Urteil des BVerfG vom 28.07.2014

BVerfG: meinungsfreiheit, verfassungsbeschwerde, bahn, kritik, grundrecht, beleidigung, zivilprozess, gefahr, überprüfung, ehre

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 482/13 -
Bundesadler
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn P…
- Bevollmächtigter:
Rechtsanwalt Dr. Dr. Ralf Hohmann,
Fürstenbergallee 8, 76532 Baden-Baden -
gegen
a)
den Beschluss des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 7. Januar
2013 - III 2 RVs 186/12 -,
b)
das Urteil des Landgerichts Duisburg vom 22. August 2012 - 38 Ns
115 Js 251/09 - 172/11 -
hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Vizepräsidenten Kirchhof,
den Richter Masing
und die Richterin Baer
am 28. Juli 2014 einstimmig beschlossen:
1. Das Urteil des Landgerichts Duisburg vom 22. August 2012 - 38 Ns 115 Js 251/09 -
172/11 - und der Beschluss des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 7. Januar 2013 -
III 2 RVs 186/12 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 5
Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes.
2. Die Entscheidungen werden aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an
das Landgericht Duisburg zurückverwiesen.
3. Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer die ihm im
Verfassungsbeschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten.
4. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit im
Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 25.000 € (in Worten: Fünfundzwanzigtausend
Euro) festgesetzt.
Gründe:
I.
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Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen eine strafgerichtliche Verurteilung wegen
Beleidigung gemäß § 185 StGB.
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1. Der Beschwerdeführer führte vor dem Amtsgericht einen Schadensersatzprozess gegen
seinen ehemaligen Prozessbevollmächtigten, da dieser eine Berufung in einem weiteren
Verfahren beim falschen Gericht eingelegt haben soll. Das Amtsgericht wies diese
Schadensersatzklage ab. Nachdem die Berufung des Beschwerdeführers zurückgewiesen
worden war, erhob der Beschwerdeführer Dienstaufsichtsbeschwerde gegen die zuständige
Richterin des Amtsgerichts. Das diesbezügliche Schreiben an den Präsidenten des
Landgerichts, das der Beschwerdeführer auch an die betroffene Richterin, den Justizminister und
die Gegenseite übersandte, enthielt folgende Äußerungen:
Infolge der Hauptverhandlung am 27.10.2008 wurde von der Richterin … ein skandalöses
Fehlurteil gefällt. Wenn schon bekannt, dass in Deutschland der Richter beliebig urteilen kann
(…)
Bis hierhin kann man das Urteil als absichtlich oder unabsichtlich schlampig und arglistig
ansehen.
Den Kern der richterlichen Tätigkeit verlassend protestiere ich folgend gegen das schäbige,
rechtswidrige und eines Richters unwürdige Verhalten der Richterin … und meine, sie müsse
effizient bestraft werden um zu verhindern, dass diese Richterin nicht auf eine schiefe Bahn
gerät. (…)
Perplex hatte ich an diesem Punkt verstanden, dass der Aufklärungstermin lediglich eine Farce
und Finte sein konnte.
Sie begab sich an ihren Platz und fabulierte durcheinander (…)
Ihre Idee, die Berufung sei wegen mangelnder Aussicht auf Erfolg zurückgenommen worden,
findet sich erstaunlicherweise wieder in dem entstellten Sachverhalt, wo die Richterin …
behauptet: „der Kläger begehre Schadensersatz wegen anwaltlicher Fehlberatung“, „er habe ihn
beauftragt, die Erfolgsaussichten eines Rechtsmittels zu prüfen“. Solche Erfindung in ein Urteil
einzubauen, ist illegal. Ich hatte Auftrag erteilt, in jedem Fall Berufung (…) einzulegen.
Die Richterin … hat nicht einmal auf die „Differenz zwischen dem Klageantrag und der
Klagebegründung“, wie im Urteil behauptet, hingewiesen; durch einen solchen Hinweis wäre ich
vermutlich alarmiert worden (…). „Gleichwohl vermochte der Kläger diesen Widerspruch nicht
aufzuklären“ ist nicht nur gelogen, sondern im Hinblick darauf, dass diese perfide Lüge benutzt
wird, mich den Prozess verlieren zu lassen, niederträchtig und gegen das Recht. (…)
3
2. Das Amtsgericht verurteilte den Beschwerdeführer aufgrund dieser Äußerungen wegen
Beleidigung gemäß § 185 StGB zu einer Geldstrafe von 80 Tagesssätzen zu je 20 €. Den auf die
Berufung des Beschwerdeführers erfolgten Freispruch hob das Oberlandesgericht auf.
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3. Mit angegriffenem Urteil verwarf das Landgericht daraufhin die Berufung des
Beschwerdeführers als unbegründet. Der Beschwerdeführer habe sich wegen Beleidigung
strafbar gemacht. Sein Handeln sei auch dann nicht gemäß § 193 StGB gerechtfertigt, wenn man
davon ausgehe, dass seine Äußerungen als Werturteil beziehungsweise als Meinungskundgabe
anzusehen seien und die Meinungsfreiheit grundsätzlich dem Persönlichkeitsschutz vorgehe.
Bei den Äußerungen des Beschwerdeführers handele es sich um Schmähkritik. Dies habe zur
Folge, dass seine Meinungsfreiheit zurücktreten müsse. Dem Beschwerdeführer sei es im Kern
nicht um eine sachliche Auseinandersetzung mit der Art und Weise gegangen, wie der
Zivilprozess geführt worden sei, sondern um eine Diffamierung der Person der Richterin. Selbst
wenn keine Schmähkritik vorliege, müsse bei einer Abwägung seine Meinungsfreiheit
gegenüber der Ehre der Richterin zurücktreten. Der Zivilprozess sei zum Zeitpunkt des
Schreibens endgültig abgeschlossen gewesen. Zudem könne seine sinngemäße Äußerung, die
Richterin drohe auf eine schiefe Bahn zu geraten, nur in dem Sinne ausgelegt werden, dass die
Gefahr der Begehung künftiger Straftaten durch die Richterin bestehe. Dies sei völlig aus der Luft
gegriffen und ein durch nichts gerechtfertigter Wertungsexzess. Zusätzlich habe der
Beschwerdeführer durch die Übersendung des Schreibens an die Gegenseite den Kreis der
Adressaten und Empfänger unnötig ausgedehnt.
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4. Das Oberlandesgericht verwarf die Revision des Beschwerdeführers mit Beschluss vom
7. Januar 2013 als unbegründet.
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5. Mit seiner Verfassungsbeschwerde vom 11. Februar 2013 rügt der Beschwerdeführer eine
Verletzung seines Grundrechts auf freie Meinungsäußerung aus Art. 5 Abs. 1 GG.
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6. Dem Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen wurde Gelegenheit zur
Stellungnahme gegeben. Von einer Stellungnahme wurde abgesehen. Die Akten des
Ausgangsverfahrens lagen dem Bundesverfassungsgericht vor.
II.
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Die Verfassungsbeschwerde wird gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung
angenommen. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor
(§ 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG).
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Das Bundesverfassungsgericht hat die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits
entschieden (vgl. BVerfGE 61, 1 <7 ff.>; 90, 241 <246 ff.>; 93, 266 <292 ff.>). Dies gilt namentlich
für den Einfluss des Grundrechts auf Meinungsfreiheit bei Auslegung und Anwendung der
grundrechtsbeschränkenden Vorschriften der §§ 185 ff. StGB (vgl. BVerfGE 82, 43 <50 ff.>; 85,
23 <30 ff.>; 93, 266 <292 ff.>).
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Die Verfassungsbeschwerde ist danach zulässig und im Sinne des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG
offensichtlich begründet. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer in
seinem Grundrecht auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.
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Das Urteil des Landgerichts, dem sich das Oberlandesgericht anschließt, nimmt in
verfassungsrechtlich nicht mehr tragbarer Art und Weise an, dass es sich bei den für strafbar
erachteten Äußerungen um Schmähkritik handele. Hierbei verkennt das Landgericht die
verfassungsrechtlichen Maßstäbe zur Einordnung einer Äußerung als Schmähkritik. Wegen
seines die Meinungsfreiheit verdrängenden Effekts hat das Bundesverfassungsgericht den in der
Fachgerichtsbarkeit entwickelten Begriff der Schmähkritik eng definiert. Danach macht auch eine
überzogene oder ausfällige Kritik eine Äußerung für sich genommen noch nicht zur Schmähung.
Hinzutreten muss vielmehr, dass bei der Äußerung nicht mehr die Auseinandersetzung in der
Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht. Sie muss jenseits auch
polemischer und überspitzter Kritik in der persönlichen Herabsetzung bestehen. Wesentliches
Merkmal der Schmähung ist mithin eine das sachliche Anliegen völlig in den Hintergrund
drängende persönliche Kränkung. Nur dann kann im Sinne einer Regelvermutung
ausnahmsweise auf eine Abwägung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls
verzichtet werden. Aus diesem Grund wird Schmähkritik bei Äußerungen in einer die
Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage nur ausnahmsweise vorliegen und im Übrigen eher
auf die sogenannte Privatfehde beschränkt bleiben (vgl. BVerfGE 82, 272 <283 f.>; 93, 266 <294,
303>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 12. Mai 2009 - 1 BvR 2272/04 -,
NJW 2009, S. 3016 <3018>). Dem genügt die Entscheidung des Landgerichts nicht. Auch
bezüglich der Äußerung, es müsse verhindert werden, dass die Richterin auf eine schiefe Bahn
gerate, steht die Auseinandersetzung in der Sache im Vordergrund. Der Beschwerdeführer
bezieht sich auf das von ihm in der Dienstaufsichtsbeschwerde kritisierte Verhalten und
bezweckt eine Überprüfung dieses Verhaltens durch eine übergeordnete Stelle. Es handelt sich
zwar um polemische und überspitzte Kritik; diese hat aber eine sachliche Auseinandersetzung
zur Grundlage. Bezüglich der weiteren Äußerungen begründet das Landgericht seine
Einordnung als Schmähkritik überhaupt nicht.
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Soweit das Landgericht hilfsweise dennoch eine Abwägung vornimmt, verstößt es hierbei
zunächst insofern gegen die Meinungsfreiheit, die Äußerung des Beschwerdeführers, „es müsse
verhindert werden, dass die Richterin auf eine schiefe Bahn gerate“, dahingehend auszulegen,
dass hiermit der betroffenen Richterin die künftige Begehung von Straftaten unterstellt werde.
Voraussetzung jeder rechtlichen Würdigung von Äußerungen ist, dass ihr Sinn zutreffend erfasst
worden ist (vgl. BVerfGE 93, 266 <295>). Ein Verstoß gegen das Grundrecht der
Meinungsfreiheit liegt vor, wenn ein Gericht bei mehrdeutigen Äußerungen die zur Verurteilung
führende Bedeutung zugrunde legt, ohne vorher die anderen möglichen Deutungen mit
schlüssigen Gründen ausgeschlossen zu haben (vgl. BVerfGE 82, 43 <52>; 93, 266 <295 f.>).
Die Beachtung dieser Anforderungen unterliegt der Nachprüfung durch das
Bundesverfassungsgericht (vgl. BVerfGE 93, 266 <296>). Warum die Äußerung des
Beschwerdeführers hier vernünftigerweise nur so gemeint sein könne, dass die Richterin sonst
Straftaten begehen würde, ist aus der Entscheidung des Landgerichts nicht erkennbar. Mit
weiteren möglichen Deutungen hat es sich nicht auseinandergesetzt.
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Auch im Übrigen genügt die Abwägung nicht den verfassungsrechtlichen Maßstäben (vgl. hierzu
BVerfGE 7, 198 <212>; 93, 266 <293>; stRspr). Das Landgericht stellt einseitig auf den
Ehrschutz ab, ohne die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers ausreichend zu würdigen.
Insbesondere wird nicht hinreichend gewürdigt, dass der Beschwerdeführer das Schreiben zwar
auch an die Gegenseite gesandt hat, den Adressatenkreis des Schreibens aber überschaubar
hielt und sich neben dem Dienstvorgesetzten der Amtsrichterin auf den beklagten Anwalt und
den Justizminister beschränkte. Zudem ist bei der Abwägung zu berücksichtigen, dass sich der
Beschwerdeführer im „Kampf ums Recht“ befand und ihm hierbei zur plastischen Darstellung
seiner Position grundsätzlich erlaubt ist, auch starke und eindringliche Ausdrücke zu benutzen,
um seine Rechtsposition zu unterstreichen, ohne jedes Wort auf die Waagschale legen zu
müssen (vgl. BVerfGE 76, 171 <192>; BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Ersten Senats
vom 10. Juli 1996 - 1 BvR 873/94 -, NStZ 1997, S. 35, der 1. Kammer des Ersten Senats vom
16. März 1999 - 1 BvR 734/98 -, NJW 2000, S. 199 <200> und der 1. Kammer des Ersten Senats
vom 29. Februar 2012 - 1 BvR 2883/11 -, NJW-RR 2012, S. 1002).
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Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf den aufgezeigten verfassungsrechtlichen
Fehlern. Es ist nicht auszuschließen, dass das Landgericht bei erneuter Befassung zu einer
anderen Entscheidung in der Sache kommen wird.
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Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers folgt
aus § 34a Abs. 2 BVerfGG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2
Satz 2 Halbsatz 1 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).
Kirchhof
Masing
Baer