Urteil des BVerfG vom 26.03.2014

BVerfG: pflege, verfassungsbeschwerde, sittliche pflicht, allgemeine versicherungsbedingungen, sachleistung, versorgung, familie, vergütung, staat, anerkennung

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 1133/12 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
1. der Frau K…,
2. der Frau K…
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwälte Wanke & Rothe,
Kleiner Schippsee 3, 21073 Hamburg -
1. unmittelbar gegen,
a) den Beschluss des Bundessozialgerichts vom 10. April 2012 - B 3 P 1/12
B -,
b) das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 14. November
2011 - L 2 P 60/11 -,
c) das Urteil des Sozialgerichts München vom 21. April 2011 - S 18 P
277/09 -,
2. mittelbar gegen
§§ 36, 37 SGB XI
hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Vizepräsidenten Kirchhof,
den Richter Masing
und die Richterin Baer
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11.
August 1993 (BGBl I S. 1473) am 26. März 2014 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe:
1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die unterschiedliche finanzielle Ausgestaltung der
Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung bei häuslicher Pflege durch
Familienangehörige oder durch bezahlte Pflegekräfte.
I.
2
1. Die Beschwerdeführerinnen pflegten zuhause ihren Ehemann und Vater, der von seiner
privaten Pflegeversicherung zuletzt von Dezember 2007 bis zu seinem Tod am 1. März 2008
Pflegegeld der Pflegestufe III bezog. Der private Pflegeversicherungsvertrag mit Tarifleistungen
von 100 % sah nach § 4 Abschnitt A Abs. 1 und 2 Allgemeine Versicherungsbedingungen für die
private Pflegepflichtversicherung - Bedingungsteil - MB/PPV vor, dass versicherte Personen bei
häuslicher Pflege Ersatz von Aufwendungen für Grundpflege und hauswirtschaftliche
Versorgung (häusliche Pflegehilfe) oder stattdessen ein Pflegegeld erhalten. Dies entspricht den
gesetzlichen Bestimmungen über die Pflegesachleistung gemäß § 36 Abs. 1 Satz 1
Sozialgesetzbuch Elftes Buch - Soziale Pflegeversicherung (SGB XI) und das Pflegegeld gemäß
§ 37 Abs. 1 Satz 1 SGB XI. Danach wird bei gleicher Pflegestufe das Pflegegeld in geringerer
Höhe als der Wert der entsprechenden Sachleistung gewährt. Die zum Betrieb der
Pflegeversicherung befugten privaten Krankenversicherungsunternehmen sind nach § 110 Abs.
1 SGB XI in Verbindung mit § 23 Abs. 1 SGB XI verpflichtet, mit den
pflegeversicherungspflichtigen Personen einen Versicherungsvertrag abzuschließen, der nach
§ 23 Abs. 1 Satz 2 SGB XI den Leistungen des Vierten Kapitels des SGB XI gleichwertige
Vertragsleistungen vorzusehen hat. § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XI ordnet eine der Höhe nach den
Sachleistungen gleiche Kostenerstattung bei privater Pflege an.
3
§ 23 SGB XI lautete in der bis zum 30. Juni 2008 geltenden Fassung:
4
(1)
1
Personen, die gegen das Risiko Krankheit bei einem privaten
Krankenversicherungsunternehmen mit Anspruch auf allgemeine Krankenhausleistungen
versichert sind, sind vorbehaltlich des Absatzes 2 verpflichtet, bei diesem Unternehmen zur
Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit einen Versicherungsvertrag abzuschließen und
aufrechtzuerhalten.
2
Der Vertrag muß ab dem Zeitpunkt des Eintritts der Versicherungspflicht für
sie selbst und ihre Angehörigen oder Lebenspartner, für die in der sozialen Pflegeversicherung
nach § 25 eine Familienversicherung bestünde, Vertragsleistungen vorsehen, die nach Art und
Umfang den Leistungen des Vierten Kapitels gleichwertig sind.
3
Dabei tritt an die Stelle der
Sachleistungen eine der Höhe nach gleiche Kostenerstattung.
5
(2) – (6) …
§ 36 SGB XI lautete in der bis zum 30. Juni 2008 geltenden Fassung:
6
(1)
1
Pflegebedürftige haben bei häuslicher Pflege Anspruch auf Grundpflege und
hauswirtschaftliche Versorgung als Sachleistung (häusliche Pflegehilfe).
2
Leistungen der
häuslichen Pflege sind auch zulässig, wenn Pflegebedürftige nicht in ihrem eigenen Haushalt
gepflegt werden; sie sind nicht zulässig, wenn Pflegebedürftige in einer stationären
Pflegeeinrichtung oder in einer Einrichtung im Sinne des § 71 Abs. 4 gepflegt werden.
3
Häusliche Pflegehilfe wird durch geeignete Pflegekräfte erbracht, die entweder von der
Pflegekasse oder bei ambulanten Pflegeeinrichtungen, mit denen die Pflegekasse einen
Versorgungsvertrag abgeschlossen hat, angestellt sind.
4
Auch durch Einzelpersonen, mit denen
die Pflegekasse einen Vertrag nach § 77 Abs. 1 abgeschlossen hat, kann häusliche Pflegehilfe
als Sachleistung erbracht werden.
(2) …
(3) Der Anspruch auf häusliche Pflegehilfe umfaßt je Kalendermonat:
1. für Pflegebedürftige der Pflegestufe I Pflegeeinsätze bis zu einem Gesamtwert von 384 Euro,
2. für Pflegebedürftige der Pflegestufe II Pflegeeinsätze bis zu einem Gesamtwert von 921 Euro,
3. für Pflegebedürftige der Pflegestufe III Pflegeeinsätze bis zu einem Gesamtwert von 1432
Euro.
(4) …
7
§ 37 SGB XI lautete in der bis zum 30. Juni 2008 geltenden Fassung:
8
(1)
1
Pflegebedürftige können anstelle der häuslichen Pflegehilfe ein Pflegegeld beantragen.
2
Der
Anspruch setzt voraus, daß der Pflegebedürftige mit dem Pflegegeld dessen Umfang
entsprechend die erforderliche Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung in geeigneter
Weise selbst sicherstellt.3Das Pflegegeld beträgt je Kalendermonat:
1. für Pflegebedürftige der Pflegestufe I 205 Euro,
2. für Pflegebedürftige der Pflegestufe II 410 Euro,
3. für Pflegebedürftige der Pflegestufe III 665 Euro.
(2) - (6) …
9
2. Im sozialgerichtlichen Verfahren begehrten die Beschwerdeführerinnen im Wege der
Rechtsnachfolge unter anderem den Differenzbetrag zwischen dem Pflegegeld und der höheren
Pflegesachleistung und machten die Verfassungswidrigkeit der unterschiedlichen Höhe beider
Leistungen geltend. Klage und Berufung blieben erfolglos. Die Beschwerde gegen die
Nichtzulassung der Revision wurde vom Bundessozialgericht als unzulässig verworfen. Die
Beschwerde lege die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache nicht in der
durch § 160 Abs. 2, § 160a Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) gebotenen Form dar, da sie keine
klärungsbedürftige Rechtsfrage aufzeige. Zudem hätten sich die Beschwerdeführerinnen nicht
im erforderlichen Maße mit der höchstrichterlichen sozialgerichtlichen Rechtsprechung sowie
der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auseinandergesetzt, sondern lediglich ihre
abweichende Rechtsauffassung dargelegt.
10
3. Mit ihrer unmittelbar gegen die fachgerichtlichen Entscheidungen und mittelbar gegen die
§§ 36, 37 SGB XI gerichteten Verfassungsbeschwerde rügen die Beschwerdeführerinnen einen
Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 sowie gegen Art. 14 Abs. 1 GG.
II.
11
Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen. Annahmegründe nach
§ 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor. Die Verfassungsbeschwerde hat keine Aussicht auf
Erfolg. Sie ist teilweise unzulässig und im Übrigen jedenfalls unbegründet. Die dafür
entscheidenden Maßstäbe sind in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch
bereits geklärt.
12
1. Soweit sich die Beschwerdeführerinnen gegen den Beschluss des Bundessozialgerichts
wenden, mit dem ihre Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision als unzulässig
verworfen wurde, ist die Verfassungsbeschwerde unzulässig, weil sie nicht substantiiert
begründet wurde (§ 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG). Da das Bundessozialgericht keine
Entscheidung in der Sache getroffen hat, gehen die materiellen Ausführungen der
Beschwerdeführerinnen ins Leere (vgl. BVerfGE 128, 90 <99>). Soweit sich die
Beschwerdeführerinnen den prozessualen Ausführungen des Bundessozialgerichts widmen,
behaupten sie keine Grundrechtsverletzung.
13
2. Soweit sich die Beschwerdeführerinnen gegen die Entscheidungen des Sozialgerichts und
des Landessozialgerichts wenden, ist ihre Verfassungsbeschwerde zulässig.
14
Der Zulässigkeit steht nicht entgegen, dass das Bundessozialgericht die
Nichtzulassungsbeschwerde als unzulässig verworfen hat. Zwar ist eine
Verfassungsbeschwerde mangels ordnungsgemäßer Rechtswegerschöpfung in der Regel
unzulässig, wenn ein an sich gegebenes Rechtsmittel mangels Nutzung der
verfahrensrechtlichen Möglichkeiten erfolglos bleibt (vgl. BVerfGE 74, 102 <114>; BVerfGK 1,
222 <223>). Da jedoch ein Beschwerdeführer wegen der Subsidiarität der
Verfassungsbeschwerde auch dann verpflichtet ist, von einem Rechtsbehelf Gebrauch zu
machen, wenn dessen Zulässigkeit im konkreten Fall unterschiedlich beurteilt werden kann,
können ihm keine Nachteile daraus erwachsen, wenn sich ein solcher Rechtsbehelf später als
unzulässig erweist. Anders liegen die Dinge nur bei einem offensichtlich unzulässigen oder nicht
ordnungsgemäß genutzten Rechtsbehelf (vgl. BVerfGE 128, 90 <100>).
15
Im vorliegenden Fall kann den Beschwerdeführerinnen nicht angelastet werden, den Rechtsweg
nicht in gehöriger Weise erschöpft zu haben. Sie haben in ihrer Nichtzulassungsbeschwerde die
Frage der Verfassungsmäßigkeit der unterschiedlichen Höhe von Pflegesachleistung und
Pflegegeld als Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung aufgeworfen. Dabei schied die
Möglichkeit, sich auf die grundsätzliche Bedeutung der Sache zu stützen, nicht offensichtlich
aus. Die Frage, ob eine der Entscheidung zugrundeliegende Gesetzesnorm verfassungswidrig
ist, hat regelmäßig grundsätzliche Bedeutung (vgl. BVerfGE 91, 93 <106>). Dass das
Bundessozialgericht wegen seiner eigenen Rechtsprechung dazu die Klärungsbedürftigkeit in
einem Revisionsverfahren verneint und deshalb die Beschwerde als unzulässig verworfen hat,
kann den Beschwerdeführerinnen im Rahmen der Zulässigkeitsvoraussetzungen der
Verfassungsbeschwerde nicht entgegengehalten werden. Selbst wenn in der Rechtsprechung
eines obersten Fachgerichts nach dessen Auffassung bereits alle wesentlichen Aspekte einer
Verfassungsfrage gewürdigt wurden, ist es einem Beschwerdeführer möglich und
verfassungsrechtlich auch bei Berücksichtigung des Grundsatzes der Subsidiarität der
Verfassungsbeschwerde zulässig, eine verfassungsgerichtliche Überprüfung dieser Würdigung
zu begehren, wenn er dafür vernünftige und gewichtige Gründe anführen kann und es sich um
eine verfassungsrechtliche Frage handelt, die umstritten geblieben ist und über die das
Bundesverfassungsgericht noch nicht entschieden hat (vgl. BVerfGE 91, 93 <106>; 128, 90
<100>).
16
Die Beschwerdeführerinnen haben sich in ihrer Nichtzulassungsbeschwerde eingehend mit
einer früheren Entscheidung des Bundessozialgerichts auseinandergesetzt, auf die sich das hier
angegriffene Urteil des Landessozialgerichts maßgeblich stützt. Die vorgebrachten
verfassungsrechtlichen Erwägungen waren dabei gewichtig genug, um aus der Sicht einer
verständigen Prozesspartei (vgl. BVerfGE 91, 93 <107>) die Möglichkeit zu eröffnen, dass das
Bundessozialgericht seine bisher vertretene Auffassung überprüfen werde. Zudem haben die
Beschwerdeführerinnen vorgetragen, dass die konkrete Rechtsfrage der unterschiedlichen Höhe
von Pflegesachleistung und Pflegegeld bislang höchstrichterlich nicht entschieden ist und auch
die genannten Erwägungen in der in Bezug genommenen Entscheidung des
Bundessozialgerichts diese Differenzierung nicht rechtfertigen.
17
3. Die §§ 36, 37 SGB XI verstoßen aufgrund der unterschiedlichen Höhe von Pflegesachleistung
einerseits und Pflegegeld anderseits nicht gegen Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1
GG.
18
a) Art. 3 Abs. 1 GG gebietet es, Gleiches gleich, Ungleiches seiner Eigenart entsprechend
verschieden zu regeln (vgl. BVerfGE 71, 255 <271>; stRspr). Es ist grundsätzlich Sache des
Gesetzgebers zu entscheiden, welche Merkmale er beim Vergleich von Lebenssachverhalten
als maßgebend für eine Gleich- oder Ungleichbehandlung ansieht (vgl. BVerfGE 87, 1 <36>;
stRspr). Art. 3 Abs. 1 GG verbietet grundsätzlich auch einen gleichheitswidrigen
Begünstigungsausschluss. Dabei ist dem Gesetzgeber nicht jede Differenzierung verwehrt.
Differenzierungen bedürfen jedoch stets der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem
Differenzierungsziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind (vgl. BVerfGE
126, 400 <416>; 129, 49 <69>). Hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Anforderungen an den
die Ungleichbehandlung tragenden Sachgrund ergeben sich aus dem allgemeinen
Gleichheitssatz je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche
Grenzen für den Gesetzgeber, die von gelockerten, auf das Willkürverbot beschränkten
Bindungen bis hin zu strengen Verhältnismäßigkeitserfordernissen reichen können (vgl.
BVerfGE 122, 1 <23>; 126, 400 <416>; 129, 49 <68>). Bei lediglich verhaltensbezogenen
Unterscheidungen hängt das Maß der Bindung davon ab, inwieweit die Betroffenen in der Lage
sind, durch ihr Verhalten die Verwirklichung der Merkmale zu beeinflussen, nach denen
unterschieden wird (vgl. BVerfGE 88, 87 <96>). Überdies sind dem Gestaltungsspielraum des
Gesetzgebers umso engere Grenzen gesetzt, je stärker sich die Ungleichbehandlung auf die
Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten nachteilig auswirken kann (vgl. BVerfGE 82,
126 <146>).
19
b) Ausgehend hiervon stellt die unterschiedliche finanzielle Ausgestaltung der Leistungen bei
häuslicher Pflege keine den allgemeinen Gleichheitssatz missachtende Ungleichbehandlung
dar. Als Vergleichsgruppen sind die Pflegebedürftigen zu betrachten, die sich für die Pflege im
häuslichen Bereich bei gleicher Pflegestufe entweder für die Pflegesachleistung durch externe
Pflegekräfte (§ 36 Abs. 1 SGB XI) oder für das demgegenüber reduzierte Pflegegeld für selbst
beschaffte Pflegehilfen (§ 37 Abs. 1 SGB XI) entscheiden. Diese Entscheidung beruht einerseits
auf dem freien Willensentschluss der Pflegebedürftigen, berührt aber auch deren in Art. 6 Abs. 1
GG geschütztes Recht, die eigenen familiären Verhältnisse selbst zu gestalten. Die
Ungleichbehandlung in der Höhe der gewährten Leistungen muss daher durch hinreichende
Sachgründe zu rechtfertigen sein. Diese liegen hier vor.
20
aa) Sich für ein System zu entscheiden, das den Pflegebedürftigen die Wahl lässt zwischen der
Pflege in häuslicher Umgebung durch externe Pflegehilfen oder durch selbst ausgewählte
Pflegepersonen, liegt in der sozialpolitischen Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers. Die
zugrundeliegenden Erwägungen sind weder offensichtlich fehlsam noch mit dem Grundgesetz
unvereinbar. Der Gesetzgeber verfolgt das Ziel, bei Sicherstellung einer sachgerechten Pflege
die Möglichkeit der häuslichen Pflege zu fördern und ihr Vorrang vor stationärer Unterbringung
zu geben (vgl. BTDrucks 12/5262, S. 111 zu § 32). Dafür stellt er zwei unterschiedliche
Leistungsmodelle zur Verfügung: Die häusliche Pflegehilfe nach § 36 SGB XI ist eine
Sachleistung, bei der die Pflegebedürftigen die Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung
durch personelle Hilfe Dritter erhalten. Die Pflegekräfte müssen bei der Pflegekasse selbst oder
bei einer zugelassenen ambulanten Pflegeeinrichtung angestellt sein oder als Einzelpersonen
mit der Pflegekasse einen Vertrag nach § 77 Abs. 1 SGB XI geschlossen haben. In jedem Fall
stehen sie mittelbar oder unmittelbar in einem Vertragsverhältnis zur Pflegekasse. Im Falle des
Pflegegeldes hingegen erhalten die Pflegebedürftigen gemäß § 37 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB XI
eine laufende Geldleistung, für die sie die erforderliche Grundpflege und hauswirtschaftliche
Versorgung in geeigneter Weise selbst sicherstellen müssen. Die Pflegepersonen sind dann je
nach Wahl Angehörige des Pflegebedürftigen, ehrenamtliche Pflegepersonen oder mit dem
Pflegegeld „eingekaufte“ professionelle Pflegekräfte, die aber in keinem Vertragsverhältnis zur
Pflegekasse stehen (vgl. BTDrucks 12/5262, S. 112 zu § 33).
21
bb) Gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 SGB XI ist ein Vertrag zwischen der Pflegekasse mit
Verwandten, Verschwägerten und Haushaltshilfen ausgeschlossen. Das Pflegegeld ist daher
einfachgesetzlich nicht als Entgelt ausgestaltet. Es soll vielmehr im Sinne einer materiellen
Anerkennung einen Anreiz darstellen und zugleich die Eigenverantwortlichkeit und
Selbstbestimmung der Pflegebedürftigen stärken, indem diese das Pflegegeld zur freien
Gestaltung ihrer Pflege einsetzen können (vgl. BTDrucks 12/5262, S. 112 zu § 33). Während
also der Zweck der sachgerechten Pflege im Fall der Pflegesachleistung nur bei ausreichender
Vergütung der Pflegekräfte durch die Pflegekasse sichergestellt ist, liegt der Konzeption des
Pflegegeldes der Gedanke zugrunde, dass familiäre, nachbarschaftliche oder ehrenamtliche
Pflege unentgeltlich erbracht wird. Der Gesetzgeber darf davon ausgehen, dass die
Entscheidung zur familiären Pflege nicht abhängig ist von der Höhe der Vergütung, die eine
professionelle Pflegekraft für diese Leistung erhält. Insoweit verweist die hier angegriffene
Entscheidung des Landessozialgerichts zu Recht auf die Ausführungen des
Bundessozialgerichts vom 18. März 1999 (B 3 P 8/98 R - SozR 3-3300 § 77 Nr. 1) über die
gegenseitige Beistandspflicht von Ehegatten untereinander sowie zwischen Eltern und Kindern.
Diese auch die Pflege umfassende Pflicht ist nicht nur eine sittliche Pflicht, sondern durch
§§ 1353, 1618a BGB auch als rechtliche Pflicht ausgestaltet. Dies rechtfertigt es, das dies nur
unterstützende Pflegegeld in vergleichsweise niedrigerer Höhe zu gewähren.
22
Die finanziellen Leistungen der Pflegeversicherung im häuslichen Bereich dienen ausweislich
des § 4 Abs. 2 Satz 1 SGB XI dazu, die familiäre, nachbarschaftliche oder ehrenamtliche Pflege
und Betreuung zu ergänzen. Im Fall der Sachleistung durch Dritte kann eine sachgerechte
Pflege aber nur bei ordnungsgemäßer Vergütung der Pflegekräfte sichergestellt werden. Im Fall
des Pflegegeldes muss dagegen nicht eine sonst fehlende Pflege durch bezahlte, professionelle
Kräfte erst eingekauft werden.
23
cc) Der Gesetzgeber hat mit der unterschiedlichen finanziellen Ausgestaltung entgegen dem
Vortrag der Beschwerdeführerinnen weder einen Anreiz für Familienangehörige geschaffen, sich
der familiären Pflege zu entledigen, noch bestraft er willkürlich den Wunsch Angehöriger zur
familiären Pflege. Zwar ist der Anreiz zur Pflegebereitschaft umso größer, je mehr der Staat an
finanzieller Unterstützung bereitstellt. Daraus erwächst aber kein Anspruch auf finanzielle
Förderung oder auf Anhebung des Pflegegeldes auf den Wert der Sachleistung. Der
Gesetzgeber darf die Förderung des familiären Zusammenhalts vielmehr auch dadurch
verwirklichen, dass er den Pflegebedürftigen die Wahl zwischen den verschiedenen Formen der
Pflege lässt, und wegen der besonderen Pflichtenbindung von Familienangehörigen das
Pflegegeld lediglich als materielle Anerkennung vorsieht.
24
c) Aus Art. 6 Abs. 1 GG allein ergibt sich nichts anderes. Als Freiheitsrecht verpflichtet Art. 6 Abs.
1 GG den Staat, Eingriffe in die Familie zu unterlassen. Darüber hinaus enthält die Bestimmung
eine wertentscheidende Grundsatznorm, die für den Staat die Pflicht begründet, Ehe und Familie
zu schützen und zu fördern (vgl. BVerfGE 87, 1 <35>; 103, 242 <257 f.>; stRspr). Dies umschließt
auch die Aufgabe, den wirtschaftlichen Zusammenhalt der Familie zu fördern, besonders im
Bereich der Sozialversicherung (vgl. BVerfGE 75, 382 <392> m.w.N.). Anders als die
Beschwerdeführerinnen meinen, geht die Förderungspflicht des Staates aber nicht so weit, dass
es dem Gesetzgeber verwehrt wäre, für die nichtfamiliäre professionelle Pflege höhere
Sachleistungen bereitzustellen. Ein derartiges Begünstigungsverbot ergibt sich schon deshalb
nicht aus Art. 6 Abs. 1 GG, weil das niedrigere Pflegegeld nicht nur die Pflege durch
Familienangehörige betrifft. Vielmehr kann die Pflege auch durch nichtfamiliäre ehrenamtliche
oder erwerbsmäßige Pflegekräfte erbracht werden. Aber auch insoweit die Pflege in erster Linie
durch Angehörige erfolgt, lassen sich aus der über die allgemeine Schutzpflicht hinausgehenden
Förderungspflicht der Familie keine konkreten Ansprüche auf bestimmte staatliche Leistungen
herleiten (vgl. BVerfGE 130, 240 <252>).
25
4. Die angegriffenen Regelungen verstoßen nicht gegen Art. 14 Abs. 1 GG. Sozialrechtliche
Ansprüche genießen nur dann grundrechtlichen Eigentumsschutz, wenn es sich um
vermögenswerte Rechtspositionen handelt, die dem Rechtsträger nach Art eines
Ausschließlichkeitsrechts privatnützig zugeordnet sind, auf nicht unerheblichen Eigenleistungen
beruhen und seiner Existenzsicherung dienen (vgl. BVerfGE 69, 272 <300>; 92, 365 <405>; 97,
217 <284>; 100, 1 <32 f.>; 128, 90 <101>). Vorliegend ist schon nicht ersichtlich, in welche
vermögenswerte Position durch die unterschiedliche Höhe der Leistungen bei gleichen
Beitragszahlungen eingegriffen wird. Denn Art und Ausmaß der Leistungen, die die
Pflegeversicherung gewährt, hängen allein davon ab, dass der Pflegebedürftige in der
Pflegeversicherung versichert oder mitversichert ist, und nicht davon, in welchem Umfang er
Beiträge entrichtet hat (vgl. BVerfGE 103, 242 <260>). Dass das Pflegegeld im Betrag geringer
ist als die Pflegesachleistung, steht in keinem Zusammenhang mit den eingezahlten Beiträgen.
26
5. Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
III.
27
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Kirchhof
Masing
Baer