Urteil des BVerfG vom 30.06.2014

BVerfG: reformatio in peius, gerichtshof für menschenrechte, egmr, rechtliches gehör, öffentliche verhandlung, europäische kommission für menschenrechte, faires verfahren, emrk, verfassungsbeschwerde

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 792/11 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn R…,
- Bevollmächtigter:
Rechtsanwalt Hans Meyer-Mews,
Buchtstraße 13, 28195 Bremen -
gegen
a)
den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 24. Februar 2011 - 5
StR 534/10 -,
b)
das Urteil des Landgerichts Neuruppin vom 3. Juli 2010 - 11 Ks 321
Js 2/09 (1/10) -
und Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe
und Beiordnung des Rechtsanwalts M.
hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Richter Landau
und die Richterinnen Kessal-Wulf,
König
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11.
August 1993 (BGBl I S. 1473) am 30. Juni 2014 einstimmig beschlossen:
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung des Rechtsanwalts M. wird
abgelehnt.
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe:
I.
1
Der Beschwerdeführer wendet sich mit der Verfassungsbeschwerde gegen die Verwerfung einer
strafprozessualen Revision durch Beschluss nach § 349 Abs. 2 StPO und rügt, dass die
Entscheidung ohne Durchführung einer Revisionshauptverhandlung ergangen sei und keine
Begründung aufweise. Hierdurch sieht er sein Recht auf öffentliche Verhandlung, sein Recht,
sich selbst zu verteidigen, seinen Anspruch auf rechtliches Gehör, seinen Anspruch auf
prozessuale Waffengleichheit und die Pflicht zur Begründung gerichtlicher Entscheidungen
verletzt (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art. 104 Abs. 1 GG, Art. 20 Abs. 3 und Art. 103 Abs. 1 GG). Als
Maßstab für die Auslegung und Anwendung des Grundgesetzes sei insoweit Artikel 6 der
Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) mit der hierzu
ergangenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
heranzuziehen.
2
Eine öffentliche Verhandlung sei nach Art. 6 EMRK nur dann entbehrlich, wenn sich eine Instanz
allein mit hochtechnischen oder rein rechtlichen Fragen beschäftige oder wenn eine Möglichkeit
bestehe, durch einen Antrag die Durchführung einer öffentlichen Verhandlung zu erreichen.
Dabei seien Fragen der Subsumtion nicht als Rechtsfragen in diesem Sinne, sondern als
Sachverhaltsfragen anzusehen.
3
Das Recht, sich selbst zu verteidigen, sei dadurch verletzt, dass ein Angeklagter nur indirekt,
nämlich über seinen Verteidiger, in der Revisionsbegründung vortragen könne. Nach Art. 6
EMRK habe aber auch ein Gericht zweiter Instanz bei der Beurteilung der Schuldfrage den
Angeklagten persönlich zu befragen, wenn dieser sich bestreitend verteidige. Der
Beschwerdeführer hätte daher als Ausgleich für seine strukturelle Unterlegenheit gegenüber der
Staatsanwaltschaft und zur Wahrung seines Rechts, sich selbst zu verteidigen, in einer
Revisionshauptverhandlung angehört werden müssen.
4
Das Gebot der prozessualen Waffengleichheit sei als Chancengleichheit zu verstehen.
Hiergegen werde verstoßen, da praktisch jede Revision der Staatsanwaltschaft zu einer
Hauptverhandlung in der Revisionsinstanz führe, dies bei Revisionen des Angeklagten dagegen
einen Ausnahmefall darstelle.
5
Nur in Kenntnis der Gründe, die das Revisionsgericht zur Verwerfung der Revision bewogen
haben, könne der Angeklagte eine sinnvolle Entscheidung darüber treffen, ob er eine
Anhörungsrüge oder eine Verfassungsbeschwerde erheben oder aber die Verwerfung seiner
Revision hinnehmen solle. Dies zeige, dass die Begründungspflicht in einem
Sachzusammenhang mit der Gewährung rechtlichen Gehörs stehe. Ferner sei eine
Begründungspflicht - auch in sämtlichen Revisionsverfahren - erforderlich zur Eigen- und
Fremdkontrolle und setze das erkennende Gericht unter einen Plausibilitätsdruck.
II.
6
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Ein Annahmegrund
nach § 93a Abs. 2 BVerfGG liegt nicht vor. Die Verfassungsbeschwerde hat keine Aussicht auf
Erfolg, da sie zum Teil mangels substantiierter Darlegung einer Grundrechtsverletzung
unzulässig und im Übrigen unbegründet ist. Weder die Entscheidung im Beschlusswege ohne
Revisionshauptverhandlung (1.) noch das Fehlen einer Begründung der Entscheidung (2.) ist
aus verfassungsrechtlicher Sicht zu beanstanden. Hieran ändert auch der Vortrag des
Beschwerdeführers zur konventionsrechtlichen Beurteilung nichts (3.).
7
1. Es begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, dass der Bundesgerichtshof über die
Revision des Beschwerdeführers nach § 349 Abs. 2 StPO ohne mündliche Verhandlung durch
Beschluss entschieden hat.
8
a) Art. 103 Abs. 1 GG begründet keinen Anspruch auf eine mündliche Verhandlung; es ist
vielmehr Sache des Gesetzgebers zu entscheiden, in welcher Weise das rechtliche Gehör
gewährt werden soll (vgl. BVerfGE 36, 85 <87>; 60, 175 <210 f.>; 89, 381 <391>; stRspr). Der
Beschwerdeführer hatte in seiner Revisionsbegründung (§ 344 StPO) und in der
Gegenerklärung zum Antrag des Generalbundesanwalts (§ 349 Abs. 3 Satz 2 StPO)
Gelegenheit, sich umfassend zu äußern. Er trägt nicht substantiiert vor, dass er sein
Revisionsvorbringen in schriftlicher Form nicht ausreichend habe deutlich machen können (vgl.
BVerfGE 112, 185 <206>).
9
b) Es genügt den Anforderungen an ein faires Strafverfahren, dass im Revisionsverfahren der
Verteidiger oder ein Rechtsanwalt für den Angeklagten Stellung nimmt. Eine mündliche
Verhandlung muss nicht zu dem Zweck durchgeführt werden, damit sich ein Angeklagter
unabhängig von seinem Verteidiger äußern kann (vgl. BVerfGE 54, 100 <116 f.>; 64, 135
<151 ff.>). Im Übrigen hat der Angeklagte nach § 345 Abs. 2 StPO die Möglichkeit, die Revision
zu Protokoll der Geschäftsstelle zu begründen, auch zur Ergänzung der von seinem Verteidiger
oder einem Rechtsanwalt abgegebenen Revisionsbegründung (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt,
StPO, 57. Aufl. 2014, § 345 Rn. 9).
10
c) Die Durchführung einer Revisionshauptverhandlung ist auch nicht zur Herstellung
prozessualer „Waffengleichheit“ erforderlich.
11
aa) Das Recht auf ein faires Verfahren gewährleistet dem Beschuldigten einen Mindestbestand
an aktiven verfahrensrechtlichen Befugnissen. Ihm muss die Möglichkeit eingeräumt sein, zur
Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen
(vgl. BVerfGE 64, 135 <145>; 65, 171 <174 f.>; 66, 313 <318>). Dies verlangt eine gewisse
verfahrensrechtliche „Waffengleichheit“ von Staatsanwaltschaft und Beschuldigtem im
Strafprozess (vgl. BVerfGE 63, 45 <61>). Allerdings müssen verfahrensspezifische Unterschiede
in der Rollenverteilung von Staatsanwaltschaft und Beschuldigtem nicht in jeder Beziehung
ausgeglichen werden (vgl. BVerfGE 63, 45 <67>; 122, 248 <272>; BVerfG, Urteil des Zweiten
Senats vom 19. März 2013 - 2 BvR 2628/10 u.a. -, NJW 2013, S: 1058 <1060>).
12
bb) Das Beschwerdevorbringen lässt nicht erkennen, dass die gesetzliche Regelung oder deren
Anwendung durch die Revisionsgerichte vor diesem Hintergrund gegen das Recht auf ein faires
Verfahren verstößt. Es trifft zwar zu, dass Revisionen der Staatsanwaltschaft im Gegensatz zu
solchen des Angeklagten im Allgemeinen nicht durch Beschluss nach § 349 Abs. 2 StPO
verworfen werden (vgl. Gericke, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 7. Aufl. 2013, § 349 Rn. 30).
Der Beschwerdeführer zeigt jedoch nicht auf, inwieweit ihm die Entscheidung im
Beschlusswege einen geringeren Grundrechtsschutz gewährt haben könnte als eine
Entscheidung durch Urteil nach Durchführung einer Hauptverhandlung. Seinen Darlegungen
kann auch nicht entnommen werden, dass die unterschiedliche Behandlung von Revisionen des
Angeklagten und der Staatsanwaltschaft generell zu einer verminderten Rechtsschutzqualität bei
Revisionen von Angeklagten führt (vgl. BVerfGE 112, 185 <204 f.>).
13
2. Dass der Bundesgerichtshof gemäß § 349 Abs. 2 StPO die Revision des Beschwerdeführers
ohne Begründung verworfen hat, ist verfassungsrechtlich ebenfalls nicht zu beanstanden.
14
a) Von Verfassungs wegen bedarf eine mit ordentlichen Rechtsmitteln nicht mehr angreifbare
letztinstanzliche gerichtliche Entscheidung regelmäßig keiner Begründung (vgl. BVerfGE 50,
287 <289 f.>, 65, 293 <295>; 81, 97 <106>; 86, 133 <146>; 94, 166 <210>; 104, 1 <7 f.>; 118, 212
<238>). Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gilt dies auch für
Beschlüsse nach § 349 Abs. 2 StPO. Der Revisionsführer kennt die Gründe des angegriffenen
Urteils und den ebenfalls zu begründenden Antrag der Staatsanwaltschaft auf Verwerfung der
Revision nach § 349 Abs. 2 StPO. Er hat das Recht, dazu eine schriftliche Gegenerklärung
einzureichen (§ 349 Abs. 3 StPO). Schließlich muss die Entscheidung des Revisionsgerichts
einstimmig ergehen. Durch diese Verfahrensweise wird dem Anspruch des Revisionsführers auf
rechtliches Gehör ausreichend Rechnung getragen (vgl. BVerfG, Beschluss des
Vorprüfungsausschusses des Zweiten Senats vom 22. Januar 1982 - 2 BvR 1506/81 -, NJW
1982, S. 925; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 4. April 1989 - 1 BvR 1415/86 -,
juris, Rn. 12; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 21. Januar 2002 - 2 BvR
1225/01 -, NStZ 2002, S. 487 <488 f.>; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 23.
August 2005 - 2 BvR 1066/05 -, NJW 2006, S. 136; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des
Zweiten Senats vom 20. Juni 2007 - 2 BvR 746/07 -, juris, Rn. 22).
15
b) Eine Begründung des Beschlusses nach § 349 Abs. 2 StPO ist auch nicht deshalb
erforderlich, weil sonst keine sinnvolle Entscheidung darüber getroffen werden könnte, ob eine
Anhörungsrüge nach § 356a StPO oder eine Verfassungsbeschwerde erhoben werden soll.
16
aa) Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Gerichte das von ihnen entgegengenommene
Beteiligtenvorbringen zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben (vgl. BVerfGE
51, 126 <129>; 54, 43 <46>; 86, 133 <146>; 87, 363 <392>; 96, 205 <216>). Ein Verstoß gegen
diese Pflicht kann nur dann festgestellt werden, wenn sich dies aus den besonderen Umständen
des Falles ergibt (vgl. BVerfGE 70, 288 <293>; 79, 51 <61>; 80, 269 <286>; 86, 133 <146>; 96,
205 <217>). Solche besonderen Umstände können auch bei einer nicht näher begründeten
Entscheidung erkennbar sein.
17
bb) Zudem setzt eine Verwerfung der Revision durch Beschluss nach § 349 Abs. 2 StPO einen
zu begründenden Antrag der Staatsanwaltschaft voraus, der dem Revisionsführer mit den
Gründen mitzuteilen ist (§ 349 Abs. 3 StPO). Zwar muss sich das Revisionsgericht, um nach
§ 349 Abs. 2 StPO entscheiden zu können, dem Antrag der Staatsanwaltschaft nur im Ergebnis,
nicht jedoch in allen Teilen der Begründung anschließen. Bei einer Abweichung von der
Begründung der Staatsanwaltschaft ist es aber sinnvoll und entspricht allgemeiner Übung, in
den Beschluss einen Zusatz zur eigenen Rechtsauffassung aufzunehmen (vgl. BVerfG,
Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 10. Oktober 2001 - 2 BvR 1620/01 -, NJW
2002, S. 814 <815>; BGH, Beschluss vom 20. Februar 2004 - 2 StR 116/03 -, NStZ 2004, S.
511). Ohne einen solchen Zusatz kann davon ausgegangen werden, dass sich das
Revisionsgericht die Rechtsauffassung der Staatsanwaltschaft zu Eigen gemacht hat (vgl.
BVerfGK 5, 269 <285 f.>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Juni
2013 - 2 BvR 85/13 -, juris, Rn. 25).
18
3. Die Verwerfung der Revision des Beschwerdeführers nach § 349 Abs. 2 StPO widerspricht
auch nicht den Gewährleistungen des Art. 6 EMRK. Die Europäische
Menschenrechtskonvention steht zwar innerstaatlich im Rang eines Bundesgesetzes und damit
unter dem Grundgesetz. Sie ist jedoch als Auslegungshilfe bei der Auslegung der Grundrechte
und rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes heranzuziehen. Dies gilt auch für die
Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention durch den Europäischen Gerichtshof
für Menschenrechte (vgl. BVerfGE 128, 326 <366 ff.>).
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a) Die Europäische Kommission für Menschenrechte hat - auch auf ausdrückliche
Beanstandungen hin - Verwerfungen von Revisionen durch einen Beschluss, der keiner
Begründung bedarf (§ 349 Abs. 2 StPO), als nicht konventionswidrig erachtet. Die Kommission
sah es stets als ausreichend an, dass der Revisionsführer schriftlich über seinen Verteidiger
vortragen und zum Revisionsverwerfungsantrag der Staatsanwaltschaft Stellung nehmen kann
(vgl. EKMR, X. v. Germany, Entscheidung vom 14. Dezember 1961, Nr. 599/59, EKMR-E 8, 12
<19>; X. v. Germany, Entscheidung vom 17. Januar 1963, Nr. 1035/61, EKMR-E 10, 12 <17 f.>;
X. v. Germany, Entscheidung vom 18. April 1964, Nr. 2136/64, EKMR-E 13, 116 <122>; X. v.
Germany, Entscheidung vom 6. Februar 1968, Nr. 3139/67, EKMR-E 26, 77 <78 f.>). Ferner hielt
es die Kommission für mit Art. 6 EMRK vereinbar, wenn das Revisionsgericht seine
Entscheidung nicht näher begründet, sondern durch den Verweis auf § 349 Abs. 2 StPO
hinreichend zum Ausdruck bringt, dass es die Revision für offensichtlich unbegründet erachtet
und damit den Grund für seine Entscheidung angibt (EKMR, Salameh v. Germany, Entscheidung
vom 15. Mai 1996, Nr. 28631/95).
20
b) Soweit ersichtlich, hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zu § 349 Abs. 2 StPO
und dessen Anwendung durch die Fachgerichte bislang nicht ausdrücklich Stellung bezogen.
Zwar liegen einer Vielzahl von Entscheidungen des Gerichtshofs Ausgangsverfahren zu Grunde,
bei denen die Revision gegen eine strafrechtliche Verurteilung durch nicht begründeten
Beschluss als offensichtlich unbegründet verworfen wurde. Dies allein lässt jedoch nicht ohne
weiteres den Schluss zu, dass diese Rechtspraxis gebilligt wird und mit Art. 6 EMRK vereinbar
ist. Ungeachtet dessen ist ein Konventionsverstoß nicht erkennbar.
21
aa) Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs kann im Rechtsmittelverfahren unter bestimmten
Voraussetzungen von dem sich aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK ergebenden Grundsatz der
öffentlichen mündlichen Verhandlung abgewichen werden. Dabei ist eine Gesamtbetrachtung
der nationalen Verfahrensordnung und der Rolle des Rechtsmittelgerichts darin vorzunehmen
(vgl. EGMR, Kerojärvi v. Finland, Urteil vom 19. Juli 1995, Nr. 17506/90, § 40; Bulut v. Austria,
Urteil vom 22. Februar 1996, Nr. 17358/90, § 40 f.; Hoppe v. Germany, Urteil vom 5. Dezember
2002, Nr. 28422/95, § 62 f.; Rippe v. Germany, Entscheidung vom 2. Februar 2006, Nr. 5398/03,
juris, Rn. 49 f.; Dan v. Moldova, Urteil vom 5. Juli 2011, Nr. 8999/07, § 30).
22
(1) Als ein wesentliches Kriterium für die Entbehrlichkeit einer öffentlichen mündlichen
Verhandlung vor Rechtsmittelgerichten betrachtet der Gerichtshof, ob in vorangegangener
Instanz mündlich und öffentlich verhandelt wurde (vgl. EGMR, Axen v. Germany, Urteil vom 8.
Dezember 1983, Nr. 8273/78, EGMR-E 2, 321 <326 f.>, § 28; Bulut v. Austria, Urteil vom 22.
Februar 1996, Nr. 17358/90, § 41 f.; Hoppe v. Germany, Urteil vom 5. Dezember 2002, Nr.
28422/95, § 63 f.; Miller v. Sweden, Urteil vom 8. Februar 2005, Nr. 55853/00, § 30). Von
gewichtiger Bedeutung ist auch, welche Konsequenzen dem Verfahrensbeteiligten durch die
Entscheidung über sein Rechtsmittel drohen, insbesondere im Vergleich zur vorinstanzlichen
Entscheidung. So wies der Gerichtshof in einem Urteil zur Verwerfung einer Revision ohne
mündliche Verhandlung in Zivilsachen darauf hin, dass die Entscheidung nur dazu führe, dass
das Berufungsurteil rechtskräftig werde, welches seinerseits auf einer mit Art. 6 EMRK
konformen Verhandlung beruhe (vgl. EGMR, Axen v. Germany, Urteil vom 8. Dezember 1983,
Nr. 8273/78, EGMR-E 2, 321 <326 f.>, § 28). Ist eine reformatio in peius nicht zu befürchten, so
spricht dies gegen die Notwendigkeit einer mündlichen Verhandlung (vgl. EGMR, Fejde v.
Sweden, Urteil vom 29. Oktober 1991, Nr. 12631/87, § 33).
23
Weiter berücksichtigt der Gerichtshof, ob ausschließlich Rechtsfragen oder auch
Sachverhaltsfragen Gegenstand der Prüfung durch das Rechtsmittelgericht sind (vgl. EGMR,
Bulut v. Austria, Urteil vom 22. Februar 1996, Nr. 17358/90, § 41; Dan v. Moldova, Urteil vom 5.
Juli 2011, Nr. 8999/07, § 30). Auch bei einer Kompetenz des Rechtsmittelgerichts zur Befassung
mit Sachverhaltsfragen muss nach Auffassung des Gerichtshofs allerdings nicht zwingend eine
öffentliche mündliche Hauptverhandlung durchgeführt werden (vgl. EGMR, Fejde v. Sweden,
Urteil vom 29. Oktober 1991, Nr. 12631/87, § 33; Hoppe v. Germany, Urteil vom 5. Dezember
2002, Nr. 28422/95, § 63; Rippe v. Germany, Entscheidung vom 2. Februar 2006, Nr. 5398/03,
juris, Rn. 49 ff.). Insoweit kommt es maßgeblich darauf an, ob sich die aufgeworfenen Fragen
allein auf der Grundlage der Verfahrensakten angemessen entscheiden lassen (vgl. EGMR,
Hoppe v. Germany, Urteil vom 5. Dezember 2002, Nr. 28422/95, § 64; Rippe v. Germany,
Entscheidung vom 2. Februar 2006, Nr. 5398/03, juris, Rn. 49). Ebenfalls zu berücksichtigen sind
die offensichtliche Aussichtslosigkeit des Rechtsmittels (vgl. EGMR, Bulut v. Austria, Urteil vom
22. Februar 1996, Nr. 17358/90, § 42) sowie die Notwendigkeit, den Geschäftsanfall zu
bewältigen und innerhalb angemessener Zeit zu entscheiden (vgl. EGMR, Hoppe v. Germany,
Urteil vom 5. Dezember 2002, Nr. 28422/95, § 63; Rippe v. Germany, Entscheidung vom
2. Februar 2006, Nr. 5398/03, juris, Rn. 49). Der Gerichtshof respektiert dabei die
unterschiedliche Ausgestaltung der Rechtsmittelzüge in den Vertragsstaaten, die entweder eine
vorgelagerte Annahmeentscheidung voraussetzen, für die der Öffentlichkeitsgrundsatz ohnehin
nicht gilt (vgl. EGMR, Monnell and Morris v. United Kingdom, Urteil vom 2. März 1987, Nr.
9562/81 und 9818/82, § 58), oder eine andere, vergleichbare Möglichkeit zur vereinfachten
Erledigung aussichtsloser Rechtsmittel vorsehen (vgl. EGMR, Bulut v. Austria, Urteil vom 22.
Februar 1996, Nr. 17358/90, § 42; Rippe v. Germany, Entscheidung vom 2. Februar 2006, Nr.
5398/03, juris, Rn. 52).
24
(2) Nach diesen Kriterien ist die den Revisionsgerichten eingeräumte Möglichkeit, im Verfahren
nach § 349 Abs. 2 StPO auf eine mündliche Verhandlung zu verzichten, mit Art. 6 EMRK
vereinbar. Ohne Revisionshauptverhandlung war es dem Bundesgerichtshof in seiner
Entscheidung über die Revision des Beschwerdeführers nur möglich, das erstinstanzliche Urteil,
das auf einer öffentlichen mündlichen Verhandlung beruht, aufzuheben und zugunsten des
Beschwerdeführers zu entscheiden (§ 349 Abs. 4 StPO) oder aber das Urteil rechtskräftig
werden zu lassen (§ 349 Abs. 2 StPO). Eine Verschlechterung der Situation des
Beschwerdeführers gegenüber dem erstinstanzlichen Urteil hätte - ungeachtet des Verbots der
reformatio in peius gemäß § 358 Abs. 2 StPO - zwingend eine Revisionshauptverhandlung
vorausgesetzt. Des Weiteren ist die Revision auf die Prüfung von Rechtsfragen beschränkt, die
sich regelmäßig nach Aktenlage entscheiden lassen. In der Revisionsinstanz ist eine
Beweisaufnahme über Tatfragen nicht statthaft, das Revisionsgericht ist an die Feststellungen
des Tatgerichts gebunden. Überdies dient § 349 Abs. 2 StPO der Schonung der Ressourcen der
Justiz, damit sich diese zügig aussichtsreichen Rechtsmitteln zuwenden kann, und damit der
Verwirklichung des durch Art. 6 Abs. 1 EMRK gewährleisteten Beschleunigungsgrundsatzes.
Ein Beschluss nach § 349 Abs. 2 StPO kann nur bei offensichtlicher Aussichtslosigkeit der
Revision ergehen und setzt Einstimmigkeit voraus. Funktionell bildet der Beschluss damit ein
Äquivalent zur Ablehnung einer (im deutschen Strafprozessrecht nicht vorgesehenen)
Revisionszulassung.
25
bb) Art. 6 EMRK in der Auslegung des Gerichtshofs ist zwar eine grundsätzliche Pflicht zur
angemessenen Begründung gerichtlicher Entscheidungen zu entnehmen. Allerdings hängt die
Begründungspflicht von der Natur der Entscheidung ab und ist im Lichte der Umstände des
Einzelfalls zu bestimmen. Eine ausführliche Stellungnahme zu jedem Vorbringen der Beteiligten
ist nicht notwendig. Ferner darf sich ein Rechtsmittelgericht, wenn es ein Rechtsmittel
zurückweist, grundsätzlich darauf beschränken, sich die Begründung der angefochtenen
Entscheidung zu eigen zu machen (vgl. EGMR (GK), García Ruiz v. Spain, Urteil vom 21. Januar
1999, Nr. 30544/96, NJW 1999, S. 2429 <2429>, § 26; vgl. auch EGMR, Axen v. Germany, Urteil
vom 8. Dezember 1983, Nr. 8273/78, EGMR-E 2, 321 <328>, § 32). Bei nationalen
übergeordneten Gerichten erachtet es der Gerichtshof zudem für mit der Konvention vereinbar,
wenn solche Gerichte bei der Nichtannahme offensichtlich unbegründeter Beschwerden von
einer ausführlichen Begründung der Entscheidung absehen und allein auf die Norm verweisen,
die ein entsprechendes Vorgehen erlaubt (vgl. EGMR, Sawoniuk v. United Kingdom,
Entscheidung vom 29. Mai 2001, Nr. 63716/00; Schumacher v. Germany, Entscheidung vom 26.
Februar 2008, Nr. 14029/05, juris, Rn. 108).
26
Hiernach ist es mit Art. 6 EMRK vereinbar, dass der Bundesgerichtshof seine Entscheidung über
die Revision des Beschwerdeführers nicht mit einer Begründung versehen hat. Bei der
Verwerfung einer Revision nach § 349 Abs. 2 StPO durch einen Beschluss, der keine oder nur
eine knappe Begründung enthält, ist zu berücksichtigen, dass das angefochtene Urteil selbst
ausführlich zu begründen war und dass das Revisionsgericht sich das angefochtene Urteil zwar
nicht zu eigen macht, mit der Verwerfung der Revision aber zum Ausdruck bringt, dass es den
erhobenen Revisionsrügen standhält. Zudem ist die Antragsschrift der Staatsanwaltschaft zu
begründen. Aus dieser ergibt sich regelmäßig, aus welchen Gründen die Revision verworfen
wurde. Stützt das Revisionsgericht die Verwerfung der Revision dagegen auf andere Aspekte
als die in der Antragsschrift der Staatsanwaltschaft genannten, so versieht es seine
Entscheidung insoweit mit einer Begründung.
27
4. Da die Verfassungsbeschwerde aus den genannten Gründen keine Aussicht auf Erfolg hat,
war der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwalt M.
entsprechend § 114 Satz 1 ZPO abzulehnen.
28
Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
29
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Landau
Kessal-Wulf
König