Auffassung trifft indes nicht zu. Die Antragstellerin hätte daher
versuchen müssen, entweder im Wege der Beschwerde zum Oberverwaltungsgericht oder,
soweit dies verwaltungsprozessrechtlich möglich ist, durch erneute Antragstellung zum
Verwaltungsgericht eine ihr günstige Entscheidung herbeizuführen.
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Art. 100 Abs. 1 GG steht der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes durch die Fachgerichte
nicht entgegen. Das Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts hat zwar zur Folge,
dass ein Gericht Folgerungen aus der (von ihm angenommenen) Verfassungswidrigkeit eines
formellen Gesetzes - jedenfalls im Hauptsacheverfahren - erst nach deren Feststellung durch
das Bundesverfassungsgericht ziehen darf (vgl. BVerfGE 79, 256 <266>; 86, 382 <389>). Die
Fachgerichte sind jedoch durch Art. 100 Abs. 1 GG nicht gehindert, schon vor Erlass der
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auf der Grundlage ihrer Rechtsauffassung
vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren, wenn dies nach den Umständen des Falles im Interesse
eines effektiven Rechtsschutzes geboten erscheint und die Entscheidung in der Hauptsache
dadurch nicht vorweggenommen wird (vgl. BVerfGE 86, 382 <389>).
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Voßkuhle
Gerhardt
Huber