Urteil des BVerfG vom 03.03.2014

BVerfG: europäische kommission, versicherungsnehmer, verfassungsbeschwerde, versicherer, private krankenversicherung, aeuv, vertragsschluss, zugang, versicherungspolice, vag

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 2534/10 -
Bundesadler
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn T…,
- Bevollmächtigte:
Anwaltskanzlei Zuck,
Vaihinger Markt 3, 70563 Stuttgart -
gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 31. August
2010 - 8 U 823/10 -
hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richter Gaier,
Schluckebier,
Paulus
am 3. März 2014 einstimmig beschlossen:
1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 31. August 2010 - 8 U 823/10 -
verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung
mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes.
Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht Nürnberg zurückverwiesen.
2. Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
3. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit für das
Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 20.000 € (in Worten: zwanzigtausend Euro)
festgesetzt.
Gründe:
I.
1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft eine zivilrechtliche Auseinandersetzung über die
Rückzahlung von Versicherungsprämien wegen angeblicher Unwirksamkeit des
Versicherungsvertrages. Sie beanstandet das Unterlassen einer Vorlage an den Gerichtshof der
Europäischen Union durch das Oberlandesgericht.
2
1. Der Beschwerdeführer schloss im Wege des sogenannten „Policenmodells“ einen
Versicherungsvertrag ab. Dieses in § 5a des Gesetzes über den Versicherungsvertrag im
Geltungszeitraum vom 29. Juli 1994 bis 31. Dezember 2007 (im Folgenden: VVG a.F.) geregelte
Verfahren war dadurch gekennzeichnet, dass der potenzielle Versicherungsnehmer (im
Folgenden: Versicherungsnehmer) zunächst das von ihm unterzeichnete Antragsformular auf
Abschluss des Versicherungsvertrages an den Versicherer übermittelte und dieser dem
Versicherungsnehmer die Allgemeinen Versicherungsbedingungen und eine
Verbraucherinformation nach § 10a des Versicherungsaufsichtsgesetzes in seiner vor dem
1. Januar 2008 geltenden Fassung (im Folgenden: VAG a.F.) erst zusammen mit der
Versicherungspolice zukommen ließ. Widersprach der Versicherungsnehmer nicht binnen
14 Tagen (bei Lebensversicherungen zuletzt binnen 30 Tagen) nach Überlassung der
Unterlagen schriftlich, so galt der Vertrag auf Grundlage der Allgemeinen
Versicherungsbedingungen und der weiteren für den Vertragsinhalt maßgeblichen
Verbraucherinformationen als abgeschlossen (§ 5a Abs. 1 Satz 1 VVG a.F.). In dem Antrag des
Versicherungsnehmers war das Vertragsangebot, in der nachfolgenden Übersendung der
Vertragsunterlagen die Annahme durch den Versicherer zu sehen. Außerdem setzte der
wirksame Vertragsschluss das Unterbleiben des Widerspruchs innerhalb der 14-tägigen (bzw.
30-tägigen) Widerspruchsfrist voraus; bis zu diesem Zeitpunkt war der Versicherungsvertrag
nach herrschender Meinung schwebend unwirksam (vgl. BGH, Urteil vom 24. November 2010 -
IV ZR 252/08 -, VersR 2011, S. 337 <338> Rn. 22 m.w.N.). Die Widerspruchsfrist begann nach
dieser Regelung erst dann zu laufen, wenn der Versicherungsnehmer mit Aushändigung der
Versicherungspolice über sein Widerspruchsrecht belehrt worden war; abweichend hiervon
erlosch das Widerspruchsrecht - auch bei fehlender Belehrung - nach § 5a Abs. 2 Satz 4
VVG a.F. spätestens ein Jahr nach Zahlung der ersten Prämie.
3
2. Der Beschwerdeführer beantragte im Februar 2002 bei dem von ihm im Ausgangsverfahren
verklagten Versicherer den Abschluss einer fondsgebundenen Rentenversicherung. Die
Versicherungsbedingungen, die Verbraucherinformation sowie eine Belehrung über das
Widerspruchsrecht übersandte der Versicherer noch im selben Monat zusammen mit der
Versicherungspolice. Im Jahr 2008 widersprach der Beschwerdeführer dem
Versicherungsvertrag und nahm den Versicherer unter anderem auf Rückzahlung der bis dahin
entrichteten Prämien in Höhe von rund 2.960 € zuzüglich Zinsen in Anspruch.
4
Das Landgericht wies die Klage ab, weil der Versicherungsvertrag nach § 5a Abs. 1 Satz 1
VVG a.F. in der Fassung des Gesetzes zur Anpassung der Formvorschriften des Privatrechts
und anderer Vorschriften an den modernen Rechtsgeschäftsverkehr vom 13. Juli 2001 (BGBl I
S. 1542) wirksam zustande gekommen und daher die Zahlung der Prämien mit Rechtsgrund
erfolgt sei. Der Beschwerdeführer habe seinen Widerspruch erst nach Ablauf der gemäß § 5a
Abs. 1 Satz 1 VVG a.F. wirksam in Gang gesetzten Widerspruchsfrist erklärt, weshalb der
Widerspruch verfristet sei.
5
Die hiergegen gerichtete Berufung des Beschwerdeführers wies das Oberlandesgericht nach
entsprechendem Hinweis mit Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO in der vor dem 27. Oktober
2011 geltenden Fassung (im Folgenden: ZPO a.F.) zurück. Die auf den Ausgangsfall
anzuwendende Vorschrift des § 5a Abs. 1 Satz 1 VVG a.F. verstoße nicht gegen Unionsrecht.
Dies könne so auch der im Vertragsverletzungsverfahren (Nr. 2005/5046) gegen die
Bundesrepublik Deutschland abgegebenen Stellungnahme der Europäischen Kommission vom
12. Oktober 2006 entnommen werden. Im Übrigen sei die vom Beschwerdeführer
herangezogene Richtlinie 2002/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom
5. November 2002 über Lebensversicherungen (ABl. EG Nr. L 345, S. 1-51 vom 19. Dezember
2002) nicht einschlägig, weil der Versicherungsvertrag bereits vor deren Inkrafttreten zustande
gekommen sei. Auch die ständige Rechtsprechung der Oberlandesgerichte sehe in der
Regelung des § 5a VVG a.F. keine Unionsrechtswidrigkeit. Die Frage des Nichtvorliegens der
Unionsrechtswidrigkeit könne - wie bereits mehrfach geschehen - durch die Oberlandesgerichte
entschieden werden, ohne dass es einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union
bedürfe.
II.
6
Der Beschwerdeführer wendet sich mit seiner Verfassungsbeschwerde gegen die
Zurückweisung seiner Berufung durch das Oberlandesgericht. Er rügt eine Verletzung seiner
verfassungsmäßigen Rechte aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG und aus
Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.
7
Indem das Berufungsgericht davon abgesehen habe, sich zur unionsrechtlichen Rechtslage
hinreichend kundig zu machen und es seine Vorlagepflicht an den Gerichtshof der Europäischen
Union nach Art. 267 Abs. 3 AEUV mit einer offenkundig nicht tragfähigen Begründung verneint
habe, habe es im Zusammenhang mit § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO a.F. den allgemeinen
Justizgewährungsanspruch (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) und damit auch das Recht auf
den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) verletzt. Als letztinstanzlich entscheidendes
Gericht sei das Berufungsgericht verpflichtet gewesen, die Frage, ob die Regelung des § 5a
VVG a.F. (sog. „Policenmodell“) den Vorgaben der Richtlinie 92/96/EWG des Rates vom
10. November 1992 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die
Direktversicherung (Lebensversicherung) sowie zur Änderung der Richtlinien 79/267/EWG und
90/619/EWG (Dritte Richtlinie Lebensversicherung; ABl. EG Nr. L 360, S. 1-27 vom 9. Dezember
1992) entspreche, gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV dem Gerichtshof der Europäischen Union zur
Entscheidung vorzulegen.
8
Die Auslegung der einschlägigen Richtlinienbestimmungen, nach denen dem
Versicherungsnehmer die Informationen „vor Abschluss des Versicherungsvertrages“ mitzuteilen
seien, sei keinesfalls zweifelsfrei. Nach dem Ziel der Richtlinie müssten dem
Versicherungsnehmer die Informationen bereits vorliegen, bevor er eine Auswahlentscheidung
treffe und er seine auf den Vertragsschluss gerichtete Willenserklärung abgebe. Dem damit
verfolgten Zweck, dem Versicherungsnehmer die Auswahl eines seinen Bedürfnissen am besten
entsprechenden Angebots zu ermöglichen, werde § 5a VVG a.F. nicht gerecht, weil hiernach
Versicherer ihre vorvertraglichen Informationspflichten erst nach der Auswahlentscheidung des
Versicherungsnehmers erfüllen müssten. Daran ändere auch die Einräumung eines
Widerspruchsrechts nichts, weil dem Versicherungsnehmer die Widerspruchslast aufgebürdet
werde, was einer effektiven Durchsetzung der vorvertraglichen Informationspflichten
widerspreche.
9
Das Berufungsgericht sei in der angegriffenen Entscheidung seiner Vorlagepflicht willkürlich
nicht nachgekommen. Es habe sich weder mit der Unionsrechtswidrigkeit des § 5a Abs. 1
VVG a.F. noch mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union befasst.
Zudem erweise sich die Interpretation der Stellungnahme der Europäischen Kommission durch
das Berufungsgericht als ebenso unhaltbar wie die der pauschal in Bezug genommenen
anderen oberlandesgerichtlichen Entscheidungen.
III.
10
Die Verfassungsbeschwerde ist dem Bayerischen Staatsministerium der Justiz und für
Verbraucherschutz sowie dem im Ausgangsverfahren beklagten Versicherer zugestellt worden.
11
Der Bundesgerichtshof, der Deutsche Versicherungs-Schutzverband e.V. (DVS), der Bund
versicherter Unternehmer e.V. (BvU), der Gesamtverband der Deutschen
Versicherungswirtschaft e.V. (GDV), die Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -
gestaltung e.V. (GVG) und der Bund der Versicherten e.V. (BdV) wurden in einem
Parallelverfahren (1 BvR 2771/11) um die Abgabe einer Stellungnahme gebeten. Diese
Äußerungen sind den Beteiligten des Ausgangsverfahrens zur Kenntnis gegeben worden. Die
Akten des Ausgangsverfahrens liegen der Kammer vor.
12
1. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, der Deutsche
Versicherungs-Schutzverband e.V. (DVS), der Bund versicherter Unternehmer e.V. (BvU) und
die Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung e.V. (GVG) haben von einer
Äußerung abgesehen.
13
2. Der von der Ausgangsentscheidung begünstigte Versicherer hat zu der
Verfassungsbeschwerde Stellung genommen und die angegriffene Entscheidung verteidigt. Das
Berufungsgericht habe eine hinreichende Begründung gegeben, die die Unionsrechtskonformität
der gesamten Regelung des § 5a VVG a.F. trage und zudem erkennen lasse, dass das
Berufungsgericht keine Zweifel an der Beantwortung der Frage nach der
Unionsrechtskonformität des „Policenmodells“ gehabt habe. Der Verweis auf die herrschende
obergerichtliche Rechtsprechung spreche überdies - für sich genommen - dagegen, dass das
Berufungsgericht den Zugang zur Rechtskontrolle unzumutbar verwehrt habe.
14
3. Der Präsident des Bundesgerichtshofs hat in dem Parallelverfahren eine Stellungnahme des
stellvertretenden Vorsitzenden des IV. Zivilsenats übermittelt. Dieser hat mitgeteilt, der
IV. Zivilsenat sei mit den im Verfassungsbeschwerdeverfahren aufgeworfenen Rechtsfragen
bereits mehrmals befasst gewesen. Eine Vorlage in Bezug auf die Richtlinienkonformität des
„Policenmodells“ (§ 5a Abs. 1 Satz 1 VVG a.F.) sei bislang nicht vorgesehen gewesen, sondern
nur eine Vorlage zur Richtlinienkonformität der Regelung des § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F.
15
4. Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V. (GDV) hat ausgeführt, die
Unionsrechtskonformität der Regelung des § 5a VVG a.F. entspreche dem von der herrschenden
Meinung in Rechtsprechung und Schrifttum vertretenen und zutreffenden Standpunkt. Es sei
daher verfassungsrechtlich unbedenklich, wenn ein letztinstanzliches Gericht, das mit der
herrschenden Meinung keine Zweifel an der Unionsrechtskonformität des § 5a VVG a.F. habe,
von einer Vorlage der Rechtsfrage an den Gerichtshof der Europäischen Union absehe.
16
5. Der Bund der Versicherten e.V. (BdV) hat zu der Verfassungsbeschwerde in dem genannten
Parallelverfahren Stellung genommen und teilt deren Standpunkt. Die dort angegriffene
Entscheidung, die exemplarisch für die Entscheidungen vieler Berufungsgerichte sei, lasse eine
unhaltbare Handhabung des Art. 267 Abs. 3 AEUV durch das Berufungsgericht erkennen.
IV.
17
Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist zur Entscheidung anzunehmen. Ihr ist durch die
Kammer stattzugeben, weil sie unter Berücksichtigung der bereits hinreichend geklärten
Maßstäbe zu Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG offensichtlich begründet ist (§ 93c
Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG).
18
1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts über die Zurückweisung der Berufung nach § 522
Abs. 2 ZPO a.F. verletzt den Beschwerdeführer in seinem Recht auf Gewährung effektiven
Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG). Die Annahme des Berufungsgerichts,
eine Entscheidung durch Urteil sei nicht erforderlich, weil der Sache keine grundsätzliche
Bedeutung (§ 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO a.F.) zukomme, ist nicht nachvollziehbar.
19
a) aa) Der aus dem Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit den Grundrechten, insbesondere
Art. 2 Abs. 1 GG, abzuleitende Justizgewährungsanspruch gewährleistet nicht nur den Zugang
zu den Gerichten sowie eine verbindliche Entscheidung durch den Richter aufgrund einer
grundsätzlich umfassenden tatsächlichen und rechtlichen Prüfung des Streitgegenstandes (vgl.
BVerfGE 97, 169 <185>; 107, 395 <401>; 108, 341 <347>). Das Gebot effektiven
Rechtsschutzes beeinflusst auch die Auslegung und Anwendung der Bestimmungen, die für die
Eröffnung eines Rechtswegs und die Beschreitung eines Instanzenzugs von Bedeutung sind. Es
begründet zwar keinen Anspruch auf eine weitere Instanz; die Entscheidung über den Umfang
des Rechtsmittelzugs bleibt vielmehr dem Gesetzgeber überlassen (vgl. BVerfGE 54, 277 <291>;
89, 381 <390>; 107, 395 <401 f.>). Hat der Gesetzgeber sich jedoch für die Eröffnung einer
weiteren Instanz entschieden und sieht die betreffende Prozessordnung dementsprechend ein
Rechtsmittel vor, so darf der Zugang dazu nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr
zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 77, 275 <284>; 78, 88 <99>; 88, 118
<124>). Das Rechtsmittelgericht darf ein von der jeweiligen Prozessordnung eröffnetes
Rechtsmittel daher nicht ineffektiv machen und für den Beschwerdeführer leerlaufen lassen (vgl.
BVerfGE 78, 88 <98 f.>; 96, 27 <39>).
20
Lässt ein Fachgericht ein zulassungsbedürftiges Rechtsmittel nicht zu, müssen die
Entscheidungsgründe das Bundesverfassungsgericht in die Lage versetzen zu überprüfen, ob
das Gericht dabei ein von der jeweiligen Rechtsordnung grundsätzlich eröffnetes Rechtsmittel
ineffektiv gemacht hat (vgl. #BVerfGE 104, 220 <231 f.>**; BVerfGK 19, 364 <367>). Darin liegt
kein Widerspruch zu dem Grundsatz, dass letztinstanzliche Entscheidungen von Verfassungs
wegen nicht begründet werden müssen (vgl. BVerfGE 50, 287 <289 f.>; 104, 1 <7 f.>; BVerfGK
19, 364 <367>). Die Begründungsobliegenheit folgt in dieser Konstellation im Zivilprozess aus
Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. Denn ein Berufungsgericht, das die Revision
nicht zulässt, entscheidet, falls die Nichtzulassungsbeschwerde nicht eröffnet ist, unanfechtbar
über die Erreichbarkeit von höherinstanzlichem Rechtsschutz im konkreten Fall. Unterlässt das
Fachgericht eine nachvollziehbare Begründung seiner Nichtzulassungsentscheidung und erhellt
sich diese auch nicht aus dem Zusammenhang, kommt eine Aufhebung durch das
Bundesverfassungsgericht dann in Betracht, wenn die Zulassung des Rechtsmittels
nahegelegen hätte (vgl. BVerfGK 17, 533 <544> m.w.N. [zur Vorlagepflicht gemäß Art. 267
AEUV]; 19, 364 <367>).
21
bb) Diese Grundsätze finden auch auf den einstimmigen Beschluss des Berufungsgerichts über
die Zurückweisung der Berufung nach § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO a.F. Anwendung, da er gemäß
§ 522 Abs. 3 ZPO a.F. nicht anfechtbar war und damit den Weg zur Revision versperrte. Mit dem
Gebot effektiven Rechtsschutzes unvereinbar sind eine den Zugang zur Revision erschwerende
Auslegung und Anwendung des § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO a.F. mithin dann, wenn sie sachlich
nicht zu rechtfertigen sind, sich mithin als objektiv willkürlich erweisen und dadurch den Zugang
zur nächsten Instanz unzumutbar einschränken (vgl. BVerfGK 15, 127 <131>; 17, 196 <199 f.>;
BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 4. November 2008 - 1 BvR 2587/06 -,
NJW 2009, S. 572 <573> Rn. 17 m.w.N.).
22
(1) Nach § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO a.F. weist das Berufungsgericht die Berufung unverzüglich
zurück, wenn es unter anderem davon überzeugt ist, dass die Rechtssache keine grundsätzliche
Bedeutung (Nr. 2) hat.
23
Grundsätzliche Bedeutung, die gegebenenfalls gemäß § 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO a.F. einer
Entscheidung des Berufungsgerichts im Beschlusswege entgegensteht, kommt einer Sache zu,
wenn sie eine entscheidungserhebliche, klärungsfähige und klärungsbedürftige Rechtsfrage
aufwirft, die sich in einer unbestimmten Vielzahl weiterer Fälle stellen kann und deshalb das
abstrakte Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des
Rechts berührt (vgl. zu § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO: BGHZ 151, 221 <223>; 152, 182 <190 ff.>;
154, 288 <291>; BGH, Beschluss vom 8. Februar 2010 - II ZR 54/09 -, WM 2010, S. 936 <937>
Rn. 3; BVerfGK 17, 196 <200>).
24
Stellt sich eine entscheidungserhebliche und der einheitlichen Auslegung bedürfende Frage des
Unionsrechts, ist bereits mit der sich voraussichtlich in einem künftigen Revisionsverfahren
ergebenden Notwendigkeit eines Vorabentscheidungsersuchens an den Gerichtshof der
Europäischen Union der Zulassungsgrund der „grundsätzlichen Bedeutung“ im Sinne von § 522
Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO a.F. (bzw. § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO) gegeben (vgl. für das
verwaltungsgerichtliche Verfahren: BVerfGE 82, 159 <196>; für das finanzgerichtliche Verfahren:
BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Dezember 1992 - 2 BvR 557/88 -
, NVwZ 1993, S. 883 <883 f.>; für das zivilgerichtliche Verfahren: BVerfGK 13, 418 <425>; 19,
197 <204>; BGH, Beschluss vom 16. Januar 2003 - I ZR 130/02 -, LRE 46, S. 279 f.; Krüger, in:
Münchener Kommentar zur ZPO, 4. Aufl. 2012, § 543 Rn. 6).
25
(2) Die Entscheidung des Berufungsgerichts, die Berufung gemäß § 522 Abs. 2 ZPO a.F. durch
Beschluss zurückzuweisen, und die ihr zugrunde liegende Annahme, dass sich eine
entscheidungserhebliche, einen Zulassungsgrund im Sinne des § 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, 3
ZPO a.F. (bzw. § 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO) bedingende Frage des Unionsrechts nicht stelle, sind
an den vom Bundesverfassungsgericht (in BVerfGE 73, 339 <366 ff.>; 82, 159 <192 ff.>; 126, 286
<315 f.>; 129, 78 <105 ff.>; zuletzt BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 28. Januar 2014 -
2 BvR 1561, 1562, 1563, 1564/12 -, juris Rn. 176 ff.) für die Handhabung des Art. 267 Abs. 3
AEUV herausgearbeiteten verfassungsrechtlichen Kontrollmaßstäben zu messen (vgl. für die
Zurückweisung einer Nichtzulassungsbeschwerde durch das Revisionsgericht: BVerfG,
Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Dezember 1992 - 2 BvR 557/88 -, NVwZ
1993, S. 883 <884>).
26
(a) Das Berufungsgericht, das die Voraussetzungen des § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO a.F. für
gegeben erachtet, eröffnet sich den Weg der Berufungszurückweisung durch Beschluss und wird
damit zugleich, weil der Beschluss nach § 522 Abs. 3 ZPO a.F. der Anfechtung entzogen ist,
zum letztinstanzlichen Gericht und damit zum Adressaten der in Art. 267 Abs. 3 AEUV
geregelten Vorlageverpflichtung. Da in einem solchen Fall die Bejahung des
Anwendungsbereichs von § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO a.F. durch das Berufungsgericht
zwangsläufig die Entscheidung dieses Gerichts einschließt, die ihm angetragene Frage des
Unionsrechts nicht dem Gerichtshof der Europäischen Union vorzulegen, bedarf es der
Rückbeziehung der Maßstäbe, die für die Handhabung des Art. 267 Abs. 3 AEUV gelten, auf die
Auslegung und Anwendung der Anwendungsvoraussetzungen des § 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, 3
ZPO a.F. (so für die vergleichbare Zurückweisung einer Nichtzulassungsbeschwerde durch das
Revisionsgericht: BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Dezember
1992 - 2 BvR 557/88 -, NVwZ 1993, S. 883 <884> [zu § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO]; ferner BVerfGK
19, 364 <367> [zu § 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO]).
27
(b) Nach dieser Maßgabe wird - bezogen auf die Anwendung von § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO a.F. -
ein letztinstanzliches nationales Gericht, das mit einer Frage des Unionsrechts befasst wird und
die in § 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, 3 ZPO a.F. genannten Zulassungsgründe verneint, dem
Justizgewährungsanspruch in der Regel nur dann gerecht, wenn es entweder festgestellt hat,
dass die gestellte Frage nicht entscheidungserheblich ist, oder wenn es nach Auswertung der
entscheidungserheblichen Bestimmungen des Unionsrechts eine vertretbare Begründung dafür
gibt, dass die maßgebliche Rechtsfrage durch den Gerichtshof der Europäischen Union bereits
entschieden ist oder dass die richtige Antwort auf diese Rechtsfrage derart offenkundig ist, dass
für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt.
28
Umgekehrt wird die sich stellende entscheidungserhebliche Frage des Unionsrechts dann nicht
in zumindest vertretbarer Weise beantwortet, wenn das nationale Gericht eine eigene Lösung
entwickelt, die nicht auf die bestehende Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen
Union zurückgeführt werden kann und auch nicht einer eindeutigen Rechtslage entspricht. Dann
erscheint die Verneinung der sich voraussichtlich in einem etwaigen Revisionsverfahren
ergebenden - und einen Zulassungsgrund im Sinne von § 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, 3 ZPO a.F.
(bzw. § 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO) begründenden - Notwendigkeit eines
Vorabentscheidungsersuchens nicht mehr verständlich und ist offensichtlich unhaltbar.
29
b) So liegt der Fall hier. Die Begründung des Berufungsgerichts für seine Annahme, eine
Entscheidung durch Urteil sei nicht erforderlich, weil der Sache keine grundsätzliche Bedeutung
(§ 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO a.F.) zukomme, ist nicht nachvollziehbar und nicht haltbar.
30
aa) Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung in materiellrechtlicher Hinsicht auch darauf
gestützt, dass die Regelung des § 5 Abs. 1 Satz 1 VVG a.F. nicht gegen Unionsrecht verstoße.
Es hat damit für diese hier erhebliche Rechtsfrage einen allgemeinen Rechtssatz aufgestellt, der
in einer unbestimmten Vielzahl weiterer Fälle Bedeutung erlangen kann und deshalb das
Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts
berührt.
31
bb) Die der Sache nach dokumentierte Annahme des Berufungsgerichts, diese - als Bundesrecht
revisible und damit klärungsfähige - Rechtsfrage sei offenkundig im Sinne eines „acte clair“ und
daher nicht klärungsbedürftig, entbehrt einer nachvollziehbaren, verfassungsrechtlich
tragfähigen Begründung. Denn eine vertretbare andere Ansicht zu der vom Berufungsgericht -
nicht aber höchstrichterlich - entschiedenen Frage des Unionsrechts erscheint auf Grundlage
der hier maßgebenden Richtlinie keinesfalls als ausgeschlossen oder auch nur fernliegend.
32
(1) Der Klärungsbedürftigkeit steht der Umstand, dass § 5a VVG a.F. mit Wirkung zum 1. Januar
2008 außer Kraft getreten ist, nicht entgegen. Zwar entfällt der Klärungsbedarf, wenn einer
Rechtsfrage wegen einer Rechtsänderung für die Zukunft keine Bedeutung mehr zukommt
(BVerfGK 15, 127 <131>). Indes bleibt § 5a VVG a.F. für das Zustandekommen der
Versicherungsverträge maßgeblich, die in seinem Geltungszeitraum vom 29. Juli 1994 bis zum
31. Dezember 2007 in einer Vielzahl von Fällen nach dem - von den meisten Versicherern
bevorzugten - „Policenmodell“ abgeschlossen wurden (Art. 1 EGVVG; vgl. ferner Armbrüster, in:
Prölss/Martin, Versicherungsvertragsgesetz, 28. Aufl. 2010, EGVVG § 1 Rn. 9; Ebers, in:
Schwintowski/Brömmelmeyer, Praxiskommentar zum Versicherungsvertragsgesetz, 2. Aufl.
2011, VVG § 8 Rn. 6, 10). Hieraus ergibt sich zugleich die vom Berufungsgericht angenommene
und vom Bundesverfassungsgericht zu unterstellende Entscheidungserheblichkeit der
Rechtsfrage für den im Ausgangsverfahren zu beurteilenden Versicherungsvertrag.
33
(2) Der Gerichtshof der Europäischen Union hat die Frage der Richtlinienkonformität des
sogenannten „Policenmodells“ (§ 5a Abs. 1 VVG a.F.) bisher nicht beantwortet.
34
Der Gerichtshof der Europäischen Union ist - nach der Entscheidung des Berufungsgerichts -
zwar mit der Frage nach der Vereinbarkeit einer nationalen Regelung mit dem Inhalt des § 5a
Abs. 2 Satz 4 VVG a.F. (Erlöschen des Rücktrittsrechts spätestens ein Jahr nach Zahlung der
ersten Prämie auch bei fehlender Belehrung über das Rücktrittsrecht) mit Art. 15 Abs. 1 der
Zweiten Richtlinie 90/619/EWG des Rates vom 8. November 1990 zur Koordinierung der
Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (Lebensversicherung) und zur
Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs sowie zur
Änderung der Richtlinie 79/267/EWG (ABl. EG Nr. L 330, S. 50-61 vom 29. November 1990) in
Verbindung mit Art. 31 der Richtlinie 92/96/EWG befasst worden (vgl. BGH, Beschluss vom
28. März 2012 - IV ZR 76/11 -, VersR 2012, S. 608). In seinem Urteil vom 19. Dezember 2013 hat
er sich jedoch auf den Gegenstand des Vorabentscheidungsersuchens beschränkt und von
einer Stellungnahme dazu abgesehen, ob das „Policenmodell“ insgesamt richtlinienkonform ist
(vgl. EuGH, Urteil vom 19. Dezember 2013 - Rs. C-209/12 - Endress, NJW 2014, S. 452 Rn. 20;
weitergehend dagegen die Generalanwältin Sharpston in ihren zugrunde liegenden
Schlussanträgen vom 11. Juli 2013, in denen sie bei Rn. 57 ff. <61 f.> Zweifel an der
Richtlinienkonformität des „Policenmodells“ formuliert).
35
(3) Der durch das Berufungsgericht zur Begründung seines Standpunktes angeführte Verweis
auf „die ständige Rechtsprechung der Oberlandesgerichte“ und die von ihm in diesem
Zusammenhang mittelbar in Bezug genommenen Entscheidungen (OLG Nürnberg, Urteil vom
29. Februar 2000 - 3 U 3127/99 -, VersR 2000, S. 713; OLG Düsseldorf, Urteil vom 5. Dezember
2000 - 4 U 32/00 -, VersR 2001, S. 837; OLG Frankfurt a.M., Urteil vom 10. Dezember 2003 - 7 U
15/03 -, VersR 2005, S. 631; OLG Karlsruhe, Urteil vom 7. Mai 2009 - 12 U 241/08 -) sind
vorliegend nicht geeignet, um die durch das Berufungsgericht entschiedene Frage des
Unionsrechts als geklärt erscheinen zu lassen. Die Begründungen der in Bezug genommenen
Entscheidungen greifen zu kurz.
36
(a) Die angeführten Entscheidungen gehen aus zwei Gründen davon aus, dass die Regelung
des § 5a VVG a.F. nicht gegen Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 92/96/EWG verstoße.
37
(aa) Zum einen würden die Verbraucherinformationen auch im Anwendungsbereich des § 5a
Abs. 1 Satz 1 VVG a.F. „vor“ Vertragsschluss im Sinne von Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie
92/96/EWG übermittelt, weil der Vertrag erst nach Ablauf der Widerspruchsfrist rechtsverbindlich
zustande komme. Der Verbraucher könne mithin die Informationen prüfen, bevor er sich
endgültig für den Vertragsschluss entscheide. Dies trage dem Ziel der Richtlinie,
Markttransparenz zu schaffen, Rechnung.
38
(bb) Zum anderen sei davon auszugehen, dass die Richtlinie den Mitgliedstaaten ausschließlich
Vorgaben für das Versicherungsaufsichtsrecht mache und eine Harmonisierung des
Versicherungsvertragsrechts gerade nicht anstrebe (vgl. die Erwägungsgründe Nr. 5 und Nr. 19
der Richtlinie 92/96/EWG). Aufsichtsrechtlich habe der deutsche Gesetzgeber die Vorgaben der
Richtlinie in § 10a VAG a.F. umgesetzt.
39
(b) Beide Erwägungen sind nicht geeignet, eine dahingehende Auslegung des Unionsrechts als
offenkundig im Sinne eines „acte clair“ und die Rechtsfrage als geklärt erscheinen zu lassen. Vor
diesem Hintergrund ist die mit dem Beschluss nach § 522 ZPO a.F. einhergehende Ablehnung
einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union offensichtlich unhaltbar.
40
(aa) Die zitierten Berufungsgerichte haben sich, sofern es ihnen nach der zeitlichen Abfolge
möglich war, mit den beachtlichen Gegenargumenten der Europäischen Kommission in dem von
ihr im Jahr 2005 gegen die Bundesrepublik Deutschland eingeleiteten
Vertragsverletzungsverfahren (Nr. 2005/5046) nicht auseinandergesetzt.
41
Die Europäische Kommission hat in ihrer Stellungnahme vom 12. Oktober 2006 darauf
hingewiesen, dass der Versicherungsnehmer nach der deutschen Regelung bereits eine
Auswahlentscheidung für eine Versicherung treffen müsse, bevor ihm die notwendigen
Informationen erteilt würden. Nach Erteilung der Information müsse er sodann durch
fristgemäßes Erheben eines Widerspruchs aktiv werden, um eine Bindung an den Vertrag zu
verhindern. Es spreche einiges dafür, dass dies die Zielsetzung der Richtlinie, den
Versicherungsbinnenmarkt zu stärken, vereitle. Der Verbraucher solle nämlich gerade deshalb
umfassend informiert werden, damit er die Vielfalt der Angebote im Binnenmarkt und den
verstärkten Wettbewerb der Versicherer untereinander besser nutzen und einen seinen
Bedürfnissen am ehesten entsprechenden Vertrag auswählen könne (siehe die
Erwägungsgründe Nr. 20 und 23 der Richtlinie 92/96/EWG bzw. die Erwägungsgründe Nr. 46
und 52 der Richtlinie 2002/83/EG; vgl. dazu weiter und ebenso die Generalanwältin Sharpston
bei Rn. 59 ihrer Schlussanträge vom 11. Juli 2013 in der Rechtssache C-209/12 - Endress).
42
Um die Vielfalt der Versicherungsprodukte und den verstärkten Wettbewerb selbst voll nutzen zu
können, muss ein Versicherungsnehmer nach dem „Policenmodell“ zunächst gegenüber
mehreren Versicherern - mit einigem Aufwand - Anträge auf Abschluss eines
Versicherungsvertrages stellen, um schließlich mit der Versicherungspolice die Informationen zu
erhalten, die ihm eine sachgerechte Auswahlentscheidung erst ermöglichen. Ihm wird hierbei
eine mit erheblichen Risiken - etwa dem der Fristversäumnis - behaftete „Widerspruchslast“
aufgebürdet, sich von diesen Verträgen nach seiner Auswahlentscheidung wieder lösen zu
müssen. Dass ein Versicherungsnehmer gleichzeitig Anträge bei mehreren Versicherungen
stellt, um dann die nicht immer zeitgleich bei ihm eingehenden Versicherungsbedingungen
während der regelmäßig unterschiedlich laufenden Widerspruchsfristen eingehend zu
vergleichen, erscheint lebensfremd (so auch Berg, VuR 1999, S. 335 <341 f.>; Osing,
Informationspflichten des Versicherers und Abschluss des Versicherungsvertrages, 1996,
S. 92 f.; Rehberg, Der Versicherungsabschluss als Informationsproblem, 2003, S. 109 ff.
<113 f.>). Hierbei macht der Umstand, dass die Verträge vor Ablauf der Widerspruchsfrist
rechtsdogmatisch noch „schwebend unwirksam“ sind, für den Versicherungsnehmer keinen
entscheidenden Unterschied. Ihm würde bei anderer Betrachtung angesonnen, mehrere auf
Abschluss verschiedener Verträge gerichtete Willenserklärungen abzugeben, von vornherein
jedoch mit der Absicht, alle Erklärungen bis auf eine später fristgerecht unter Fristüberwachung
zu widerrufen, nur um „vorab“, vor dem Wirksamwerden der Verträge, in den Besitz der
gebotenen Verbraucherinformation zu gelangen. Art. 36 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83/EG stellt
dafür jedoch auf einen Zeitpunkt „vor Abschluss des Versicherungsvertrags“ ab, nicht
fernliegender Weise also auf den Zeitpunkt der maßgeblichen, zum Vertragsschluss führenden
Willenserklärung des Versicherungsnehmers.
43
(bb) Auch die zweite von den Berufungsgerichten angestellte Erwägung, mit der Richtlinie werde
nur die Vereinheitlichung der aufsichtsrechtlichen Bestimmungen in den Mitgliedstaaten
angestrebt, nicht aber eine Harmonisierung der versicherungsvertraglichen Regelungen (vgl. die
Erwägungsgründe Nr. 5 und 19 der Richtlinie 92/96/EWG bzw. die Erwägungsgründe Nr. 7 und
44 der Richtlinie 2002/83/EG), vermag nicht zu überzeugen. Obgleich die Informationspflicht
„vor“ Abschluss des Vertrages in § 10a VAG a.F. aufsichtsrechtlich normiert war, wurde der Inhalt
dieser Pflicht durch die versicherungsvertragsrechtliche Regelung des § 5a VVG a.F. geprägt.
Gemäß § 81 Abs. 1 VAG überwacht die Aufsichtsbehörde die „Einhaltung der
aufsichtsrechtlichen, der das Versicherungsverhältnis betreffenden und aller sonstigen die
Versicherten betreffenden Vorschriften“. Solange also das Versicherungsvertragsrecht das
„Policenmodell“ als eine Möglichkeit für den Abschluss eines Versicherungsvertrages vorsah,
schritten die Aufsichtsbehörden dagegen folgerichtig nicht ein (vgl. nur Ebers, in: Micklitz,
Verbraucherrecht in Deutschland - Stand und Perspektiven, 2005, S. 253, 260 ff. <266 f.>). Im
Ergebnis hätte mithin die Bundesrepublik Deutschland, sollte diese Praxis der
Informationserteilung nicht der Richtlinie entsprochen haben, der Richtlinie durch die Regelung
des § 5a VVG a.F. aufsichtsrechtlich keine praktische Wirksamkeit verschafft.
44
(4) Soweit das Berufungsgericht als Beleg für seinen Standpunkt, dass § 5a Abs. 1 Satz 1
VVG a.F. nicht gegen Unionsrecht verstoße, pauschal auf die im Vertragsverletzungsverfahren
(Nr. 2005/5046) abgegebene Stellungnahme der Europäischen Kommission vom 12. Oktober
2006 verweist, ist dies nicht nachvollziehbar, weil die Europäische Kommission in dieser
Stellungnahme die gegenteilige Auffassung vertreten hat.
45
Die in diesem Zusammenhang vom Berufungsgericht gegebene knappe Begründung, die im
Vertragsverletzungsverfahren als Prüfmaßstab herangezogene Richtlinie 2002/83/EG finde auf
den Versicherungsvertrag des Beschwerdeführers noch keine Anwendung, erscheint zwar auf
den ersten Blick und formal zutreffend. Sie berücksichtigt jedoch nicht, dass es sich bei dieser
Richtlinie - soweit hier von Bedeutung - um eine reine Konsolidierungsrichtlinie handelt, die das
bestehende und im Ausgangsverfahren anzuwendende Recht (in Art. 31 Abs. 1 i.V.m.
Anhang II A der Richtlinie 92/96/EWG sowie deren Erwägungsgründe Nr. 5, 19, 20 und 23) aus
Gründen der Übersichtlichkeit lediglich zusammenfasst (in Art. 36 Abs. 1 i.V.m. Anhang III A und
in ihren Erwägungsgründen Nr. 7, 44, 46 und 52, vgl. Erwägungsgrund Nr. 1 der Richtlinie
2002/83/EG und die in deren Anhang VI enthaltene Entsprechungstabelle; ferner Brand, VersR
2013, S. 1 <4>; OLG München, Urteil vom 10. Oktober 2013 - 14 U 1804/13 -, juris Rn. 36).
46
(5) Darüber hinaus berücksichtigt das Berufungsgericht nicht, dass selbst die
Gesetzesbegründung zu der am 1. Januar 2008 in Kraft getretenen Reform des
Versicherungsvertragsgesetzes die Vereinbarkeit des - abzuschaffenden - „Policenmodells“
aufgrund der unionsrechtlichen Vorgaben als „nicht zweifelsfrei“ bezeichnet (vgl. BTDrucks
16/3945, S. 60).
47
(6) Dass die Richtlinienkonformität des „Policenmodells“ nicht eindeutig war und ist, findet
schließlich in dem gespaltenen Meinungsbild im Schrifttum seine Bestätigung (die
Richtlinienkonformität bezweifeln: Berg, VuR 1999, S. 335 <341 f.>; Dörner, in:
Brömmelmeyer/Heiss/Meyer/Rückle/Schwintowski/Wallrabenstein, Allgemeines
Gleichbehandlungsgesetz, Private Krankenversicherung und Gesundheitsreform,
Schwachstellen der VVG-Reform, 2009, S. 137 <145 f.>; Dörner/Staudinger, WM 2006, S. 1710
<1712>; Ebers, in: Micklitz, Verbraucherrecht in Deutschland - Stand und Perspektiven, 2005,
S. 253 <260 ff.>; ders., in: Schwintowski/Brömmelmeyer, Praxiskommentar zum
Versicherungsvertragsrecht, 1. Aufl. 2008, § 8 Rn. 9 f. [bezogen auf § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F.];
Lenzing, in: Basedow/Fock, Europäisches Versicherungsvertragsrecht, Band I, 2002, S. 139
<164 f.>; Micklitz/Ebers, in: Basedow/Meyer/Rückle/Schwintowski, Verbraucherschutz durch und
im Internet bei Abschluss von privaten Versicherungsverträgen - Altersvorsorgeverträge - VVG-
Reform, 2003, S. 43 <82 f.>; Osing, Informationspflichten des Versicherers und Abschluss des
Versicherungsvertrages, 1996, S. 92 f.; Rehberg, Der Versicherungsabschluss als
Informationsproblem, 2003, S. 109 ff. <116 f.>; Schwintowski, VuR 1996, S. 223 <238 f.>; die
Übereinstimmung mit den Richtlinienvorgaben bejahen: Herrmann, in: Bruck/Möller,
Versicherungsvertragsgesetz, 9. Aufl. 2009, § 7 Rn. 65; Lorenz, VersR 1995, S. 616 <625 f.>;
ders., VersR 1997, S. 773 <780 f.>; Prölss, in: Prölss/Martin, Versicherungsvertragsgesetz,
27. Aufl. 2004, VVG § 5a Rn. 8; Reiff, VersR 1997, S. 267 <271>; Schirmer, VersR 1996, S. 1045
<1056>; Wandt, Verbraucherinformation und Vertragsschluss nach neuem Recht - Dogmatische
Einordnung und praktische Handhabung -, 1995, S. 31 ff.).
48
cc) Unter diesen Umständen hat das Berufungsgericht das Vorliegen der
Anwendungsvoraussetzungen des § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO a.F. mit einer verfassungsrechtlich
nicht tragfähigen Begründung angenommen. Eine Entscheidung durch Beschluss kam daher
schlechterdings nicht in Betracht. Das Berufungsgericht hätte vielmehr durch Urteil unter
Zulassung der Revision (gemäß § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO) entscheiden müssen, wenn es
nicht selbst zur Klärung der entscheidungserheblichen Frage der Richtlinienkonformität des
„Policenmodells“ eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union einholen
und das Verfahren aussetzen wollte.
49
dd) Der angegriffene Beschluss des Berufungsgerichts über die Zurückweisung der Berufung
beruht auf dem festgestellten Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG,
weil das Gericht seine Entscheidung in der Sache allein auf seine oben dargestellte
Rechtsauffassung gestützt hat. Beim derzeitigen Verfahrensstand kann auch nicht angenommen
werden, dass bei Aufhebung der angegriffenen Entscheidung und Zurückverweisung der Sache
an das Berufungsgericht kein anderes, für den Beschwerdeführer günstigeres Ergebnis in
Betracht kommt (vgl. dazu BVerfGE 90, 22 <25 f.>).
50
2. Danach liegen die Voraussetzungen für die Annahme der Verfassungsbeschwerde zur
Entscheidung vor; die Annahme ist zur Durchsetzung der verfassungsmäßigen Rechte des
Beschwerdeführers angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b, § 93b Satz 1, § 93c Abs. 1 Satz 1
BVerfGG).
51
Die weitere vom Beschwerdeführer erhobene Rüge einer Verletzung seines Anspruchs auf den
gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) bedarf danach keiner Entscheidung.
V.
52
1. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
53
2. Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14
Abs. 1 RVG in der gemäß § 60 Abs. 1 RVG vor dem 1. August 2013 geltenden Fassung und in
Anwendung der durch das Bundesverfassungsgericht im 79. Band seiner
Entscheidungssammlung für die Festsetzung des Gegenstandswerts im Verfahren der
Verfassungsbeschwerde entwickelten und fortgeltenden Maßstäbe (vgl. BVerfGE 79, 365
<366 ff.>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 13. Juni 2013 - 1 BvR
2952/08 -, NJW 2013, S. 2738 Rn. 6).
Gaier
Schluckebier
Paulus