Urteil des BVerfG vom 26.02.2014

BVerfG: vizepräsident, gesetzgebungsverfahren, kopftuch, befangenheit, hessen, meinung, ausschluss, verfassungsbeschwerde, arbeitsgericht, erstellung

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 471/10 -
- 1 BvR 1181/10 -
Bundesadler
Im Namen des Volkes
In den Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerden
I. der Frau A…,
- Bevollmächtigter:
Prof. Dr. Christian Walter,
Prof.-Huber-Platz 2, 80539 München -
1. unmittelbar gegen
a) das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 20. August 2009 - 2 AZR
499/08 -,
b) das Urteil des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 10. April 2008 - 5 Sa
1836/07 -,
c) das Urteil des Arbeitsgerichts Düsseldorf vom 29. Juni 2007 - 12 Ca
175/07 -,
2. mittelbar gegen
§ 57 Abs. 4, § 58 Satz 2, 1. Fall des Schulgesetzes für das Land
Nordrhein-Westfalen vom 15. Februar 2005 (GV.NW S.102) in der
Fassung des Ersten Gesetzes zur Änderung des Schulgesetzes für das
Land Nordrhein-Westfalen vom 13. Juni 2006 (GV.NW S. 270)
- 1 BvR 471/10 -,
II. der Frau A…,
- Bevollmächtigte:
Wieland Rechtsanwälte GbR,
Rheinweg 23, 53113 Bonn -
1. unmittelbar gegen
a) das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 10. Dezember 2009 - 2 AZR
55/09 -,
b) das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamm vom 16. Oktober 2008 - 11
Sa 572/08 -,
c) das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamm vom 16. Oktober 2008 - 11
Sa 280/08 -,
d) das Urteil des Arbeitsgerichts Herne vom 21. Februar 2008 - 6 Ca 649/07
-,
e) das Urteil des Arbeitsgerichts Herne vom 7. März 2007 - 4 Ca 3415/06 -,
2. mittelbar gegen
§ 57 Abs. 4 des Schulgesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen vom 15.
Februar 2005 (GV.NW S. 102) in der Fassung des Ersten Gesetzes zur
Änderung des Schulgesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen vom 13.
Juni 2006 (GV.NW S. 270)
- 1 BvR 1181/10 -
h i e r : Mitwirkung von Vizepräsident Kirchhof
hat das Bundesverfassungsgericht - Erster Senat - unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter
Gaier,
Eichberger,
Schluckebier,
Masing,
Paulus,
Baer,
Britz
am 26. Februar 2014 beschlossen:
1. Vizepräsident Kirchhof ist nicht von der Ausübung des Richteramtes ausgeschlossen.
2. Der von Vizepräsident Kirchhof in seiner Erklärung vom 27. März 2013 und in den
Ablehnungsgesuchen der Beschwerdeführerinnen mitgeteilte Sachverhalt begründet die
Besorgnis seiner Befangenheit.
Gründe:
A.
A.
I.
1
Die Verfassungsbeschwerden betreffen arbeitsgerichtliche Entscheidungen über Abmahnungen
der Beschwerdeführerinnen und die Kündigung der Beschwerdeführerin zu II.), die von ihrem
Arbeitgeber, dem Land Nordrhein-Westfalen, ausgesprochen wurden, weil sich die
Beschwerdeführerinnen als Angestellte an öffentlichen Schulen geweigert hatten, im Dienst ein
aus religiösen Gründen getragenes sogenanntes islamisches Kopftuch beziehungsweise eine
als Ersatz hierfür getragene Wollmütze abzulegen.
2
Beide Beschwerdeführerinnen sind Musliminnen. Die Beschwerdeführerin zu I.) ist als
angestellte Sozialpädagogin, die Beschwerdeführerin zu II.) war als angestellte Lehrerin
beschäftigt. Die Verfassungsbeschwerden stellen zugleich mittelbar die in Nordrhein-Westfalen
nach der sogenannten Kopftuch-Entscheidung des Zweiten Senats des
Bundesverfassungsgerichts vom 24. September 2003 (BVerfGE 108, 282) erlassenen
gesetzlichen Regelungen über die Zulässigkeit und Grenzen religiöser Bekundungen durch im
Schulwesen beschäftigte Personen zur verfassungsrechtlichen Prüfung. Diese sind Grundlage
der in den Ausgangsverfahren angegriffenen arbeitsrechtlichen Maßnahmen. Die gegen die
Abmahnungen und die Kündigung gerichteten Klagen der Beschwerdeführerinnen und ihre
Revisionen zum Bundesarbeitsgericht blieben erfolglos. Die Instanzgerichte wie auch das
Bundesarbeitsgericht hielten die in beiden Fällen herangezogene Vorschrift des § 57 Abs. 4
SchulG NW für verfassungsgemäß. Nach Satz 1 der Bestimmung dürfen Lehrerinnen und Lehrer
in der Schule keine politischen, religiösen, weltanschaulichen oder ähnliche äußere
Bekundungen abgeben, die geeignet sind, die Neutralität des Landes gegenüber Schülerinnen
und Schülern sowie Eltern oder den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Schulfrieden
zu gefährden oder zu stören. Allerdings widerspricht nach Satz 3 der Bestimmung die
Wahrnehmung des Erziehungsauftrags nach Art. 7 und Art. 12 Abs. 6 der Verfassung des
Landes Nordrhein-Westfalen und die entsprechende Darstellung christlicher und
abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen nicht dem Verhaltensgebot nach
Satz 1. Diese Regelungen gelten auch für sonstige im Landesdienst stehende pädagogische
und sozialpädagogische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die bei der Bildungs- und
Erziehungsarbeit mitwirken (§ 58 SchulG NW).
3
Die Beschwerdeführerinnen sehen sich durch die Urteile der Arbeitsgerichte und mittelbar durch
die zugrunde liegenden gesetzlichen Vorschriften in ihren Grundrechten verletzt. Sie rügen unter
anderem eine Verletzung ihrer Glaubensfreiheit sowie ihrer Berufsfreiheit. Den Vorbehalt
zugunsten christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte halten sie für eine
verfassungswidrige Ungleichbehandlung aus Gründen der Religion.
4
Die Beschwerdeführerinnen stellen die Mitwirkungsbefugnis von Vizepräsident Kirchhof wegen
Vorbefassung in Abrede und halten ihn für kraft Gesetzes ausgeschlossen (§ 18 BVerfGG). Die
Beschwerdeführerin zu I.) führt weiter aus, es sei auch über „die Anwendbarkeit von § 19
BVerfGG nachzudenken“, der Vorschrift also, die die Ablehnung eines Richters wegen
Besorgnis seiner Befangenheit regelt. Die Beschwerdeführerin zu II.) meint, durch
vorangegangene Befassungen von Vizepräsident Kirchhof mit dem Regelungsgegenstand sei
„eine Determiniertheit“ belegt, die eine Anwendung „des § 19 BVerfGG“ rechtfertige. Der Richter
sei vor diesem Hintergrund „von der Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde
auszunehmen“.
5
Vizepräsident Kirchhof hat ebenfalls um eine Entscheidung nach § 19 BVerfGG gebeten.
II.
6
1. Zur Frage der Mitwirkung von Vizepräsident Kirchhof machen die beiden
Beschwerdeführerinnen im Wesentlichen übereinstimmend näher geltend:
7
Vizepräsident Kirchhof sei vor seiner Ernennung zum Bundesverfassungsrichter als
Hochschullehrer mehrfach für ein pauschales Kopftuchverbot für Lehrpersonal eingetreten.
Bereits im ersten sogenannten Kopftuch-Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht
(BVerfGE 108, 282) habe er als Bevollmächtigter das Land Baden-Württemberg vertreten. In
einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren einer beamteten Lehrerin aus Baden-Württemberg,
die im Dienst ein Kopftuch getragen habe, habe er einen Antrag auf Zulassung der Berufung
verfasst, in dem er das Kopftuchverbot und insbesondere die unterschiedliche Behandlung von
islamischem Kopftuch und christlichem Ordenshabit verteidigt habe. Die Beschwerdeführerin
zu I.) trägt dazu weiter vor, aus diesem Schriftsatz habe das Land Nordrhein-Westfalen in die
Klageerwiderung vor dem Arbeitsgericht Düsseldorf in dem von ihr geführten Ausgangsverfahren
weite Teile wörtlich übernommen. Damit sei die von Vizepräsident Kirchhof früher gefertigte
Begründung Bestandteil auch der vorliegenden Akte des Ausgangsverfahrens geworden. Es sei
davon auszugehen, dass eine solche Übernahme nicht ohne seine Zustimmung geschehen sei.
Dies begründe einen Fall der Richterausschließung nach § 18 Abs. 1 Nr. 2 BVerfGG. Sollte man
dies verneinen, so sei über die Anwendbarkeit von § 19 BVerfGG nachzudenken.
8
Beide Beschwerdeführerinnen führen weiter aus, Vizepräsident Kirchhof könne als geistiger
Urheber der baden-württembergischen Regelung zum Verbot religiöser Bekundungen durch
Schulpersonal (§ 38 Abs. 2 SchG BW) angesehen werden, die dem später in Kraft getretenen
§ 57 Abs. 4 SchulG NW, der hier zur Prüfung stehe, inhaltlich entspreche. Die baden-
württembergische Regelung habe er - im Anschluss an das eine landesgesetzliche Regelung
verlangende Kopftuch-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24. September 2003 (BVerfGE
108, 282) - für die baden-württembergische Landesregierung entworfen. Er sei zudem in anderen
Bundesländern, neben Hessen auch in Nordrhein-Westfalen, bei Anhörungen durch
Landtagsausschüsse für die Verfassungsmäßigkeit eines pauschalen Kopftuchverbots
eingetreten und zwar bei gleichzeitiger Privilegierung christlicher und jüdischer Symbole. Zudem
habe er sich für ein pauschales Kopftuchverbot in Kindergärten ausgesprochen, was sich bei der
Verabschiedung des insoweit einschlägigen Gesetzes in Baden-Württemberg ebenfalls
ausgewirkt zu haben scheine. In Nordrhein-Westfalen habe er in einer schriftlichen
Stellungnahme gegenüber dem Landtag den dort geplanten § 57 Abs. 4 SchulG NW sowohl
hinsichtlich des generellen Verbots religiöser Bekundungen als auch hinsichtlich der
Privilegierung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte nach § 57 Abs. 4
Satz 3 SchulG NW für verfassungskonform erachtet (Hinweis auf LT-Stellungnahme 14/150).
9
Die Beschwerdeführerin zu II.) meint, Vizepräsident Kirchhof sei damit bereits mehrfach in
Angelegenheiten tätig gewesen, die ihm nach Sinn und Zweck der §§ 18, 19 BVerfGG eine
Befassung mit der Sache versagten. Es könne davon ausgegangen werden, dass er eine
vorgefasste Meinung zu dieser Thematik habe, die „jedenfalls eine Anwendung des § 19
BVerfGG“ rechtfertigen dürfte.
10
2. Vizepräsident Kirchhof hat in einer Erklärung vom 27. März 2013 unter anderem Folgendes
ausgeführt:
11
„Ich habe das Land Baden-Württemberg in zwei Verfahren vor den Verwaltungsgerichten,
welche das Tragen von Kopftüchern im Schuldienst betrafen, und in der
Verfassungsbeschwerde BVerfGE 108, 282 vor dem Bundesverfassungsgericht vertreten. Das
nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Verbot des Kopftuchtragens
erforderliche Gesetz habe ich für die baden-württembergische Landesregierung entworfen und
im Gesetzgebungsverfahren beratend begleitet. Zu den auf der Grundlage des baden-
württembergischen Textes in Hessen und Nordrhein-Westfalen vorgelegten Gesetzentwürfen
habe ich vor beiden Landtagen Stellung genommen.
Im vorliegenden Ausgangsverfahren zur Verfassungsbeschwerde 1 BvR 471/10 haben die
Prozessvertreter des beklagten Landes im Schriftsatz vom 30. April 2007 an das Arbeitsgericht
Düsseldorf Passagen aus einer von mir formulierten Nichtzulassungsbeschwerde an den baden-
württembergischen Verwaltungsgerichtshof wörtlich zur eigenen Argumentation wiedergegeben.
Ich hatte dem zuständigen baden-württembergischen Ministerium auf dessen Anfrage eine
Verwendung meiner früheren Stellungnahmen allgemein - nicht in Bezug auf bestimmte
Verfahren - gestattet.
In den vorliegenden Ausgangsverfahren bin ich weder beratend noch formulierend tätig
geworden.
Ich bitte den Senat wegen der aufgezeigten früheren Tätigkeiten zum Kopftuchverbot um eine
Entscheidung nach § 19 BVerfGG.“
12
3. In einer Stellungnahme zu der Erklärung von Vizepräsident Kirchhof hat die
Beschwerdeführerin zu I.) unter anderem ausgeführt, selbst wenn die Beteiligung an
Gesetzgebungsverfahren für sich genommen nach § 18 Abs. 3 Nr. 1 BVerfGG keinen
gesetzlichen Ausschlussgrund darstelle, so gäben die im Zusammenhang mit der Einführung
landesrechtlicher Kopftuchverbote für Lehrerinnen entfalteten breiten Beratungstätigkeiten bei
vernünftiger Würdigung aller Umstände doch Anlass dazu, an der Unvoreingenommenheit des
Richters zu zweifeln.
13
Die Äußerungsberechtigten hatten in dem jeweiligen Verfassungsbeschwerdeverfahren
Gelegenheit zur Stellungnahme.
B.
14
Vizepräsident Kirchhof ist von der Mitwirkung in den beiden Verfassungsbeschwerdeverfahren
nicht kraft Gesetzes ausgeschlossen (§ 18 BVerfGG). Indessen besteht bei vernünftiger
Würdigung aller Umstände aus der hier maßgeblichen Sicht der Beschwerdeführerinnen Anlass,
an der Unvoreingenommenheit und objektiven Einstellung des Richters zu zweifeln (§ 19
BVerfGG).
I.
15
Vizepräsident Kirchhof ist in den vorliegenden Verfahren nicht kraft Gesetzes von der Ausübung
seines Richteramtes ausgeschlossen (§ 18 BVerfGG).
16
Nach § 18 Abs. 1 Nr. 2 BVerfGG ist ein Richter des Bundesverfassungsgerichts von der
Ausübung seines Richteramtes ausgeschlossen, wenn er in derselben Sache von Amts oder
Berufs wegen tätig gewesen ist.
17
Die Ausschlussregelung ist als Ausnahmetatbestand konstruiert und deshalb eng auszulegen.
Das Tatbestandsmerkmal „derselben Sache“ in § 18 Abs. 1 Nr. 2 BVerfGG ist - in
Übereinstimmung mit den Ausschlussregelungen anderer fachgerichtlicher
Verfahrensordnungen - stets in einem konkreten, strikt verfahrensbezogenen Sinne zu
verstehen. Zu einem Ausschluss kann deshalb regelmäßig nur eine Tätigkeit in dem
verfassungsgerichtlichen Verfahren selbst oder in dem diesem unmittelbar vorausgegangenen
und ihm sachlich zugeordneten Verfahren führen (vgl. BVerfGE 47, 105 <108>; 72, 278 <288>;
78, 331 <336>; 82, 30 <35 f.>; 109, 130 <131>; BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 19.
März 2013 - 1 BvR 2635/12 -, NJW 2013, S. 1587 <1588>).
18
Die Regelung des § 18 Abs. 3 Nr. 1 BVerfGG bestimmt, dass die Mitwirkung im
Gesetzgebungsverfahren nicht als Tätigkeit im Sinne des § 18 Abs. 1 Nr. 2 gilt. Darüber hinaus
ist auch die Äußerung einer wissenschaftlichen Meinung zu einer für das Verfahren
bedeutsamen Rechtsfrage nach der Bestimmung des § 18 Abs. 3 Nr. 2 BVerfGG nicht als ein
Tätigwerden „in derselben Sache“ anzusehen (vgl. BVerfGE 82, 30 <35 ff.> m.w.N.).
19
Vizepräsident Kirchhof war hiernach vor dem Antritt seines Amtes als Richter des
Bundesverfassungsgerichts nicht von Berufs wegen „in derselben Sache“ im Sinne des § 18
Abs. 1 Nr. 2 BVerfGG tätig. An den beiden den Verfassungsbeschwerden vorangegangenen
arbeitsgerichtlichen Ausgangsverfahren war er weder als Bevollmächtigter noch sonst beteiligt.
Dies würde zumindest voraussetzen, dass er in irgendeiner Weise mit Wissen und Wollen
konkret verfahrensbezogene Tätigkeiten entfaltet hätte. Das ist nicht der Fall. Zwar ist aus einem
Schriftsatz, den er in einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren als Bevollmächtigter des Landes
Baden-Württemberg verfasst hatte, in dem von der Beschwerdeführerin zu I.) geführten
arbeitsgerichtlichen Ausgangsverfahren von den Prozessbevollmächtigten des Landes
Nordrhein-Westfalen in weiten Teilen wörtlich zitiert worden. Darin liegt jedoch kein
„Tätigwerden in derselben Sache“ im Sinne des § 18 Abs. 1 Nr. 2 BVerfGG. Denn das Zitat war
nicht im Blick auf das konkrete Verfahren von einer ausdrücklichen Billigung von Vizepräsident
Kirchhof getragen, wie sich aus dessen Erklärung hierzu ergibt, wenngleich er die anderweitige
Verwendung seiner Stellungnahme allgemein gestattet hatte. Ein passives Zitiertwerden ohne
konkrete Beteiligung an der Abfassung des Schriftsatzes im Ausgangsverfahren ist kein
Tätigwerden in dieser Sache.
20
Die Mitwirkung von Vizepräsident Kirchhof als Hochschullehrer in Gesetzgebungsverfahren
mehrerer Länder zum selben Regelungsgegenstand, so in Baden-Württemberg, Hessen und
Nordrhein-Westfalen, ist von der Ausschlusswirkung eines Tätiggewesenseins in derselben
Sache nach dem Willen des Gesetzgebers ausdrücklich ausgenommen (§ 18 Abs. 3 BVerfGG).
Das gilt zunächst für die Anhörungen durch Ausschüsse der Landtage einschließlich der
schriftlichen Stellungnahme zu der damals im Gesetzgebungsverfahren befindlichen, hier
mittelbar mit angegriffenen schulgesetzlichen nordrhein-westfälischen Regelung (§ 57 Abs. 4,
§ 58 SchulG NW). Zwar hat Vizepräsident Kirchhof in seiner Stellungnahme dem Entwurf
ausdrücklich seine Verfassungskonformität attestiert (LT-Stellungnahme 14/150). Das ändert
jedoch nichts daran, dass es sich bei solchen Anhörungen von Sachverständigen und
angeforderten Stellungnahmen um eine formalisierte Mitwirkung in einem
Gesetzgebungsverfahren handelt (vgl. dazu § 57 Geschäftsordnung LT NW i.V.m. Art. 38 Abs. 1
Satz 2 Verf NW).
21
Auch die Erstellung des Entwurfs einer mit der angegriffenen inhaltsgleichen gesetzlichen
Regelung zum Verbot religiöser Bekundungen für die baden-württembergische Landesregierung
zur Vorbereitung einer Gesetzesinitiative sowie die beratende Begleitung des
Gesetzesvorhabens lassen sich als Mitwirkung im Gesetzgebungsverfahren verstehen. Der
Anwendungsbereich des § 18 Abs. 3 Nr. 1 BVerfGG ist nicht auf die Mitwirkung von Mitgliedern
gesetzgebender Organe begrenzt. Für eine Mitwirkung im Gesetzgebungsverfahren spricht
daher, dass Vizepräsident Kirchhof als damaliger Hochschullehrer von einem an der
Gesetzgebung beteiligten Organ für Zwecke des Gesetzgebungsverfahrens mit der Erstellung
des Entwurfs beauftragt wurde. Auch wenn man die Beteiligung von Hochschullehrern im
Auftrag von Organen, die unmittelbar von Verfassungs wegen an der Gesetzgebung beteiligt
sind, nicht als Mitwirkung im Gesetzgebungsverfahren im Sinne des § 18 Abs. 3 Nr. 1 BVerfGG
begreifen wollte, würde es sich jedenfalls um die Äußerung einer wissenschaftlichen Meinung
zu Rechtsfragen handeln, die auch für die gegenständlichen Verfahren bedeutsam sind und die
deshalb auch unter diesem Gesichtspunkt von der Ausschlusswirkung eines Tätiggewesenseins
in derselben Sache ausgenommen sind (§ 18 Abs. 3 Nr. 2 BVerfGG; so auch BVerfGE 82, 30
<37>).
II.
22
Die von Vizepräsident Kirchhof angezeigten und von den Beschwerdeführerinnen mitgeteilten
Umstände geben den Beschwerdeführerinnen allerdings nachvollziehbar Anlass, an der
Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln (§ 19 BVerfGG).
23
1. Das Ablehnungsgesuch der Beschwerdeführerin zu II.), der bei sinngerechtem Verständnis
ebenfalls als Richterablehnung zu verstehende Vortrag der Beschwerdeführerin zu I.) sowie die
Bitte von Vizepräsident Kirchhof selbst, eine Entscheidung nach § 19 BVerfGG herbeizuführen
(vgl. BVerfGE 95, 189 <191>), gebieten es, auch über die Frage der Besorgnis einer etwaigen
Befangenheit zu befinden.
24
2. Die Ablehnung eines Richters des Bundesverfassungsgerichts nach § 19 BVerfGG setzt
voraus, dass ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit zu
rechtfertigen. Es kommt mithin nicht darauf an, ob der Richter tatsächlich „parteilich“ oder
„befangen“ ist oder ob er sich selbst für befangen hält. Entscheidend ist ausschließlich, ob ein
am Verfahren Beteiligter bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass hat, an der
Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln (vgl. BVerfGE 73, 330 <335>; 82, 30 <37 f.>).
25
Allerdings kann eine Besorgnis der Befangenheit im Sinne des § 19 BVerfGG nicht aus den
allgemeinen Gründen hergeleitet werden, die nach der ausdrücklichen Regelung des § 18 Abs.
2 und 3 BVerfGG einen Ausschluss von der Ausübung des Richteramtes nicht rechtfertigen; es
wäre ein Wertungswiderspruch, könnte gerade wegen dieser Gründe dennoch über eine
Befangenheitsablehnung ein Richter von der Mitwirkung ausgeschlossen werden. Daher muss
stets etwas Zusätzliches gegeben sein, das über die bloße Tatsache der Mitwirkung am
Gesetzgebungsverfahren und des Äußerns einer wissenschaftlichen Meinung zu einer für das
Verfahren bedeutsamen Rechtsfrage hinausgeht, damit eine Besorgnis der Befangenheit als
begründet erscheinen kann (vgl. BVerfGE 82, 30 <38 f.> m.w.N.).
26
3. Die vorliegende besondere Fallgestaltung ist durch solche zusätzlichen Umstände
gekennzeichnet, die zu den nicht zum Ausschluss führenden Tätigkeiten von Vizepräsident
Kirchhof hinzukommen. Diese ergeben sich aus einer summativen Wirkung, die weit über eine
bloße Mitwirkung in einem Gesetzgebungsverfahren hinausreicht und letztlich in besonderer
Weise zur Übernahme einer Gewährfunktion für die Verfassungsmäßigkeit der Regelung gerade
in den hier angegriffenen Punkten geführt hat.
27
Es ist nicht zu übersehen, dass die hier zu beurteilenden Umstände über die bloße Tatsache
einer Mitwirkung im Gesetzgebungsverfahren und des Äußerns wissenschaftlicher Meinungen
hinausgehen. Die zusammenfassende Betrachtung kann aus der Sicht der
Beschwerdeführerinnen, auf die es insoweit ankommt, berechtigten Anlass geben, an der
Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln. So hat der Richter nach der Vertretung des
Landes Baden-Württemberg im sogenannten Kopftuch-Verfahren vor dem
Bundesverfassungsgericht für die Landesregierung als Gesetzesinitiatorin eine gesetzliche
Vorschrift entworfen, deren Konzept ersichtlich auch darauf gerichtet war, eine besondere
Regelung für die Darstellung christlich-abendländischer Bildungs- und Kulturwerte vorzusehen.
Es liegt auf der Hand, dass dem Auftrag der baden-württembergischen Landesregierung zum
Entwurf einer gesetzlichen Regelung, die durch das Urteil des Zweiten Senats vom 24.
September 2003 (BVerfGE 108, 282) veranlasst war, die Erwartung eines verfassungskonformen
Entwurfs innewohnte (vgl. zu diesem Aspekt BVerfGE 82, 30 <39>). Auf dieser Grundlage hat
Vizepräsident Kirchhof als Hochschullehrer damals den Gesetzentwurf im Verlauf des
Gesetzgebungsverfahrens beratend und unterstützend begleitet. Die so entstandene Regelung
des Landes Baden-Württemberg diente dem nordrhein-westfälischen Landesgesetzgeber
erkennbar als Vorbild (vgl. LTDrucks 14/569 S. 7). Die schulgesetzlichen Bestimmungen des
Landes Nordrhein-Westfalen, die hier zur Entscheidung stehen, entsprechen weitgehend den
von dem Richter für das Land Baden-Württemberg entworfenen. Vizepräsident Kirchhof hat sie in
seiner Stellungnahme für den Landtag Nordrhein-Westfalens ausdrücklich ebenfalls für
verfassungsgemäß befunden (LT-Stellungnahme 14/150). Diese grundsätzliche Position hat er
in verschiedenen parlamentarischen Anhörungen vertreten und ist dabei für eine differenzierte
Betrachtung der Symbole und Werte verschiedener Glaubensrichtungen eingetreten, aus der die
Beschwerdeführerinnen gerade die Gleichheitswidrigkeit der Regelung herleiten (vgl. Landtag
von Baden-Württemberg, Protokoll der Sachverständigenanhörung vom 12. März 2004, S. 2,
12 f., S. 80, 81 f., 83; siehe auch für Hessen: LT-Ausschussvorlage KPA 16/14, S. 358 ff.). Hinzu
kommt, dass der Richter auch in gerichtlichen Verfahren das Regelungskonzept nachdrücklich
verteidigt hat. Das wird durch die Klageerwiderung im Ausgangsverfahren der
Beschwerdeführerin zu I.) und die darin zitierten Ausführungen von Vizepräsident Kirchhof in
einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren unterstrichen. Ihm kommt damit - über die übliche
Mitwirkung in Gesetzgebungsverfahren und das Äußern wissenschaftlicher Meinungen zu
einschlägigen Rechtsfragen deutlich hinausgehend - gleichsam eine Art Urheberschaft für das
auch hier zu beurteilende Regelungskonzept zu. In den Augen der Beschwerdeführerinnen ist er
damit in ganz besonderer Weise der Vertreter der von den Verfassungsbeschwerden
bekämpften Regelung und ihrer praktischen Anwendung.
28
Unter diesen Umständen ist die Besorgnis der Beschwerdeführerinnen nachvollziehbar, der
Richter werde die hier zu entscheidenden Rechtsfragen möglicherweise nicht mehr in jeder
Hinsicht offen und unbefangen beurteilen (vgl. dazu auch BVerfGE 95, 189 <192>).
III.
29
Diese Entscheidung ist einstimmig ergangen.
Gaier
Eichberger
Schluckebier
Masing
Paulus
Baer
Britz